In Litauen erwartete man von den Friedensverhandlungen in Versailles größere Geländegewinne auch westlich der Memel, also einen erheblichen Abschnitt Nordostpreußens, von Litauen als „Klein-Litauen“ bezeichnet. Eine litauische Delegation legte dazu im März 1919 einen Forderungskatalog vor, der bis zu 10.000 Quadratkilometer ostpreußischen Bodens mit bis zu einer halben Million Einwohnern umfasste. Aber auch die Polen erhoben Ansprüche auf die Provinz Ostpreußen. Deshalb ersannen die Siegermächte einen Kompromiss. Im Versailler Vertrag, durch den ohne Befragung der betroffenen Bevölkerung u. a. Westpreußen abgetrennt und Danzig zur Freien Stadt erklärt wurde, separierte man gemäß Artikel 99 im Jahr 1920 ohne Volksabstimmung auch das Memelland mit 2.650 qkm und einer Bevölkerung von 142.000 Personen, wobei ihnen nach dem Vorbild Danzigs ein „Freistaat Memelland“ vorgeschwebt haben mag. 90 % der Bevölkerung verstanden sich jedoch als Deutsche, 95 % waren evangelischer Konfession, während die Litauer im Memelland vornehmlich katholisch waren. Erstmalig in der Geschichte nannte man diesen Teil Ostpreußens jetzt das „Memelland“. Dieses wurde mit dem Mandat des Völkerbunds unter französische Verwaltung gestellt.[1] Am 8. 2. 1920 übernahm der französische General Dominique-Joseph Odry mit einem Bataillon Alpenjäger die Verwaltung des Memellandes und die letzten deutschen Truppen verließen das Gebiet. Odry wurde am 1. Mai 1921 durch den französischen Beamten Gabriel Petisné ersetzt.[14]
Nach dem 1. Weltkrieg wurde der Memelstrom, der in Preußen bis dahin nie eine Grenze war, plötzlich zu einer scharfen Grenzlinie, die mitten durch die alten preußischen Kreise führte. Um die danach entstandenen Probleme, die sich verwaltungsmäßig, schulisch, kirchlich und auf vielen anderen Gebieten durch die willkürliche Trennung ergaben, zu bewältigen, wurde das vom Deutschen Reich abgetrennte Memelland 1920 auf Anordnung der französischen Militärverwaltung in neue Verwaltungsbezirke aufgegliedert. Während die Kreise Memel-Stadt und Memel-Land ihre alten Kreisgrenzen behielten, verlor der Kreis Heydekrug kleinere Teile seines Gebietes südlich des Memelstromes. Neu gebildet wurde ein Kreis aus Teilen von vier alten Kreisen, deren Kreisorte alle südlich der Memel lagen. Zwei Drittel des neuen Kreises hatte bis zur Abtrennung zum Landkreis Tilsit gehört und ein Drittel etwa zum Kreis Ragnit. Vom Stadtkreis Tilsit wurde der auf dem nördlichen Memelufer gelegene Stadtteil Übememel abgetrennt und vom Landkreis Niederung kam noch der Gutsbezirk Perwallkischken dazu. Dieser neu gebildete Kreis bekam seinen Namen von dem Ort Pogegen, der wegen seiner verkehrsmäßig günstigen Lage zum Kreisort bestimmt wurde. Alle Eisenbahnen und Steinstraßen liefen im Dorf Pogegen, das Tilsit gegenüberliegt, zusammen. Hier gabelte sich nicht nur die von Tilsit kommende Eisenbahn nach Memel und Tauroggen, hier war auch die Endstation der Kleinbahnen von Laugßargen und Schmalleningken. Ferner teilte sich die aus Tilsit kommende Chaussee in Mikieten in drei wichtige Verkehrswege: nach links in Richtung Memel (über Pogegen), geradeaus nach Tauroggen und nach rechts ins südliche Memelland bis Schmalleningken und weiter nach Litauen hinein.
