Auf den Spuren Salzburger Einwanderer

Spurensuche im Kaliningrader Ostpreußen
von Birgit Ammann, Sozialwissenschaftlerin in Berlin und Nachfahrin Salzburger Einwanderer in Ostpreußen. Kontaktaufnahme: Birgit.Ammann@t-online.de

Henriette aus Stannen – eine Reise durch das Kaliningrader Ostpreußen
Birgit Ammann

Tagelang streifen wie durch die Landschaft – rumpeln mit dem Auto über Nebensträßchen, die als solche kaum mehr zu bezeichnen sind. Immer in Angst um die Ölwanne. Unzählige Male wuchten wir unsere alten Fahrräder von der Heckklappe und immer wieder sondiert eine von uns zu Fuß das vor Hitze sirrende Gelände.

Wir sind Großcousinen. Wir teilen die Urgroßeltern. Die Urgroßmutter Henriette Johanna, deren Töchter unsere Großmütter waren, ist es allerdings, mit der wir uns besonders verbunden fühlen. Vielleicht weil sie eine Frau war, vielleicht weil sie ihren Mann um so viele Jahre überlebte, Krieg und Flucht noch mitgemacht hat und in einem kleinen hessischen Dorf auf einem verwunschenen Friedhof liegt, wo wir sie besuchen können. In der Familie heißt es, in dem Dorf sei sie nie angekommen, ihre Seele und ihr Verstand seien in Darkehmen an der Angerapp geblieben, wo der salzburgische Urgroßvater unter einem großen Feldstein begraben lag (lesen Sie Manfred Peter Hein).
Beruhigenderweise liegt sie in einem Ehrengrab, ein Umstand, der sicherstellt, dass ihr Grab bleiben wird. 1865 ist sie in Stannen in der Nähe der preußischen Garnisonsstadt Gumbinnen geboren; es heißt, als Kind sei sie so zart gewesen, dass sie als einziges der Geschwister nicht auf dem Feld arbeiten musste. Ihre sieben Onkel besaßen wie ihr Vater alle Bauernhöfe in der näheren Umgebung. Ihr Mann, unser Urgroßvater betrieb das örtliche Fuhrunternehmen und musste von seiner rotblonden Jüngsten wohl öfter mal aus dem Dorfkrug nachhause geholt werden. Mamachen und Papachen, wie sie in der Familie liebevoll genannt wurden, waren mehrfach miteinander verwandt; insbesondere bei ihr geben Polen, Schweizer, Hugenotten, Litauer und Deutsche sich da auf der Ahnentafel die Tür in die Hand. Dem patrilinearen, vielleicht auch dem nazistischen Prinzip folgend, betrachtete man sich jedoch in erster Linie als Salzburger Familie.

Innerhalb von ein paar Monaten zogen im Jahr 1732 in sechsundzwanzig Trecks von jeweils ein paar Hundert protestantische Bergbauern in ihren Trachten auf dem Weg aus den Alpen durch das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, zu dessen Dachverband damals sowohl Salzburg als auch Preußen neben Hunderten anderer eigenständiger Territorien gehörten.
Die Vertriebenen erfuhren ungeheure Aufmerksamkeit; jedes Kind kannte die Geschichte vom bösen Erzbischof Leopold Firmian, der als Landesherr in seinem Hoheitsgebiet irgendwann Ernst machte in Sachen Glaubenszwang. Vordergründige Annahme des Katholizismus genügte ihm nicht, der Geheimprotestantismus musste weg und so wurde ein Exempel statuiert. Ein Fünftel der Gesamtbevölkerung des souveränen Salzburger Fürstbistums wurde gezwungen die Heimat zu verlassen. Rund 16.000 machten sich auf den Weg nach Preußisch-Litauen, wohin König Friedrich Wilhelm I. sie eingeladen hatte.
In so genannten Salzburgerdörfern fanden die als Exulanten Bezeichneten schließlich eine neue Heimat. Vom preußischen König, der sie eingeladen und aufgenommen hatte, wurden sie als „gute Wirte“ aber auch als „unruhige Geister“ bezeichnet.

