Das alte Königsberg rückt dem Westen ein Stück näher
26.01.2012
Das neue Jahr hält noch Winterschlaf im Niemandsland von Russland und Europa. Nur alle Viertelstunde rollt an diesem nasskalten Januartag ein Auto an den Kontrollpunkt Mamonowo-2. Lange warten muss niemand, alle Ampeln stehen auf grün. Die Passkontrolle ist schnell erledigt, der russische Zöllner blickt streng, doch nur flüchtig in die Kofferräume.
Der Kontrollpunkt Grzechotki/Mamonowo-2 könnte ganz andere Verkehrsströme bewältigen. Es ist der größte und modernste Grenzübergang des Gebietes Kaliningrad, der russischen Exklave um das frühere Königsberg. Erst vor einem Jahr wurde das 20-Millionen-Euro-Terminal eröffnet – eine Hightech-Torburg unter Flutlicht, groß wie das Rollfeld eines Flughafens, je ein Dutzend Ein- und Ausreisespuren und Spezialterminals zum Scannen von Lkw-Fracht.
Autobahnbreite Schnellstraßen führen in Richtung Kaliningrad und Danzig, «Berlinka» nennen die Russen die Trasse. Sie soll Moskaus westlichen Vorposten an die Transitstraßen der EU anbinden, doch bislang wirkt das alles eher wie ein Fremdkörper in der entvölkerten Grenzwildnis von Schengen-Europa. Bis zu 4000 Fahrzeuge könnten hier pro Tag abgefertigt werden. Es kommen bestenfalls dreihundert. Das dürfte sich bald ändern.
Russland und Polen wollen in diesem Jahr erstmals den freien Grenzverkehr testen – im Kleinen. Die Verträge sind unterzeichnet, künftig brauchen die Bewohner des Kaliningrader Gebietes und der angrenzenden polnischen Bezirke Elblag (Elbing) und Olsztyn (Allenstein) kein Visum mehr, um die Grenze zu überqueren. Es genügt ein Dokument, das ihnen bescheinigt, seit mindestens drei Jahren in der Region zu leben. Die Zettel stellen die jeweiligen Konsulate aus, reine Formsache. Im Juni soll es losgehen.
Zum ersten Mal schneidet die EU den Russen ein Loch in den eisernen Vorhang der Schengen-Union. Der Kreml sieht darin einen großen Schritt hin zum kompletten Wegfall der Visapflicht, für Moskau eines der wichtigsten Themen im Dialog mit dem Westen.
Nun wird die Ostseeprovinz Kaliningrad zur Nagelprobe russisch-europäischer Reisefreiheit. In dem Gebiet, halb so groß wie Schleswig-Holstein, lebt knapp eine Million Menschen. Kaliningrad war in der Vergangenheit meit als kriminelle Krisenregion verschrien.
Die Mobilität ist eigentlich längst Normalität im alten Königsberg. Keine 600 Kilometer sind es von hier bis Berlin. Moskau liegt mehr als doppelt so weit weg. Täglich pendeln Linienbusse zwischen Kaliningrad und Städten in Deutschland, Polen und dem Baltikum. Viele Kaliningrader fahren mit dem Bus nach Danzig zum Einkaufen, und wer es sich leisten kann, verbringt ein Wochenende in Masuren oder an der polnischen Küste.
Von Russlands Westrand aus liegen diese Urlaubsparadiese nahe. Und fern zugleich. Denn jeder dieser Ausflüge erfordert ein Schengen-Visum. «Kaliningrad leidet unter dieser Visumspflicht», sagt Ljubow Kotschetkowa, Chefin der Touristikfirma Universal-Tour. Sie veranstaltet Busreisen quer durch Europa. Bestseller sind Krakau, Prag, Paris, Städte-Sightseeing in Deutschland. «Für uns liegt Europa vor der Haustür. Trotzdem leben wir hier wie ausgesperrt. Man hat das Gefühl, der Westen will uns nicht. Aber wo ist Russland noch europäischer als hier?»
Auch umgekehrt würde die freie Einreise mehr Gäste aus dem Westen in die Exklave locken, davon ist die Touristik-Unternehmerin überzeugt. «Wir haben doch auch etwas zu bieten, die Königsberger Geschichte, Bernstein, die Kurische Nehrung. Der Visumszwang ist in beide Richtungen ein großes Hindernis.»
Wie Ljubow Kotschetkowa denkt in Russlands westlichster Großstadt vor allem die aufstrebende jüngere Generation. Private und Geschäftsbeziehungen ins EU-Ausland sind ihr längst selbstverständlich. «Ohne durchlässige Grenzen und freiere Regionalbeziehungen wird Kaliningrad sein Potenzial als Sonderwirtschaftszone nicht entfalten können», sagt Alexandra Smirnowa, frühere Wirtschaftsministerin der Gebietsregierung und jetzt Managerin des Autokonzerns Awtotor. Das Unternehmen montiert BMW-Limousinen für den russischen Markt.
Das Geflecht der Westkontakte ist in der Ostsee-Exklave so dicht wie in keiner anderen Region Russlands. Kaliningrad unterhält Partnerschaften mit elf EU-Städten – in Schweden, Deutschland, Holland, Italien, Polen. Die Technische Universität bietet den einzigen deutschsprachigen Studiengang Russlands an, postgradual können junge Absolventen hier ihren Master im Fach Europawissenschaften belegen.