Der Kreis Pogegen war ein langgestrecktes Gebilde von 60 km, das im Osten und Norden bis zur alten deutsch-russischen jetzt litauischen Grenze, im Süden bis an den Memelstrom und im Westen bis zur Grenze des Kreises Heydekrug reichte. Mit 93.900 ha umfaßte dieser neue Kreis 40 % des gesamten Memelgebietes. In ihm lag auch über die Hälfte aller memelländischen Waldungen. Außerdem hatte er eine ertragreichere Landwirtschaft als jeder der anderen Landkreise. Die Bewohner blieben weiterhin stark nach Tilsit orientiert, da der größte Teil des Gebietes zum sogenannten kleinen Grenzverkehr gehörte.” Quelle: http://www.memelland-adm.de/[2]
Am 10. 1. 1923, ein Tag bevor die Franzosen das Ruhrgebiet besetzten, überschritten 5.000 – 6.000[15] bewaffnete Litauer (das 5. Infanterieregiment und die Kriegsschule Kaunas sowie die Schützenverbände – zum Teil in zivil, teils in regulären Uniformen), vielleicht auch wesentlich mehr, bei Litauisch-Krottingen und Tauroggen die Grenze zum Memelland, um einen Volksaufstand der Bevölkerung gegen die Herrschaft der Völkerbund-Franzosen zu simulieren und einen Freistaat Memelland zu verhindern. Der streng geheime Befehl zur Okkupation des Memelgebiets wurde am 6. Januar 1923 erteilt. Der Oberkommissar der Signatarmächte des Versailler Vertrags Gabriel Petisné informierte Paris bereits am 7. Januar darüber, dass die Litauer im Memelgebiet demnächst losschlagen würden, doch die mit dem Ruhrgebiet beschäftigten Alliierten intervenierten nicht und akzeptierten die Fakten achselzuckend. Es war in jedem Fall kein autochthoner Aufstand von Litauern, sondern eine gezielte Aktion der litauischen Regierung. Die Polen hatten nach dem 1. Weltkrieg in ihrem Bemühen nicht nachgelassen, Teile Ostpreußens und speziell das Memelland zu okkupieren. Es sieht so aus, dass es ein geheimes Einverständnis zwischen Deutschland und Litauen gab, diese Bestrebungen zu durchkreuzen, indem man lieber den Litauern das Gebiet überließ.[13]
Am 16. Februar 1923 übertrugen die Siegermächte den Litauern die Souveränität über das Memelland. In Verhandlungen mit dem Völkerbund mußten die Litauer den Memelländern aber einen Autonomiestatus einräumen. Die Memelkonvention über diese Autonomie, die erforderlich wurde, weil Litauen im Versailler Vertrag gar nicht erwähnt wurde, wurde nach langen Verhandlungen am 8. Mai 1924 verabschiedet. Diese Memelkonvention wurde jedoch unterschiedlich ausgelegt und deshalb gab es zahlreiche Reibereien zwischen Memelländern und Litauern. So übte ein Gouverneur die litauische Souveränität über das Memelgebiet aus, der vom litauischen Präsidenten ernannt wurde. Der ernannte seinerseits den Präsidenten der Memelländischen Regierung (Landfesdirektorium), der jedoch vom Vertrauen des gewählten memelländischen Landtags abhängig war, und dort hatten die deutschorientierten Parteien die Mehrheit. Als Reaktion auf den ständigen Machtkampf wurde 1926 das Kriegsrecht über das Memelland verhängt.[12]
Der Landtag des Memelgebietes wandte sich am 28. August 1930 mit einer Beschwerdeschrift an den Völkerbund in Genf, weil man befürchtete, die Autonomie zu verlieren. Das führte zu Verhandlungen vor dem Haager Ständigen Internationalen Gerichtshof. Gegen 126 Mitglieder von memeldeutschen Parteien begann am 14. Dezember 1935 in Kaunas ein Prozeß vor dem obersten litauischen Kriegsgericht, was den Widerstand der deutschen Memelländer gegen die Litauer nur beflügelte.[4]
Bis zum 1. November 1938 verhängten die Litauer über das Memelgebiet noch dazu den Kriegszustand mit der Folge, dass die Rechtsautonomie des okkupierten Gebietes weitgehend außer Kraft gesetzt wurde. Am 22. März 1939 gab Litauen dann das Memelland an Deutschland zurück, was dem Willen der übergroßen Mehrheit der Memelländer entsprach, besiegelt durch einen offiziellen Staatsvertrag, der von den 4 Signatarmächten völkerrechtlich anerkannt wurde.[5]
Hintergrund für das Einlenken Litauens war zum einen der Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich, der deutlich machte, dass das System Versailles zu Ende ging, aber auch ein Grenzzwischenfall zwischen Litauen und Polen am 13. März 1938. Bei dem Grenzzwischenfall war ein polnischer Grenzsoldat getötet worden, woraufhin es heftige polnische Proteste gab und auf einer Protestveranstaltung in Wilna massiv die Forderung vorgetragen wurde, in Memel und Polangen einen polnischen Marinestützpunkt einzurichten, was Litauen in erhebliche Abhängigkeit von Polen gebracht hätte. Als Folge wurde Litauen immerhin gezwungen, die diplomatischen Beziehungen zu Polen aufzunehmen und damit das Wilna-Gebiet als polnisches Territorium anzuerkennen.