Immer wieder haben wir in den letzten Jahren liebevoll über unsere Exulanten-Großmütter gewitzelt, Nachkommen der Glaubensflüchtlinge, die untereinander heirateten, allen Ernstes behaupteten, sie seien alle an einem besonders langen Mittelzeh zu erkennen und die als besonders temperamentvolle und lebensfrohe Menschen galten. Von den Großmüttern glauben wir, das manchmal störende Pflichtgefühl, den geradezu altmodischen Fleiß, die Freude am In-der-Erde-wühlen und die Lust am Marmeladekochen mitbekommen zu haben.

Wie es aussieht, verdrängten die Salzburger zu einem Teil die trotz Tatarenüberfällen und Pest noch weitläufig ansässige prussische Urbevölkerung, eine baltischen Ethnie. Leider verfügen die Prussen über kein Zeugnis wie es etwa die Wenden durch Fontane ausgestellt bekamen, auch gibt es keine identifizierbare Nachfahrenschaft.
Das mehr oder weniger ausgestorbene Prussisch ist verwandt mit dem Lettischen und dem Litauischen. Es hat durchaus Spuren hinterlassen, ein paar winzige selbst bei mir noch. Wenige Kinderworte „rumruscheln“ in Muttis Bett, eine Puppe namens Marjellchen (Prussisch mergo für Jungfrau), ein Hund namens Lorbas. „Zieh deine Wuschen an, sonst kriegst du kalte Füße“. Die richtige Aussprache lässt sich im Deutschen nicht darstellen, da es den baltisch-prussischen ž-Laut im Deutschen eben nicht gibt. Gesprochen wird er wie in Gelee oder eben wie in Wuschen.

Halb ironisch, halb ernst haben wir uns vorgenommen, auf dieser Reise den Weiler zu finden, in dem die Urgroßmutter 1865 geboren wurde. Die Aufzeichnungen, die wir dazu mit uns führen, sind beeindruckend detailliert, forschungstauglich. Getränkt von Wehmut. Die Verfasserin hat das Gorbatschowsche Zeitalter und damit die Öffnung des Kaliningrader Gebietes im Jahr 1992 nicht mehr erlebt. Kopien der zweiseitigen, maschinegeschriebenen „Kurzchronik der Familie Padefke in Stannen“ stehen für die allgegenwärtigen Darstellungen Ostpreußens, die uns beide von Kind an begleitet und beeindruckt haben: Wasser, die Ostsee, dicht bewaldete Steilküsten für die eine, bäuerliches Land, Pferde und Gutshöfe für die andere – beides unter einem sehr weiten Himmel. Natürlich bringen wir unterschiedliche Lebensumstände und Lebenserfahrungen mit, auch die Überlieferungen in der jeweiligen Familie unterscheiden sich in manchmal durchaus amüsanter Weise.
Nichts sei mehr aufzufinden gewesen in Stannen, hatte die Verwandtschaft vor ein paar Jahren berichtet, obwohl der Hof fünfundvierzig noch gestanden habe. Tragisch die Fluchtgeschichte der letzten Erben.

Die alten Ortsnamen üben einen regelrechten Zauber auf uns aus: Kermuschienen (lesen Sie Klaus-Jürgen Liedtke), Skaisgirren, Abschermingken, Stallupönen, Uschballen und so weiter.
Jeder Ort im Kaliningrader Ostpreußen hat mindestens drei Namen: die alten litauisch-prussisch-deutschen, die nazideutschen und die russischen. Wir nutzen Karten aus drei Epochen, um im Fall der sehr kleinen Orte die in unseren Familien überlieferten Namensversionen mit der Gegenwart abzustimmen: Kraupischkehmen wurde Erdmannsruh, Wischtecken Ulrichsdorf. Makonen wurde Mühlenkreuz, um dann zu verschwinden, etliche Orte wurden eingemeindet, Stannen taucht erst gar nicht irgendwo auf.
Weit über 1500 Orte haben die Nazis in ihrem deutschen Wahn umbenannt; angesichts der multiethnischen Vorgeschichte der Region eine Maßnahme, die an Lächerlichkeit kaum zu überbieten ist. Allenfalls vergleichbar mit der abertausendfachen Umbenennung kurdischer Ortsnamen in der Türkei, die etwa zur selben Zeit einsetzte und nun rückgängig gemacht wird

