Bericht einer ehemaligen Dorfbewohnerin über Göritten und die Flucht von dort

Bericht über Göritten von Charlotte Ekruth und ihrer Tochter Karin Raffetseder

Zunächst die Namen von Dorfbewohnern, die in Erinnerung geblieben sind:

Metzgerei: Fam. Schneidereit – im Haus mit wohnhaft: Fam. Magunia
Lebensmittel und Post: Fam. Scheidereiter
Pfarrer: Herr Modregger
Schule: Lehrer Herr Kühn (wurde aus Berlin evakuiert), Herr Willkat (oder Willkot), Frl. Tielke (aus Hamburg)
Armenhaus: Familien Bohrmann, Janke, Deising, Ostrowsky, Blümke
Gut Janzen (heute Polizeistation)
Wohnhaus: Familien Schierwindt und Kindermann
Wohnhaus: Fam. Flügge
Bauernhaus: Fam. Bichbäumer, Wenath
Lebensmittel: Fam. Langwenus
Wohnhaus: Fam. Fressdorf
Schäferei: Emil Ekruth, Fam. Adumat, Fam. Stenzler (man nannte es nur Schäferei, es war eine Erhöhung oder ein kleiner Berg)
Zwei Häuser hinterm Teich: Familien Bleier, Geffke (Inge Geffke, Freundin von Charlotte Ekruth), Gerolat, Viehhöfer, Reich, Nickel, Brommbach, Kablun

Im Jahr 1943 war mein Opa (Richard Ekruth, geb. 14. 7. 1907 in Mohrungen) in Frankreich stationiert. Wegen einer schweren Krankheit lag er im Elsass in einem Lazarett. Nach seiner Genesung meldete er sich von dort aus freiwillig nach Russland, was meine Oma (Minna Ekruth, geb. 10. 3. 1907 in Grünweide, gest. 2000 in Remlingen, Unterfranken) nie verstanden hat. Denn eigentlich hätte er nicht mehr an die Front gemusst. Im April 1944 bekam meine Oma die Nachricht, dass er als vermisst galt. Meine Mutter kann sich noch genau an das Gesicht meiner Oma erinnern. Das Mittagessen, dass sie gerade zu sich nehmen wollte, fiel aus, denn keiner hatte mehr Appetit.

1944 … meine Mutter, Charlotte Ekruth, war gerade einmal 14 Jahre alt und was ihr heute noch in Erinnerung ist, also ein Teil davon, hat sie mir erzählt.

Im Jahre 1944 gab es in Göritten, heute Puschkino, ein Lager für russische Kriegsgefangene. Dieses Lager befand sich in der Nähe des Bahnhofs. Einige Kriegsgefangene arbeiteten am Bahnhof, andere halfen den Bauern bei der Arbeit und bekamen Essen dafür. Wiederum andere bauten Spielsachen aus Holz und auch meine Mutter brachte ihnen Brot und bekam Spielsachen dafür. Diese Tauschaktionen wurde von den Wachen genehmigt. Viele seien aber auch gestorben – an Krankheiten oder weil es zu wenig zu essen gab. Dort, wo die Gefangenen am Bahnhof arbeiteten, war alles eingezäunt, damit sie nicht fliehen konnten.

Rund um den Bahnhof war Munition gelagert, die vielleicht mit den Zügen weitergeleitet wurde.

In Göritten gab es Häuser, die auch Armenhäuser genannt wurden. In diesen Häusern lebten die Leute, die wenig hatten und für die Bauern arbeiteten.

Die Kirche, die im Ort stand, wurde, so erzählte man im Ort, von Spionen genutzt, um Signale auszusenden. Immer wieder wurden die einzelnen Kammern der Kirche mit Ketten und Schlössern verschlossen. Doch diese wurden ständig wieder aufgebrochen. Das Taufbecken wurde mehrmals als WC benutzt und mit Fäkalien verschmutzt.

Oktober 1944

Im Oktober 1944 sind die Einwohner aus Göritten geflohen. Meine Mutter hatte eine Freundin namens Inge Geffke. Diese floh mit ihrer Familie einige Tage vor meiner Mutter. Heute lebt Inge Geffke im Harz und sie stehen immer noch in Kontakt.

