Auf den Spuren baltischer Gutshauskultur
20.01.2020
Die ländlichen Gebiete Est- und Lettlands sind von zahlreichen Gutshäusern mit angegliederten Wirtschaftsgebäuden und Parkanlagen geprägt. Einige wurden mit privaten und öffentlichen Mitteln renoviert, ein großer Teil verfällt.
Die Fotografin Anja Putensen (*1977) hat sich auf die Spuren dieser Gutshäuser begeben und zeichnet mit “Das Gut” eine sehr persönliche Erinnerungsreise. Ihre Fotografien sind während zahlreicher Sommer- und Winterreisen mit einer analogen Mittelformatkamera auf Rollfilm entstanden.
Gutshäuser haben in Est- und Lettland eine komplexe jahrhundertelange Geschichte. Aus heimischer Perspektive waren sie lange Zeit ein Symbol für Knechtschaft: Esten und Letten mussten vom 13. bis weit ins 19. Jahrhundert für eine eingewanderte deutschsprachige Oberschicht unter harten Bedingungen auf den Anwesen arbeiten, während die Gutsherren ein feudales, kulturell nach Westeuropa orientiertes Leben führten.
Politik, Architektur, Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft waren durch die Einwanderer geprägt. Die Gutsherren konnten ihre Privilegien trotz Einnahme des Gebietes durch unterschiedliche benachbarte Staaten lange Zeit bewahren. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam es zu einer russischen Vorherrschaft. Esten und Letten setzten zunehmend eigene Interessen durch und gründeten nach der Russischen Revolution und dem Ersten Weltkrieg eigene Staaten. Der Besitz der Gutsherren wurde reduziert oder enteignet, ein Großteil der Familien flüchtete.
Im Zweiten Weltkrieg besetzten sowohl Deutschland als auch die Sowjetunion Est- und Lettland. Danach wurden die Staaten zwangsweise in die Sowjetunion eingegliedert: Viele Esten und Letten wurden nach Sibirien deportiert oder flüchteten Richtung Westen. Die neuen Siedler, vornehmlich Russen, nutzten die Gutshäuser als Schulen, Kinderheime, Sanatorien oder Viehställe.
Heute werden die Gutshäuser von Esten und Letten vornehmlich als regionale Sehenswürdigkeiten und touristische Hoffnungsträger betrachtet: Kleine Touristenbüros und liebevoll eingerichtete Museen erwarten internationale und nationale Gäste. Die Gutshäuser stehen dabei auch für eine kulturelle Orientierung nach Westeuropa.
Die Blickrichtung der Publikation “Das Gut” ist ein fiktives Gutshaus zusammengesetzt aus diversen Einzelanwesen. Im Anhang des Buches sind diese Anwesen auf einem kartografischen Index einzeln verortet. Kurze Textbausteine estnischer, lettischer und deutschbaltischer Kindheitserinnerungen, die Putensen frei nach Literaturvorlagen und Erzählungen hat einfließen lassen, dienen der ergänzenden historischen Erschließung des Themas.
Vom 15. bis 23. Februar 2020 sind Anja Putensens Arbeiten im Rahmen der Gruppenausstellung »True Stories« der Ostkreuzschule für Fotografie im Studio des Kunstquartiers Bethanien (Mariannenplatz 2) in Berlin zu sehen. Die Vernissage findet am 14. Februar um 19 Uhr statt