Den ideologisierten sowjetrussischen Namen Sowjetsk, Polessk, Ozersk, Gusev, Gwardejsk, Tschernjachowsk können wir – mit Verlaub und fern jeden revanchistischen Gedankenguts – allerdings noch weniger abgewinnen als den langweiligen Hitlerschen Kreationen. Nesterov, Tschernjachowski und Gusev waren ebenso wie Kalinin auf die ein oder andere Weise prominente Miltärs. Politische Korrektheit müssen wir untereinander jedenfalls nicht durch das Benutzen der russischen Ortsnamen zum Ausdruck bringen und so einigen wir uns jeweils auf höchstens eine oder zwei Varianten statt auf drei.

Das alte Trakehnen ist unser Stützpunkt. Dort nächtigen wir, werden unsere Fragen los, lernen baptistisches Gemeindeleben kennen und helfen ab und zu ein bisschen im Garten. Wir hören vom zeitweiligen Unwesen deutscher Neonazis, von braunen Aufmärschen in den Neunzigern und eingeschüchterten Mitgliedern der Nachbargemeinde, die immer noch um ihre durch deutsche Spenden finanzierten Häuser bangen weil die inzwischen ausgegrenzte braune Szene „ihr“ Geld zurück will.
Mithilfe der neuesten Karte (Lupe für die letzte Generation von Ostpreußen gleich mitgeliefert) versuchen wir die Stannener Ländereien einzukreisen: als Einstieg fahren wir nach Judtschen, wo Henriette getauft wurde. Ab 1714 hatte es hier eine reformierte Kirche für die französischsprachigen Schweizer Zuwanderer gegeben und lange Zeit wurde im Wechsel in beiden Sprachen gepredigt. Ein großes Backsteinhaus fällt uns auf; nur ein paar Kohlköpfe deuten auf menschliche Existenz hin. Selbst zum Häuschen scheint der Weg zu weit und so dient die unbewohnte Haushälfte offenbar seit Jahren nicht nur als Holzlager. Aus dem völlig heruntergekommenen Gebäude tritt uns eine unwirklich verwahrloste Gestalt samt kläffendem Köter und Bierflasche entgegen. Wir suchen das Weite. Erst hinterher stellen wir fest, dass es sich um das ehemalige Pfarrhaus handelt, in dem der Philosoph Immanuel Kant in jungen Jahren als Hauslehrer diente. Uns wird klar, warum Judtschen zu Kanthausen eingedeutscht wurde. Armer Kant! Hinter Judtschen geht’s nirgendwohin.

So richtig nur-deutsch ist meine Familie zuhause in Deutschland nun gerade auch nicht, aber die vielen Glaubensflüchtlinge unterschiedlichster Herkunft, die uns in den Unterlagen jeden Tag begegnen geben mir doch viel Stoff zum Nachdenken. Ostpreußen war immer ein multiethnisches Gebilde und spottet nahezu unabhängig von Raum und Zeit eigentlich jedwedem nationalen Definitionsversuch oder gar nationalistischem Agieren. In gewisser Weise staatsloses Gebietchen, umschlossen von der Europäischen Union; jede politische Fantasie wie dieses in seiner historischen Konstruktion mehr oder weniger einzigartige Stückchen Erde sich zukünftig in eine nach wie vor durch das Konzept Nationalstaat strukturierte Ordnung einreihen könnte, endet in einer Sackgasse. Vielleicht das erste Gebilde in Europa, welches die Ordnung unterlaufen könnte? „Etwas“ in der EU, was kein Staat ist? Bevölkert von Hunderten von Ethnien, die wie es scheint erst kürzlich Wurzeln geschlagen haben und trotzdem Bögen zur deutschen Vergangenheit zu schlagen beginnen. Es ist ein seltsames Gefühl, dass von den älteren Menschen, in deren unterschiedliche Gesichter man schaut, niemand hier geboren ist und jeder Einzelne Bezüge zu einer alten, anderen Heimat hat.
Aus Kasachstan zugewanderte Deutschsprachige nennen ihre Tassen piyale, ihren Ayran ayran und ihren Reis-Pilav plov. Das ist mir alles wohlbekannt aus meinem heimatlichen türkisch-kurdisch geprägten Kreuzberg. Neben Russen begegnen wir Moldawiern, Osseten, Ukrainern und Armeniern und jeder berichtet von seinem Jerusalem.

