Brief von Wolfgnag Thielke an die Schüler eines Gymnasiums in Szczytno – Ortelsburg
03.11.2011
An die Schüler und Lehrer des Gymnasiums Nr. 1 Henryka Sienkiewicza, Szczytno, ul. Jana Kasprowicza
Seit 1997 existiert ein Artikel der Nasz Mazur über das Geheimnis der Schulaula. Er hängt vor der Aula an der Wand. Leider konnte ich ihn erst gestern, am 11.Juli 2011 an dieser Stelle lesen und auch die Aula besichtigen. Ich bin ein deutscher Journalist und habe hier in Szczytno die Ferien verbracht und währenddessen erfahren, dass es diese schöne Aula gibt.
Der Journalist Zbigniew Janczewski hat den Mythos der Aula lüften wollen. Dabei hat er sehr tief in die Trickkiste der Märchenerzähler gegriffen und Euch gewissermaßen jahrelang an der Nase herumgeführt. Er hat Euch einen ziemlich dicken Bären aufgebunden. Und hat dabei auch leider die Namen von Robert und Vera Macht missbraucht.
Ich möchte Euch heute einige Wahrheiten über die in der Erzählung genannten Personen berichten. Und vorweg soviel: Ich kann Euch leider nicht erklären, welchem Künstler oder welcher Künstlerin ihr die Gemälde der Aulakuppel zu verdanken habt.
Der Autor erzählt von Abraham Macht, dem diese “Tapete aus Seide“ zu verdanken sei. Die Tapete ist aber keine Tapete aus Seide, sondern der Wandschmuck besteht aus bemalten Sperrholzplatten, es ist eine Täfelung. Und diese Sperrholzplatten kommen auch nicht aus China, sondern stammen aus dem Land, zu dem die heutigen Gebiete Warmia, Mazury, Powile vor dem 2. Weltkrieg gehörten, dem Deutschen Reich. Wer sie nach ihrer Montage bemalt hat, ist leider an keiner Stelle der Aula vermerkt. Ich vermute, dass die Arbeit zwischen 1900 und 1925 entstand.
Die Abbildungen zeigen wie ein Kaleidoskop die Vielfalt des Lebens und der Kultur auf unserer Erde. Es gibt auf der rechten Seite die Darstellung einer chinesischen Pagode, daher vermutete der Zeitungsautor möglicherweise, dass die „Tapete“ aus China käme. Aber auf der anderen Seite ist das Brandenburger Tor aus Berlin zu finden. Es gibt eine Lokomotive, Schiffe, Tiere, Pflanzen, Pilze, ein Auto, das wir in ähnlicher Gestalt heute nur noch im Museum bewundern können. Kurz gesagt, ist das Wand- und Deckengemälde so etwas wie ein Bilderlexikon aus dem letzten Jahrhundert und untermalt das damalige Wissensangebot einer naturwissenschaftlich orientierten Schule aus dieser Zeit.
Der erwähnte Abraham Macht, seine Tochter Eva, die Freimaurerloge, die abenteuerliche
Verwandlung in Nichtjuden durch Bestechung der Nazis und die spektakuläre Flucht in die Schweiz über Estland, das alles gehört ins Reich der Fabel. Der vermeintliche Informant Reinhard aus Deutschland lügt sozusagen das Blaue vom Himmel (haben er und Wanda nur einen Vornamen?). Auch der Lehrerin Wanda, die als Person tatsächlich in Szczytno lebte, werden Aussagen unterstellt, die nicht der Wahrheit entsprechen. Wahr ist, dass Vera Macht auch ein Bild von der Schwarzen Madonna gemalt hat und die Kopie eines Dokuments über den Schutz der Madonna im II. Weltkrieg der Kirche in Tschenstochau übergeben hat. Der Schreiber hatte möglicherweise einige Informationen, aber wohl nicht genug und er hat die Lücken einfach mit seiner blühenden Phantasie gefüllt.
