Der nachfolgende Bericht wurde verfasst von dem aus einer Tolkemiter Fischerfamilie stammenden Herbert Koschke, eingesandt Juli 2014 von Günter Klepke:
Wir zogen mit dem Schlitten los
Es war am 23. Januar 1945 abends in Tolkemit, eine Woche bevor ich 14 Jahre alt wurde. Es war sehr kalt, und es lag viel Schnee. Nach Neuschnee waren es etwa 30 Zentimeter. Wir lagen alle schon im Bett und wollten gerade einschlafen, als meine Tante Justine Radau bei uns auf der Siedlung, Neuer Weg 10, an die Tür klopfte. Sie rief: „Lene und Franz, (das sind meine Eltern) aufstehen, der Russe hat schon den Abendzug in Elbing beschossen“. Fast gleichzeitig sprangen wir aus den Betten. Wir hatten Angst, was es nun wohl geben würde. Nun ja, wir hatten schon ein paar Tage vorher einigermaßen vorbereitet, indem wir schon etwas gepackt hatten. Wir hatten uns mit einem Nachbarn zusammengetan. Dieser hatte einen großen Fischerschlitten auf dem Dachboden. Den Schlitten hatten wir vorbereitet und die Kufen geputzt. Diesen Schlitten brauchten wir nun zur großen Flucht übers Haff durch viel Schnee und Eis ins Ungewisse.
Wir haben alles, was so zwei Familien mitzunehmen hatten, aufgeladen und die kleinen Kinder noch oben drauf und zwar in Decken verpackt, damit keines erfror. Der Mann und Vater unserer Nachbarsfamilie Klatt war zu dieser Zeit irgendwo an der Front. Meine Tante hatte sich mit meinen Eltern zu einem Treffen in Kahlberg verabredet. Als wir mit dem Schlitten in die Stadt kamen, riefen einige Leute in der Höhe von Lebensmittelhändler Jorzig: „Männer, die zum Volkssturm gehören, rechts raus, sie bleiben hier zur Verteidigung unserer Heimat“. Das interessierte uns aber nicht, denn wir hatten mit uns genug zu tun. Wir größeren Kinder nahmen einen Strick in die Hand und zogen den Schlitten. Unseren Vater nahmen wir in die Mitte des Schlittens, damit er nicht gesehen wurde.
So fuhren wir bis zum Hafen. Auf der linken Seite, wo sich eine Rampe befand, gingen wir aufs Eis. Es war schweres Vorwärtskommen, da die Schneedecke auf dem Eis hoch war. Die Eisdecke selbst soll wohl 50 Zentimeter dick gewesen sein. Der Frost schnitt uns mit 18 Grad in die Glieder. Unser Vater wußte auf dem Frischen Haff gut Bescheid, wie auch manch anderer Mann aus Tolkemit. Schließlich war er der Sohn einer Schiffer-Familie, und die richteten sich nach den Sternen. Nach langem Ziehen des Schlittens kamen wir endlich in der Mitte des Haffs an.. Hier stellten wir fest, daß da einen Tag vorher wohl der Eisbrecher durchgefahren sein mußte.Nach und nach traf unsere ganze Verwandtschaft hier ein. Somit waren wir alle glücklich zusammen. Erfahrene Schiffszimmerer und Fischer aus Tolkemit hatten einige dicke Bohlen über das dünne Eis gelegt. Es waren unter anderen die Fischer Hermann Koschke und Knoblauch dabei.
Nun gut, wir mußten alles von dem Schlitten abladen, jedes Stück einzeln über die Eisschollen und Bohlen herüberbringen und dann wieder aufpacken, um weiterzufahren. Zusammen mit allen anderen Verwandten sind wir dann weitergezogen. Auf dem Eis begegneten wir einem deutschen Spähtrupp. Etwa um Mitternacht kamen wir glücklich in Kahlberg an. Gleich ging es weiter nach Pröbernau. In diesem Dorf war unser Opa Koschke, den wir auch bei uns hatten, geboren worden. Unsere Verwandten dort „fielen aus allen Wolken“, als wir gegen Morgen an ihre Tür klopften und um Einlaß für ein paar Tage baten. Meine Eltern glaubten ja daran, in wenigen Tagen wieder nach Tolkemit zurück zu können.Aber leider wurde nichts daraus.
Wir haben abends gesehen, wie auf der anderen Seite des Haffs etwas in Flammen aufging und konnten uns nicht vorstellen, daß es in Tolkemit war. Bei unseren Verwandten hatten sich Soldaten eingefunden, die uns von den Ereignissen auf dem Festland erzählten. Die Lage wurde immer schlimmer. So mußten wir nach einigen Tagen weiterziehen und zwar mit allen unseren Verwandten aus Tokemit. Es ging nur wenige Kilometer weiter nach Bodenwinkel, wo sich meine Eltern auch gut auskannten. Hier wurden wir alle einigermaßen gut aufgenommen. Die Leute hier hatten wohl schon einiges über den Einfall der Russen erfahren, aber so richtig glauben wollte es noch keiner. Auch wir standen am Haff und sahen zu unserem geliebten Tolkemit, wo unser aller Wiege stand.
Von Bodenwinkel zogen wir nach einigen Tagen wieder weiter und zwar zum nächsten Ort nach Stutthof. Dort war ein großes Auffanglager eingerichtet worden. In diesem Lager verbrachten wir nur eine Nacht auf Stroh und einigen Decken. Am folgenden Tag fuhren wir alle mit dem Zug nach Danzig. Auch hier hatten wir wieder Verwandte zum momentanen Unterkommen. Trotz Bomben und Granateinschlägen blieben wir bis zum 23.3. in Danzig.Wir gingen dann unter Beschuß über Langgarten nach Neufähr, um mit einem Schiff zu entkommen. Noch am selben Tag kamen wir auf einen Hochseeschlepper, der uns bis Hela brachte. Mit kleineren Booten gelangten wir schließlich auf ein großes Schiff, das auf Reede lag. Dieses Schiff brachte uns über die Ostsee glücklich nach Rostock.
Von Rostock begann eine Fahrt ins Ungewisse. Keiner wußte, wohin die Reise ging. Der Zug fuhr immer hin und her. Keine Stadt wollte noch Flüchtlinge haben. Alles war mit Flüchtlingen überfüllt. Letztlich landeten wir in Elmshorn in Schleswig-Holstein. Hier wurden wir von einer Frau Münster sehr liebevoll aufgenommen. Wir hatten endlich ein Dach über dem Kopf und waren zufrieden. Am letzten Tag des Krieges fielen in Elmshorn noch Bomben und wir verloren dabei noch den Rest unserer mitgebrachten Habe. Ich wurde dabei sehr verletzt. Aber es sollte wohl alles so sein. In unserem Unglück hatten wir noch großes Glück gehabt. Schließlich sind wir mit dem Leben davon gekommen.