Das hier versunkene Land ist längst ein Mythos: Filme, Berichte und Reportagen schlagen häufig in dieselbe Kerbe kollektiver – auch uns natürlich ansprechender – Erinnerungen einer immer kleiner und einsamer werdenden Generation. Störche, Felder, Alleen, Stille. Auch wenn die großen Namen Immanuel Kant, Hannah Arendt, Käthe Kollwitz, Lovis Corinth, Marion Gräfin Dönhoff, Armin Müller-Stahl, Leah Rabin bestechen – ein Schauplatz der Moderne ist Ostpreußen sicherlich nie gewesen. Warum aber reagieren wir bloß so stark auf diese regelrechte Rückständigkeitsidylle von Ziehbrunnen und Heuwagen, blühendem Phlox und Gänseschar? Wir wissen doch, welch schreckliches Elend sich oft dahinter verbirgt. In was für einer Welt leben wir, dass die einen im Elend leben, während die anderen in deren Lebensverhältnisse eine nie wirklich da gewesene heile Welt suchen. Selbst die Bilder der deutschen Flucht aus Ostpreußen zitiert diese merkwürdige Sehnsucht in grausamer Weise, indem sie glauben macht, man habe sich zu jener Zeit ausschließlich mit Pferd und Wagen fortbewegt. Autos – in den Dreißiger Jahren natürlich auch in Ostpreußen allgegenwärtig – von den deutschen Truppen todbringend konfisziert, passen nicht ins Bild.
Ehemalige Bahnstation Trakehnen: Eine alte Frau im Rollstuhl, mit offenen Beinen, hilflos, angewiesen auf einen Ehemann, der sich ständig zwischen prügelnden Alkoholexzessen und tränenreichen Liebesschwüren hin und her bewegt. Als wir die beiden treffen, gibt er uns Honig – Honig für Maschenka, jüngster Blondschopf unserer Gastfamilie. Am Haus ein deutsches Posthorn – wie absurd all das.

Unser zweiter Versuch, Stannen anzufahren: Auf unserem Weg in das traurige Nemmersdorf suchen wir Stobricken /Krammsdorf. Ein Mann behauptet dort, im heutigen Kostino geboren zu sein, zeigen kann er es uns jedoch nicht. Nicht jeder ist schließlich gewohnt, Landkarten zu lesen. Auch diesen Ort streichen wir schließlich von der Liste.
Auch wenn eine ganze Reihe entfernter Verwandter hier gelebt hat und vermutlich während das Krieges noch lebte – warum fahren wir nach Nemmersdorf? Muss man dort gewesen sein?
Der Name steht wie kaum ein anderer für das Trauma Massenvergewaltigung; Schauplatz eines sowjetischen Vergeltungsmassakers verübt an der deutschen Dorfbevölkerung; die auf das grausamste geschändeten Körper von Goebbels’ Propagandamaschinerie zur Verstärkung des Angst- und Hassfaktors für die Wochenschau noch zusätzlich drapiert und in Szene gesetzt.

Wir fahren nach Darkehmen und nach Trempen, wo unsere Urgroßmutter mit ihrer verwitweten Tochter – unser beider Großtante – das Hotel „Deutsches Haus“ führte. Wir fragen uns zum hundertsten Male, wie die überlieferten Zeitangaben zu den Wegstrecken („da fuhren wir sonntags immer zum Kaffee zu Mamachen“) zu unserem Schneckentempo in Beziehung zu bringen sein könnten. Die teils knietiefen Schlaglöcher müssen einzeln umfahren werden. „Möglichst schnell drüberfahren“ sagt Wanja unser Gastgeber, „dann passiert nix“. Damals fuhr man mit dem Pferdewagen, wir fahren Auto und wir brauchen häufig länger als die damals. Uns wird schließlich deutlich, dass der Verkauf der Pflastersteine ehemals deutscher Straßen bis heute ein Geschäft bedeutet, welches angesichts der wirtschaftlichen Situation tatsächlich als lukrativ bezeichnet werden muss.

