Gedanken eines Ostpreußen zum Volkstrauertag
09.11.2013
Ich denke, vielen aus der Kriegs-und Erlebnisgeneration geht es ebenso wie mir: der Verlust unserer Heimat, zerstreut in alle Welt, die Brüche in den Lebensläufen, und vor allem die verlorene Kultur dort, für die sich unsere Vorfahren den Buckel krummgemacht haben – all das lässt uns einfach nicht los, auch nach so vielen Jahren nicht.
Ich weiß, wovon ich rede: den Tag der Befreiung 1945 hat meine damals neunjährige Schwester Margarete nur um drei Wochen überlebt, ich selbst bin mit fünf Jahren Klinikaufenthalt „davongekommen“. Das Leid der 14 Millionen Flüchtlinge sollte eigentlich bekannt sein, auch unseren neunmalklugen Gutmenschen in ihrem ständigen Erklärungswahn.
Und trotzdem möchte ich hier und jetzt einmal dem deutsch-russischen Verhältnis ein gutes Wort gönnen, alles auch vor dem Hintergrund dessen, was Hildegard Rauschenbach – geboren 1926 im ostpreußischen Grenzkreis Pillkallen, gestorben in Berlin 2010 – in dieser Hinsicht uns immer wieder vorgelebt hat (Stichworte: Vergewaltigung, Verschleppung, Ehrungen von der Stadt Schadrinsk in Westsibirien, Bundesverdienstkreuz, Rede zum Volkstrauertag in Berlin im Deutschen Bundestag). Mehr dazu kann man im Internet finden, z. B. unter http://www.tagesspiegel.de/berlin/nachrufe/hildegard-rauschenbach-geb-1926/1842608.html
Angeregt zu diesem Beitrag hier hat mich Julia Larina, die als Journalistin in Moskau bei einer bekannten Zeitschrift tätig ist und nun auch an einem Buchprojekt zu Schirwindt im Kreis Pillkallen (ab 1938 Schloßberg) arbeitet und mit der wir seit längerem Kontakt haben, einen sehr guten sogar. Aber alles der Reihe nach.
Frage: was haben die Stadt Schirwindt im Kreis Schloßberg und Wladiwostock gemeinsam? Antwort: Schirwindt war die östlichste Stadt im Deutschen Reich, lag am Ufer der Scheschuppe; Wladiwostok ist die östlichste Metropole im großen Russischen Reich und liegt am Pazifik. Soweit, so gut.
Aber es gibt noch mehr Gemeinsamkeiten: früher gab es hier in Ostpreußen wie dort im Fernen Osten den Familiennamen Kunst. Das hört sich merkwürdig an und es hat mich deshalb als Träger des gleichen Namens schon seit Jahren fasziniert. Dazu später mehr.
Die Geschichte Schirwindts ist uns Schloßbergern bekannt: 1944 und in der Folgezeit wurde die Stadt dem Erdboden gleichgemacht, im wahrsten Sinne des Wortes. Es ist die einzige deutsche Stadt, die restlos vernichtet worden ist, heute einfach nicht mehr existiert. Dort wohnt niemand mehr, abgesehen von ein paar einsamen Grenzern in kümmerlichen Baracken. Mehr zu Schirwindt im Internet, z. B. unter http://www.youtube.com/watch?v=d-jrDySTdTY oder auch auf unserem Genwiki-Pillkallenportal unter http://wiki-de.genealogy.net/Schirwindt
In der Kirche zu Schirwindt sind meine Vorfahren väterlicherseits getauft und konfirmiert worden, das weiß ich aber nur vom Hörensagen. Bis vor einhundert Jahren war der Nachweis darüber noch gut möglich, aber im ersten Weltkrieg waren dort in der Kirche russische Soldaten einquartiert, die Kirchenbücher sind vernichtet worden, sind weg für alle Zeiten.
