Bajdy – Boyden
Etwa 4 km nordwestlich von Saalfeld in Richtung Myslice – Miswalde liegt der Ort Bajdy – Boyden. Über das Dorf mit Schloss wurde uns von einem Nachfahren der Familie v. d. Planitz, die das Gut bis 1928 besaß, der Bericht von Frau Eduarda von Keber aus dem Jahr 1988 zur Verfügung gestellt, den wir nachfolgend wiedergeben:
„Boyden, Ostpreußen, Kreis Mohrungen
Das Dorf BOYDEN lag ca. 4 km von der Bahnstation SAALFELD/Ostpr. und ca. 8 km von der Bahnstation MISWALDE entfernt. Das Dorf hatte selbst keinen Bahnhof. Zur Zeit der Vertreibung bzw. der Flucht hatte das Dorf zwischen 190 und 200 Einwohner.
Eine Dokumentation über das Dorf B o y d e n zusammenzustellen war nicht ganz einfach. Jahrelang, hatte ich vergebens versucht, mit Angehörigen des letzten Besitzers des Gutes Boyden in Verbindung treten zu können, um von ihnen etwas mehr über die Geschichte oder den Ursprung des Gutes und den Erbauer des Schlosses in Erfahrung zu bringen, um meine Dokumentation etwas vollständiger machen zu können. Erst im letzten Jahr war es mir endlich gelungen, mit der Tochter des letzten Besitzers Kontakt aufzunehmen. Leider konnte auch sie nicht viel mehr mitteilen, als was ich schon vorher gewusst hatte. Doch, mit ihrer Genehmigung möchte ich aus ihren Bericht, für den ich ihr herzlich danke, zitieren, denn er gibt ein so typisches, anschauliches Bild von dem Leben auf unseren ostpreußischen Gütern.
Meine Dokumentation geht also leider nur auf das Jahr 1917 zurück. In diesem Jahr kaufte Herr Erich Edler von der Planitz das 2.600 Morgen Land umfassende Gut Boyden als “Refugium”, wie seine Tochter in ihrem Bericht es schilderte. Ein Dorf Boyden gab es damals noch nicht sondern nur das Schloss, dessen Erbauer leider unbekannt ist, und die Insthäuser, in denen die Gutsarbeiter wohnten. Herr von der Planitz errichtete eine Molkerei, die Tilsiter Käse sogar bis nach Berlin lieferte, erzeugte elektrischen Strom, den er an die umliegenden Nachbarn gegen Milch für die Molkerei lieferte.
Im Jahr 1928 wurde das Gut aus wirtschaftlichen, politischen und familiären Gründen an die Ostpreußische Landgesellschaft verkauft. Die Familie v. d. Planitz zog nach Berlin. Das Land wurde aufgeteilt und an Siedler (Kleinbauern) verkauft, die zum Teil schon auf dem Gut gearbeitet hatten. Es gab aber auch eine Reihe von Siedlern, die aus anderen Orten nach Boyden gekommen waren. (Die Größe der Höfe betrug zwischen ca 6 bis 32 ha. Es gab ca 30 Kleinbauernhöfe.) Das schöne Gutshaus, das “Schloss”, wollte niemand haben. So kaufte es der Rechtsanwalt Kurt Sender aus Saalfeld im Jahr 1928. Er bewohnte es viele Jahre mit seiner Familie, bis er es im Jahr 1935 an den Staat verkaufte.
Im Schloss wurde nun eine Schulungsstätte für die weibliche Jugend (Bund deutscher Mädchen, BDM) eingerichtet. Die Lehrgänge wurden von jungen Führerinnen aus dem ganzen Reich besucht. In den jeweiligen Lehrgängen wurden insbesondere der Sport und die Kulturarbeit gepflegt. Am Ende eines jeden Lehrganges wurde mit den Dorfbewohnern in dem großen Schlosspark ein Dorfnachmittag mit Laien‑ und Kasperlespielen sowie Volksliedern und Volkstanz gestaltet, so dass die Schule zum kulturellen Mittelpunkt des Dorfes wurde. Dadurch waren Schule und Dorf zu einer Familie zusammengewachsen. Die Dorfbewohner kamen in die Schule mit ihren großen und kleinen Nöten, um sich dort Rat und Hilfe zu suchen. Da das Schloss das einzige Telefon im Dorf besaß”, kam es nicht selten vor, dass mitten in der Nacht ein Arzt oder die Hebamme angerufen werden musste. Die Lehrgangsteilnehmerinnen wiederum beteiligten sich mit großer Freude an den jeweils anfallenden Erntearbeiten. Es wurde ein Erntekindergarten von der Schule aus eingerichtet.