Robert Macht war ein Masure. Er wurde 1881 in Rostken, heute Rostki geboren und arbeitete als Ingenieur und Bauunternehmer in Ortelsburg, dem heutigen Szczytno und Allenstein, was heute Olsztyn heißt. Beispielsweise hat er die Brücke über den Sawica-Fluss und zwischen Szczytno und Jedwabno gebaut. Bis 1928 war er Leiter der Masurischen Bauernbank in Szczytno. Er gehörte weder zu den Logenbrüdern der Freimaurer noch waren er und seine Tochter Juden. Aber: Robert Macht war ein entschiedener Gegner der Nazionalsozialisten. Er verließ Ortelsburg zu Ende Dezember 1944, kurz bevor die Rote Armee Ortelsburg zerstörte. Er floh keineswegs in die Schweiz, sondern nach Deutschland, genaugenommen nach Kelkheim bei Frankfurt am Main. Seine Tochter Vera Macht, ging bis 1939 in Ortelsburg zur Schule (Janczewski schreibt bis 1938), zuletzt besuchte sie das Gymnasium, das sich in der heutigen Szkola Podstawowa Nr. 3 in der ul. Marii Curie-Sklodowskiej befand. Sie studierte danach in Perugia/Italien und in Rom. Dort heiratete sie auch. 1942, als in Rom gekämpft wurde, kam sie mit ihrem Mann nach Ortelsburg zurück. Am 12. Dezember1944 flohen sie gemeinsam mit ihrem in Ortelsburg geborenen kleinen Sohn Giovanni vor der anrückenden Roten Armee. In Mailand wurde der Zug von Partisanen beschossen, die Familie rettete sich durch Flucht in einen eiskalten Wassergraben. Vera Macht und ihr Mann überlebten, aber das Kind, der kleine Giovanni Minardo starb. Vera Macht lebt seitdem in Rom und ist eine bekannte Malerin. Ihre Liebe zu Ortelsburg hat sie nie verloren. Sie lernte polnisch und besuchte die Stadt seit 1980 immer wieder, obwohl das damals aus politischen Gründen sehr schwierig war. Sie spendete dem Gymnasium, also eurer Schule und den Schulen Nr. 2 und Nr. 3 Musikinstrumente und half armen Menschen in Szczytno mit Sach- und Geldgeschenken. Noch heute zeigt sie stolz die Dankesbriefe der Schüler. Für ihr Engagement wurde sie sogar von Papst Johannes Paul II. geehrt. 2002 schenkte sie 24 Bilder ihres Zyklusses „Ostpreußen“ der Stadt Szczytno, die ein paar Jahre lang im Museum im Rathaus zu sehen waren.
Wer mehr über Vera Macht und ihre Familie erfahren möchte, kann die Odyssee meines Vaters lesen, einen Aufsatz in drei Teilen, der 2004, 2006 und 2007 im „Ortelsburger Heimatboten“ erschienen ist. Eine Übersetzung des gesamten Textes in polnischer Sprache habe ich eurem Schuldirektor überlassen.
Vera Macht ist Mutter von vier Töchtern, die allesamt berühmte Künstlerinnen sind: Anna Minardo ist Mosaikkünstlerin und Malerin in Melbourne (Australien), Kathy Minardo ist Bildhauerin in Pietrasanta (Italien) und Montreal (Kanada), Stefania Minardo war 1. Tänzerin an der Oper von Rom (Italien) und leitet heute eine Ballettschule, Olga Minardo ist Malerin in Rom und Ragusa (Italien). Vera Macht selbst ist eine sehr bekannte Portraitmalerin. Sie ist Schöpferin der sogenannten Bernsteinserie, die Portraits wichtiger Personen aus Ostpreußen enthält, wie Immanuel Kant und Nikolaus Kopernikus oder Käthe Kollwitz sowie der Bilderreihe „What is right“ in dem sie ihre Haltung gegen den Krieg, den Terror und die Folter offenbart. Vera Macht möchte mit ihrem Engagement und ihrer Malerei Brücken der Verständigung zwischen den Völkern bauen. Vera Macht spricht übrigens sieben Sprachen: Italienisch, Deutsch, Französisch, Englisch, Russisch, Japanisch und Polnisch.
Vera Macht hat in Ortelsburg eine glückliche Jugendzeit verlebt. Sie war eine ausgezeichnete Schülerin und konnte sich deshalb standhaft weigern, dem BdM beizutreten. Der BdM war die Jugendorganisation der Nazis für Mädchen, wer ihr nicht angehörte, hatte mit großen Nachteilen zu rechnen. Vera Macht wurde als beste Turnerin in Danzig (Gdansk) ausgezeichnet und war eine brillante Schwimmerin, die auf Wettbewerben immer die ersten Plätze belegte.
Über den Artikel „Das Geheimnis der Schulaula“ ist Vera Macht sehr enttäuscht. Der Journalist hat in unzulässiger Weise Unwahrheiten verbreitet und sie dadurch sehr verletzt. Er hat ihre persönlichen Rechte und die ihrer Familie nicht respektiert. Ihr solltet diesem Mann erzählen, was ihr über Vera Macht von mir erfahren habt. Schaut doch auch einmal ins Internet bei www.ostpreußen.de und recherchiert unter Google oder über Facebook. Vera Macht wird am 23. September 91 Jahre alt. Sie wird sich darüber freuen, wenn ihr gratuliert.
Es gibt noch andere Personen mit dem Namen Vera Macht, Ihr werdet aber schnell herausfinden, wer die einzigartige Vera Macht aus Ortelsburg ist.
Wolfgang Thielke, Szczytno 14. Juli 2011, Email: wolfgang.thielke@gmail.com