Ein weiterer Versuch, Stannen zu finden aus der nun dritten Richtung: Norbuden – ein Fleck auf der Karte. Während des Krieges immerhin hundertfünfundzwanzig Einwohner. Dem Schicksal der Umbenennung entgangen, weil der prussische Name nach deutscher Bude klang. Getrennt waren die beiden kleinen Siedlungen nur durch die Angerapp. Sogar ein kleiner Übergang von einem der Inselchen auf dem Fluss ist eingezeichnet. Nachdem alle bisherigen Versuche gescheitert sind, erhoffen wir uns von Norbuden wenigstens einen Blick hinüber auf die ehemaligen Ländereien. Aber kein Weg führt dorthin. „Schon“ der dritte in Frage kommende Holperweg lässt uns aufgeben an einem Ort, den wir aufgrund eines verschilften Weihers und ein paar einsamen, verwilderten Apfel- und Pflaumenbäumen im Gestrüpp als ehemals Auenhof glauben identifizieren zu können.

„Ein deutsches Haus reißt man nicht ab, das hält noch zweihundert Jahre“ erzählt mir abends ein koreanischstämmiger Familienvater, der aus Kasachstan hergesiedelt ist. Sein Haus ähnelt innen wie außen bis hin zum Kartoffelkeller den roten Backsteinhäusern mit Feldsteinfundament wie man sie in Nord- und Ostdeutschland und einigen Teilen Polens überall findet. Genau gesagt: wie ein Ei dem anderen. Schade eigentlich für alle Beteiligten, dass diese Erkenntnis nicht schon etwas früher einsetzte.
Auf unseren Fahrten kämpfen wir mit der kyrillischen Schrift. Im Auto kleben kleine gelbe Bürozettelchen mit denjenigen Buchstaben, die ich anders einfach nicht behalten kann. Das ehemalige Stallupönen, heute Nesterov nennen wir unserer ganz persönlichen Umschrift folgend Hektepop und wollen uns jedes Mal ausschütten vor Lachen.

Norbuden lag nicht so weit von der Bahntrasse, die ich im jetzt vierten Versuch entlang wandere und schließlich an der vermuteten Stelle vorsichtig überquere. Jedoch ist kein Weg kein Steg zu erkennen, nichts als ein weites Feld. Eine mehr als imposante, extrem blau blühende Eisenhutstaude mitten im Nirgendwo bleibt mir in Erinnerung.

Wir sind froh, nicht der Generation unserer Eltern anzugehören, der wir hier ab und zu begegnen und mit der wir das Gespräch suchen. In den Neunziger Jahren waren deutsche Heimwehtouristen noch allgegenwärtig – tausende und Abertausend, praktisch gekleidet mit Kameras, Fotos in Dokumentenhüllen, alten und neuen Landkarten und Russischlexika zur Artikulation freundlicher Absichten. Jetzt scheinen wir die einzigen Deutschen, wenngleich das Herumklettern in Ruinen und das Herumschleichen um Häuser, das Fotografieren leerer Orte den Menschen hier nach wie vor normal vorzukommen scheint.
In Gumbinnen am Elchdenkmal komme ich mit einem alten Herrn vom Bodensee ins Gespräch: „Salzburger Vorfahren vermuten wir auch“ erzählt er mir, sein Name sei aber verkürzt worden, so dass er jetzt der Namensvetter eines sehr bekannten Malers sei. Dabei lächelt er verschmitzt. Hinter seinem Charme spüre ich eine große Verlorenheit, die mich unendlich anrührt. Unsere Gastgeber erzählen uns von zwei Heimwehgeplagten, die nach Ostpreußen zurückgekehrt sind: Selbstmord der eine, überfallen und halb totgeschlagen von drogenabhängigen Nachbarn der andere. Traurig.