Mein Geburtsort Kermuschienen gehörte seit uralter Zeit zum Kirchspiel Schirwindt. Auf den Reisen nach Ostpreußen komme ich natürlich auch immer wieder in diese Gegend, aber in der letzten Zeit nie näher heran als bis Schloßberg/Dobrowolsk, etwa 22 Kilometer Luftlinie von Schirwindt entfernt. Der Grund hierfür ist einmal der ehemalige riesige Truppenübungsplatz, heute wieder ein ordentliches Sperrgebiet. Aber aktuell wird mitten auf dem Polygon, bei Kusmen/Kreuzhöhe (russisch Kusmino!), abgerüstet, Munition wird einfach durch Sprengung entsorgt. Es ist da schon sehr gefährlich, wie man sich denken kann, die Straße nach Schirwindt ist derzeit nur für das Militär frei. Wie ich hörte, kommt man dort selbst mit russischen Fahrern nicht mehr an die ehemalige deutsch-litauische Grenze heran. Es gibt daher auch keine Genehmigungen mehr, wie noch vor wenigen Jahren.
Uns Schloßbergern bleibt heute nur noch der Blick nach Schirwindt von der anderen – von der litauischen Seite aus. Und am nächsten kommt man unserem Schirwindt, wenn der Bürgermeister von Kudirkos Naumiestis, dem früheren Neustadt, mit dem Schlüssel kommt, damit man wenigstens bis an das Grenzgitter mitten auf der Brücke gehen kann. Dann steht man an der EU-Außengrenze, manchmal mit Tränen in den Augen – eigentlich ein Irrsinn in unserer Zeit, besonders für uns Schloßberger . . .
Julia Larina sammelt für ihr Schirwindt-Projekt Material. Sie hat sich während ihres Studienaufenthaltes im abgelaufenen Jahr in Deutschland (gesponsert durch verschiedene deutsche Stiftungen, wenn ich das richtig weiß) mit vielen Schirwindtern angefreundet, war beim Schirwindter Treffen in Meiningen und auf meinen Rat hin auch im Bundesarchiv in Bayreuth, um dort das Material über die Vertriebenen, die Erlebnisberichte und mehr zu sichten. Bekanntlich gibt es ein gemeinsames Projekt zwischen dem Bundesarchiv und dem Oblastarchiv in Kaliningrad, um das vorhandene Material in beiden Institutionen als sachthematisches Inventar für eine interessierte Öffentlichkeit zugänglich zu machen.- Julia spricht heute noch in lobenden Worten über die Hilfsbereitschaft dort, danke Frau Dr. Jost!
Auch aus meinem Fundus hier – ich arbeite für die Kreisgemeinschaft Schloßberg – hat sie eine Menge Material mit auf die Reise nach Moskau genommen. Wir halten weiterhin Kontakt und ich spreche mindestens einmal wöchentlich mit Ihr per Skype, wobei natürlich auch über die Politik und das deutsch-russische Verhältnis diskutiert wird. Dazu hilft mir Julia mit Informationen, wie unlängst in der Tempelhütergeschichte zu Trakehnen, oder wie auch in Sachen unseres Sorgenkindes in der Kardiologie in Kaliningrad (zur Erklärung: der kleine Patient hat mit seinen sechs Jahren vor fünf Wochen seine vierte schwere Herzoperation mitmachen müssen, es geht nun endlich ganz langsam aufwärts; meine Irina – Kinderärztin mit russischem Pass – hilft seit August der Mutter dort in der Klinik in ihrer schwierigen Lage, wenn auch nur per Skype und mit guten Worten und Ratschlägen – aber auch das hilft, und das Echo ist gut).
Zurück zu Julia: sie spricht hervorragend Deutsch und kennt sich auch sehr gut in unserer Geschichte aus. Nur von der Firma Kunst & Albers in Wladiwostok hatte sie noch nie etwas gehört. . .
Das hat sich nun dank meiner Links unten geändert, jetzt kennt sie den Firmennamen und auch die überaus interessante Geschichte, die dahinter steckt. Und weil dieser Fall in gewisser Weise Ähnlichkeit mit dem Schicksal vieler Menschen aus unserer Heimat hat, denke ich, dass es nicht schaden kann, wenn mehr Leute sich über die einstmals guten Beziehungen zwischen Deutschen und Russen Gedanken machen, und ich lade deshalb alle ein, zum Mitlesen – Mithören – Mitsehen. Ich denke, es lohnt sich.
Martin Kunst