Die Familien Arndt und Ekruth waren die allerletzten, die Göritten verließen. Hans Arndt besorgte kurz vorher noch Pferd und Wagen. Der Wagen wurde mit dem Nötigsten beladen (Kleidung, Nahrungsmittel). Meine Oma nahm noch ihre Nähmaschine mit. Hans Arndt wollte nicht in großen Gruppen fahren, weil diese eher beschossen wurden. Doch auch sie wurden ein paar Mal von Fliegern beschossen und sie mussten sich in die Gräben werfen, um nicht getroffen zu werden.

Als erstes ging es mit dem Pferdewagen nach Nemmersdorf. Dort blieben sie ein paar Tage. Meine Oma (Minna Ekruth) und Hans Arndt sind noch einmal zurück nach Göritten gegangen, um noch ein paar Sachen zu holen und eventuell noch einmal zu schlachten, was eigentlich verboten war. Es wurde aber ganz oft heimlich geschlachtet. Oder der Metzger hat das Schwein fetter angegeben als es war und hat dann auch Fleisch dafür bekommen.

Die russischen Soldaten waren noch nicht in Göritten und so konnten sie noch einige Sachen aus dem Haus holen und kehrten nach Nemmersdorf zurück.

Meine Mutter hat die schreckliche Geschichte von Nemmersdorf gehört. Ich habe die Bilder gesehen. Wären meine Oma und Hans Arndt nicht zurück nach Nemmersdorf gekommen, aus welchem Grund auch immer, wäre es meiner Mutter und den anderen genau so ergangen.

Von Nemmersdorf fuhren sie, wieder mit dem Pferdewagen, nach Mehlsack. Mein Opa hatte meiner Oma aus Frankreich Stoffe und für meine Mutter ein Parfüm geschickt. Aber diese beiden Sachen waren noch in Göritten. Also machten sich die beiden noch einmal auf den Weg, um dieses zu holen. Ich gehe mal davon aus, dass diese Sachen zum Tauschen gebraucht wurden.

Von weitem sahen sie viele Soldaten und sie waren sich nicht sicher, ob es sich um Russen oder deutsche Soldaten handelt. Wie sich herausstellte, waren es deutsche Soldaten und sie durften noch einmal in den Ort. Sie holten die Stoffe und das Parfüm (es hatte eine blaue Verpackung mit vielen Sternen drauf) und gingen, immer auf der Hut, zurück nach Mehlsack.

Von Mehlsack ging es weiter nach Pommern und dann nach Parsewalk. Als sie in Parsewalk ankamen, war schon klar, dass die Einwohner am nächsten Tag Parsewalk verlassen mussten. Meine Oma bat einen Bauern um etwas Milch für die Kinder. Diese bekam sie aber nicht. Am nächsten Morgen hätte sie von dem Bauern Milch bekommen können, hat diese dann aber abgelehnt.

Nun durften sie nur noch Handgepäck mitnehmen. Alles, was größer war, mussten sie zurücklassen. Auch die Nähmaschine. Es ging mit dem Zug nach Hamburg. Da sie weder Stammbücher noch Pässe hatten, mussten sie überall, wo sie hinkamen, eidesstattlich versichern, wie sie heißen und woher sie kommen.

Von Hamburg aus wurden sie nach Ahrensburg gebracht, auch wieder mit dem Zug. Hier wurden die Flüchtlinge auf die nahegelegenen Dörfer verteilt. Unsere Familie landete in Delingsdorf. Hier ist auch mein Opa (Richard Ekruth) auf einem Gedenkstein der Opfer des 2. Weltkrieges zu finden. Ich glaube, dass meine Oma ihn in Delingsdorf offiziell für tot erklären ließ.

Später zog meine Mutter mit ihrem Mann Karl Heinz Appel nach Hamburg. Damals hatten sie drei Kinder. Zwei Kinder folgten noch. Meine Oma zog dann auch nach Hamburg, wieder zu ihrer Tochter. Sie lebten bis zum Tode meiner Oma zusammen. Heute lebt meine Mutter im fränkischen Remlingen bei Würzburg, wo auch meine Oma beerdigt ist.

Das war eine Kurzversion über die Flucht aus Göritten. Vielleicht interessiert sich jemand dafür und vielleicht gibt es noch Nachkommen der Familien Arndt und Ekruth, die diese Geschichte lesen.