Von Gumbinnen machen wir uns noch einmal auf die Suche und fahren nach ehemals Sabadschunen, von dem nur noch eine Brücke über die Angerapp zeugt.
Der Fluss ist bevölkert von Sonntagsausflüglern. Autos, Grillfeuer, Luftmatratzen säumen das Ufer. Russische Musik und Pop-Oldies aus den Siebzigern durchsetzt mit fröhlichen, offenkundig alkoholisierten Gesängen überlagern die sonst gewohnte Stille. Ab und zu scheuchen wir ein Liebespärchen auf. Schwarz-buntes Vieh, kleine gelbe Falter, dunkle Libellen begegnen uns. Das dunkle Wasser der Angerapp mit seinen faszinierenden Wasserpflanzen in der Strömung erscheint unheimlich, kühl, voller Mythen. Gegenüber erhebt sich ein Steilufer, das Flüsschen mäandert. Es wird dunkel, es raunt, wir beschließen wieder zu kommen.

Zunächst aber zieht es uns weiter in Richtung Meer.
Unterwegs stoßen wir eher zufällig auf das laut Reiseführer wahrscheinlich beste Hotel im Kaliningrader Gebiet außerhalb der Hauptstadt „Haus Ostpreußen“. Es wirkt kalt, leer, verdächtig. Der bullige Mercedesfahrer, den wir als einzigen Menschen vorfinden muss sich erst Instruktionen bezüglich der beiden deutschen Frauen holen (mehr von dem Telefonat verstehe ich nicht), bevor er uns ein Zimmer zeigt. Das Ganze erscheint uns muffig, düster deutsch-eichen und ostpreußenblättrig. Auch fühlen wir uns nicht willkommen und fahren weiter.
In Rauschen hingegen, einem der traditionellen Badeorte an der Samlandküste fühlen wir uns wohl – auch wenn es der Erinnerungslegende natürlich kaum mehr entspricht als die Königsberger Altstadt. Wir finden das Häuschen, in dem ein Teil der Familie die Sommerfrische verbrachte – beschrieben in unserer zweiten mitgeführten Privatchronik. Im Thomas-Mann-Haus, Entstehungsort der ein paar Jahre vor der faschistischen Machtübernahme verfassten politisch-moralistischen Novelle „Mario und der Zauberer“ residiert eine hochmoderne zahnärztliche Praxis mit dem schönen Namen „Lächeln“.

Das Frische Haff auf dem Herweg hatten wir als Friedhof empfunden, wir konnten nicht anders. Die Todestrecks übers Eis, deren Schilderung mich als Kind so nachhaltig beeindruckt hat, dass ich als Elfjährige, mehr als zwanzig Jahre nach Kriegsende aufgrund einer einzigen kleinen Randbemerkung einen jungen Lehrer als Ostpreußenflüchtling identifizieren konnte.
Auch die Ostsee birgt ihre Friedhöfe. In Palmnicken muss ich fast weinen eingedenk des Massakers an tausenden jüdischer Ostpreußen durch die Wehrmacht. Bis vor ein paar Jahren wurde es noch ernsthaft abgestritten (Lesen Sie Andreas Kossert). Der Gedenkstein ist hässlich und irgendwie unangemessen, die Sprache der Täter fehlt, nebenan läuft die Europameisterschaft im Beachvolleyball; trotzdem bin ich froh, dass er da ist.
Oberhalb der Gedenkstätte finde ich neben einer profanen Bauruine den vielleicht schönsten Ort, den ich in meinem Leben gesehen habe. Steilküste, ein kleiner vorgelagerter Bodden, Schilf in geheimnisvoll-dunklen Grautönen und die See, die See, die See. Wer hier gewohnt hat und diesen Blick verloren hat, dem wünscht man fast, er habe das entwurzelte Dasein nicht mehr erleben müssen.
Palmnicken wird Rauschen touristisch möglicherweise den Rang ablaufen. Der Strand ist schön und breit, nicht durch Beton verbaut. Außerdem hat sich ein Investor gefunden, Nachfahre des jüdischen Kaufmannes Moritz Becker. Das Publikum ist russischsprachig, in Deutschland liegt die Zukunft des hiesigen Tourismus nicht. Im Museum finden wir deutsches Kleinkriegsgerät neben eigentlich unspektakulärem deutschen Hausrat und alten Fotos – alles unkommentiert, wunderlich. Bierseidel, Porzellanteile, Werkzeuge. Brauerei Labiau, Gruß aus Palmnicken. Die Militaria erstaunen und erschrecken uns, die deutschen Bildunterschriften sind nicht übersetzt, die Bilder nicht kommentiert. Irgendwie passt das zur touristischen Beweihräucherung des Deutschen Ordens, den ich von russischer Seite nicht erwartet hätte.
Handelte es sich bei den Kreuzrittern aus heutig aufgeklärter Sicht doch um politisch nicht unbedingt korrekte Akteure. Zwar spielten sich die meisten Schandtaten weit weg im Nahen Osten ab, aber ist nicht bekannt, wie sehr die Nazis den Orden ideologisierten?