Viele dieser Kontakte stoßen im Alltag buchstäblich an Grenzen. Die Konsulate der EU-Länder kommen in Kaliningrad mit dem Ausstellen von Schengen-Visa kaum nach. Polens Vertretung und kurz darauf auch das deutsche Generalkonsulat nahmen ab Mitte Dezember keine Anträge mehr an: Mit je 100 000 ausgereichten Einreisegenehmigungen war die Kapazität für das Jahr restlos ausgeschöpft.
Nun lockt bald ein 50-Kilometer-Streifen Europa mit freiem Eintritt, und die Wirtschaft im gebeutelten Grenzland will davon profitieren. In Kaliningrader Zeitungen werben Masuren-Hotels schon mit Urlaubssonderangeboten für den Sommer. Die polnische Handelskette Tesco lässt in der Grenzstadt Braniewo eilig ein neues Einkaufszentrum bauen. Auf der russischen Seite der Grenzübergänge rüsten sich Tankstellen für den Ansturm der Kundschaft aus Polen. Der Benzintourismus blüht längst, trotz Visumszwang. Wenn der letzte Schlagbaum von Mamonowo-2 sich hebt, sind es noch 48 Kilometer bis Kaliningrad.
Doch von den Polen, die hier einreisen, fährt kaum jemand weiter. Fast alle Autos biegen an der kleinen Tankstelle der Surgutneft-Kette ab, deren Preisanzeige gleich hinter der Grenze aus dem Birkenwald ragt. 26,90 Rubel kostet der Liter Superbenzin hier, umgerechnet rund 70 Cent.
«Bei uns ist der Sprit doppelt so teurer, das lohnt sich», sagt der Fahrer eines alten VW Passat, Kennzeichen EL für Elblag. Der Mann hat sein Auto zum Tanken mit dem linken Hinterrad rückwärts auf einen hohen Holzkeil bugsiert. Das machen hier fast alle so, vor jeder Zapfsäule liegt so ein Klotz. Gut fünf Liter mehr kriegt man auf diese Weise in den Tank, erklärt der Pole den angekippten Wagen.
Viel ist nicht los an der Grenztankstelle. «Das liegt auch an der Jahreszeit. Es werden bald mehr», meint der Tankwart. «Und wenn erst die Visa wegfallen, können wir anbauen.» Er kennt seine Kundschaft. Zu 90 Prozent kämen Polen. «Bei den Preisen drüben kein Wunder. Sprit und Zigaretten, um was anderes geht es bei den meisten hier doch nicht.»
Russische Billig-Rauchware gibt‘s im Niemandsland gleich stangenweise. Auch «Jin Ling» liegt im Duty-Free Shop offen aus: Europas erfolgreichste Schmugglermarke wird in Kaliningrad ganz legal hergestellt. Im Westen bekommt man sie nur im Schwarzhandel, allein für Berlin schätzt der deutsche Zoll den Jahresumschlag auf 350 Millionen Stück.
Kritiker fürchten, die gelockerten Visaregelungen werden vor allem den Schmuggel und illegalen Grenzhandel aufleben lassen und wieder zu kilometerlangen Schlangen vor den Schlagbäumen führen. Schmuggler prägten lange das Bild an Kaliningrads Grenzen.
In den 1990er Jahren lebten in der bettelarmen Region beiderseits des Zauns Tausende davon, Benzin, Wodka und billige Zigaretten westwärts über die Grenze zu schaffen, «Tschelnoki» nannten die Russen sie, Webschiffchen, die immer hin- und herfahren. Grenzschutz und Zoll schauten weg und ließen sich das gut bezahlen.
Erst nach dem Beitritt Polens zur EU und Schengen-Zone begann der Schmugglersumpf auszutrocknen, der Zoll führte ein strenges Kontrollregime ein, die Einfuhr- und Visaregelungen wurden verschärft.
Der deutsche Generalkonsul in Kaliningrad, Aristide Fenster, bezweifelt, ob die kleine Reisefreiheit außer den Grenzhändlern jemandem viel nützen wird. Es sei ein Schritt in die richtige Richtung, helfe der Exklave aber kaum aus ihrer isolierten Lage, meint Berlins Chefdiplomat am Pregel. «Für Kaliningrad ist das doch eher ein Placebo. Für eine wirkliche Tourismusförderung und einen Ausbau von Wirtschaftsbeziehungen ist das ohne Visum erreichbare polnische Gebiet zu klein.»
Genau das monierte auch Kaliningrads Gouverneur Nikolai Zukanow. Er hatte auf eine wesentlich größere Freireisezone jenseits der Grenze gehofft, etwa der Größe des russischen Gebiets entsprechend. Zukanow sieht das dennoch positiv. «Es ist ein Anfang, und er bringt uns voran.» Schmuggel und Grenzkriminalität sieht er nicht mehr als Problem: «Das Thema ist Vergangenheit. In der regionalen russisch-polnischen Zusammenarbeit überwiegen längst die seriösen wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen.»
Der Gouverneur hofft, dass die für 2012 geplanten Gespräche mit der litauischen Regierung über eine ähnliche Grenzregelung schnell zum Erfolg führen. «Das wäre ein großer Fortschritt hin zur Visafreiheit zwischen Europa und Russland. Und die bleibt unser Ziel.»
(europe online magazine, 26. 1. 2012 – Pressemitteilung)