Im August 1940 nahm das ganze Dorf an der Hochzeit der damaligen Schulführerin teil. Durch den Ausbruch des Krieges änderten sich mit der Zeit die Verhältnisse in der Schule total, denn die Mädels aus “dem Reich“ konnten nicht mehr anreisen. Nachdem es vorübergehend eine Landdienstführerinnenschule geworden war. benutzte die Wehrmacht das Schloss für mehrere Monate zur Einquartierung der nach dem Osten durchziehenden Truppen. Das Schloss machte in den letzten Kriegsjahren eine bewegte Zeit durch. In den letzten Monaten vor der Flucht wurde es als Wehrertüchtigungslager benutzt. Mit dieser “Belegschaft” gingen wir in der Nacht vom 20. zum 21.Januar 1945 auf die Flucht.
Wir hatten am Nachmittag (es war ein Sonntag) noch einen Treck mit ca 125 Flüchtlingen, die aus dem Kreis Osterode gekommen waren, aufgenommen. Wir hatten für sie alle ein Strohlager in unseren großen Sälen eingerichtet und den verfrorenen, müden Flüchtlingen etwas zu essen und zu trinken gegeben, soweit dies uns möglich war. Leider mußten wir die armen Menschen aus ihrer so ersehnten Ruhepause jäh aufwecken, weil wir ‑ ganz durch Zufall ‑ erfahren hatten, dass die Stadt Saalfeld schon seit mehreren Stunden Räumungsbefehl hatte, von dem wir keine Ahnung hatten! (Wie oft hatte ich mitten in der Nacht unseren Bürgermeister aufsuchen müssen, um ihm einen Übungsalarm mitzuteilen. Und jetzt, wo es bitterernst war, hatte man unser Dorf total vergessen!) So mussten wir in Windeseile bei minus 20 Grad auf schneeverwehten und stellenweise stark vereisten Straßen auf die Flucht gehen und alles zurücklassen. Die Leute aus dem Osteroder Treck ließen einige ihrer beladenen Wagen in unserem Park stehen, weil die erschöpften Pferde sie nicht mehr ziehen konnten! Wir aus der Schule machten uns zu Fuß auf den Weg zum Bahnhof Miswalde, der ca 8 km entfernt war. Und das bei 20 Grad unter Null! Wenn uns im Dunkeln um Mitternacht jemand begegnete, so wussten wir nie, ob es nicht schon Russen waren, denn Osterode war inzwischen bereits in ihre Hände gefallen. Die Tatsache, dass wir lebend davonkamen, verdanken wir einzig und allein dem Umstand, dass die Russen einen Umweg über Mohrungen machten, anstatt direkt von Osterode nach Elbing vorzurücken. Wir lagen ja direkt an dieser Chausseel Wie mir erzählt worden ist, sind die Russen wenige Tage nach unserer Flucht nach Boyden gekommen und haben dort das Schloss angezündet.
Nach Kriegsende wurde dann das noch teilweise erhaltene Gebäude von den Polen mit Hilfe der zurückgebliebenen Deutschen abgebrochen, wie mir erzählt worden ist. Die Steine sollen zum Wiederaufbau nach Warschau verladen worden sein. Nach deren Abtransport wurde auch die Bahnlinie, die nach Saalfeld führte, demontiert. Heute erinnern nur noch 3 völlig von Unkraut überwucherte Treppenstufen an das ehemalige, schöne Herrenhaus.
Boyden war ein typisch ostpreußisches Dorf. Es lag in einer besonders reizvollen Gegend des Oberlandes unweit idyllischer Seen und kleiner Wälder.
Heidelberg,
Februar 1988
(Eduarda von Keber)“