Ins Samland begleitet uns eine Familienchronik aus einem anderen Teil der Familie. Bald sind wir auf der Landkarte vertraut mit dem Symbol für Forsthaus – einem stilisierten Geweih. Der Urgroßvater meiner Reisegefährtin war Förster und beschreibt in seiner Chronik beeindruckende Einsatzorte, deren Wiederauffinden sich naturgemäß noch viel schwerer gestaltet als Orte auf dem flachen Land. Das Gelände der Oberförsterei am Rande des Moosbruches umfasste 180 Morgen bewirtschaftetes Land; Getreide wurde angebaut und ein riesiger Gemüsegarten unterhalten; Zwiebeln und Kartoffeln wurden gezogen, ausgedehnte Wiesenkomplexe umgaben den Hof. Heute – undurchdringlicher Urwald. Ein Versuch, jenen Urwald zu bezwingen, soll für hundert Meter mehr als eine Stunde benötigen (lesen Sie Ulla Lachauer). Was die Autorin als ‚Besessenheit’ beschreibt ist mir sehr nahe.
Das Große Moosbruch wurde beschrieben als unendlich weite, flache Wasserwüste. Wenn in der Ferne ein Pferdewagen oder ein einzelner Baum zu sehen gewesen sei, dann seien sie wie eine Fata Morgana erschienen – unnatürlich groß. Davon kann kaum mehr die Rede sein; weite Flächen sind umwuchert und weder zugänglich noch einsehbar; die geheimnisvollen Moorsiedlungen verschwunden.

Vom Höhepunkt des vergehenden Heimwehtourismus zeugendes Relikt ist das vielleicht bekannteste Haus im nördlichen Ostpreußen in der idyllischen Umgebung des Kurischen Haffs. Café Ehrlich, bonbonfarben, heute in der Nachsaison leider schlampig und nach ausgenommenem Fisch riechend. Die burschikose Herzlichkeit dafür überwältigend.
Wir stellen uns die Zig-Tausenden vor, die währen der letzten siebzehn Jahre hierher kamen: hungrig nach Deutschsprachigen, hungrig nach Unterstützung: geographisch, historisch, organisatorisch aber auch emotional. Fast schon demütig alles in Kauf nehmend, was da kam, um für ein paar kurze Momente anknüpfen zu können an dem, was einst war.
Tapfer umgehend mit oft traurigen Umständen. Die meisten sind inzwischen gestorben oder zu gebrechlich, um noch einmal her zu kommen.

Ein paar Tage später sind wir zurück im nun fast vollständig eingekreisten Suchgebiet „Henriettes Stannen“: Auf unseren Streifzügen im freien Feld beginnen wir uns mit Pfiffen und Jagdrufen zu verständigen weil die Weite und Einsamkeit uns manchmal doch unheimlich ist und wir ab und zu sicherstellen wollen, dass beide noch da sind. Als wir irgendwo bei Plimballen/Mertinshagen wieder einmal die Gültigkeit von Holunder, Lupinen und Dornengestrüpp als Anzeiger ehemaliger menschlicher Ansiedlungen diskutieren, nähert sich ein weißer Geländewagen. Es entsteigt ein gut aussehender Mann, der aussieht, als inspiziere er sein Land. Er wirkt entspannt und freundlich, so dass ich mich traue, ihm Fragen zu stellen. Es gelingt mir, die Begriffe Urgroßmutter, Haus und Friedhof in einer Weise zu artikulieren, die für ihn offenbar sofort Sinn ergibt.
Er zeigt uns, wo es langgeht. Ein paar hundert Meter weiter, die handgezeichnete Skizze in der Hand werden wir schließlich fündig. Reste von Wohn- und Wirtschaftsgebäuden: umgestürzt die Ziegelpfosten, Fundamente, ein dicker Birkenpilz, den wir zusammen mit Ofenscherben und Ziegelresten zum Auto tragen, um ihn unseren Gastgebern zum Einwecken mitzubringen.

Nun stehen wir also auf dem ziemlich weitläufigen Land unserer Vorfahren, wir, deren Eltern und Geschwister so ziemlich alle in verschiedenen Städten leben, und deren Kinder vielleicht in verschiedenen Ländern leben werden. Heideartig, beweidet mit ein paar Baumgruppen und kleinen Dornensträuchern – natürlich wunderschön. So lange haben sie hier gelebt, dass es einen eigenen Friedhof gab. Zwei zerbrochene Grabeinfassungen, mehr braucht es nicht, wenngleich unter den Brennnesseln sicher noch mehr zu finden wären. Es reicht zu wissen, wo wir stehen. Eine Kastanie haben sie gepflanzt und eine Linde, die Akazie scheint jünger.

Auf dem Rückweg begegnet uns ein Kuhhirte zu Pferd, der eifrig in sein Mobilltelefon spricht. Im Gespräch vermittelt er uns, dass vor zwei Jahren ein paar Deutsche hier erfolgreich gegraben hätten. Was sie ausgegraben haben, entzieht sich allerdings unserem Verständnis. Ist auch ganz unwichtig. Bei den Ausgräbern handelt es sich sicher um entfernte Verwandte, deren Namen wir nur aus unserer inzwischen recht abgegriffenen Chronik kennen. Vielleicht werden wir versuchen, sie per Internet aufzuspüren, wenn wir wieder zuhause sind.

Unsere Trakehner Gastgeberin, Nachfahrin mennonitischer Westpreußen, bringt uns zu dem Ort, an dem sie nach dem langen Weg aus Mittelasien vor Jahren angelandet war: das Tollmingkehmer Vorwerk Samonienen – einst ein angesehenes Privatgestüt, heute Heim für deutschstämmige Zuwanderer aus verschiedenen Teilen der verschwundenen Sowjetunion, deren Völker sich mehr und mehr sortieren.
Der Abrisstraktor stand schon da, erzählt sie, das Drahtseil zum Gutshaus war gespannt, dann ging der Treibstoff aus. Man zeigt uns Hochzeitsbilder und erzählt von der Verwandtschaft in Berlin. Die jungen Männer tragen bunt bestickte Kappen aus der alten Heimat Kirgisien und bauen kleine Häuser aus den Backsteinen der ehemaligen Stallungen. Es heißt, im Dickicht des versunkenen Parks, dessen Zierteiche einst Wasserfontänen und Schwäne schmückten, läge unter einem Stein die preisgekrönte und heiß geliebte Trakehner Stute Eule von Larifari begraben.

Ein letztes Mal treibt es uns nach Stannen, auf der Suche nach Erinnerungsstücken für die Familien (Porzellanscherben Steinmann Tiefenfurt) und offenbar auch nach Klärung unserer Gefühle.

Auf meiner letzten Reise war einer der stärksten Eindrücke die backsteinerne Familiengrabstätte einer Familie Laue auf Pinnau in Wehlau, welche damals als Hühnerstall diente. Ich habe bis heute keine Spur dieser Familie finden können.

Birgit Ammann, April 2010