Die Reichsregierung bereitete sich einerseits auf die Vorsichtsmaßnahme einer Besetzung des Memelgebietes vor, um nicht vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden, unterstützte andererseits Polen in seinen Forderungen und trat für den status quo ein, während Litauen das Gebiet von Wilna zurückforderte. Da Litauen mit Polen keine Einigung erzielen konnte, Hilfe von Russland oder den Westmächten nicht zu erwarten war, entschloss man sich in Kaunas zum Ausgleich mit Deutschland, um nicht völlig isoliert dazustehen und um eine militärische deutsche Intervention zu vermeiden. Der mit Segen Englands in der Nacht vom 22. auf den 23. März 1939 geschlossene Staatsvertrag zwischen Litauen und dem Deutschen Reich, von den anderen Signatarmächten unwidersprochen, wurde nie aufgehoben und gilt demzufolge theoretisch immer noch. Im zwei-plus-vier-Vertragswerk fand der Staatsvertrag keinerlei Erwähnung.[6] Am 22. März 1939 zog sich das litauische Militär aus dem Memelland zurück, am 23. März rückte deutsches Militär dort ein. Die Grenze zwischen dem Memelland und Litauen wurde hinfort von der zivilen Zollverwaltung, nicht vom Militär gesichert, was ein wichtiges Indiz dafür ist, dass Deutschland bei der Rückgabe des Memellandes keinen völkerrechtswidrigen Zwang gegenüber Litauen ausgeübt hat.[7]
Die Wiedereingliederung des Memellandes ins Deutsche Reich wurde mit einem Reichsgesetz vom 23. März 1939 vollzogen, das an Bord des nach Memel ausgelaufenen Panzerschiffes „Deutschland“ unterzeichnet worden war. Damit gehörte das Memelland zum Regierungsbezirk Gumbinnen der Provinz Ostpreußen im Land Preußen. Dabei stellte man nicht die alten Kreise wieder her. Der Kreis Pogegen, der sich ohnehin wesentlich aus den alten Anteilen der Kreise Tilsit und Ragnit zusammensetzte, wurde weitgehend dem Kreis Tilsit-Ragnit zugeordnet. Daneben beließ man es bei der kommunalen Einteilung in den Stadtkreis Memel, den Landkreis Memel und den Landkreis Heydekrug. Die Tilsit gegenüberliegende Gemeinde Übermemel, die bis zur Abtrennung des Memellandes zur Stadt Tilsit gehört hatte, wurde wieder in den Stadtkreis Tilsit aufgenommen.[8]
Viele Litauer sehen in der Okkupation des Memellandes 1923 eine Rückgewinnung litauischen Landes, in der Rückübertragung auf Deutschland 1939 dagegen eine Annexion. Dabei übersehen sie, dass bei einer Volksbefragung 1939 von rd. 150.000 Memelländern nur 585 für Litauen optierten. Auf dem ehemaligen Memeler Stadtfriedhof steht seit 1977 eine Säule, die an die Wiedervereinigung des Memellandes 1923 mit dem litauischen Mutterland erinnert. Es wurde aus einem Grenzpfahl gefertigt, der einst bei Nimmersatt stand.[9]
Im Juli 1940 wurde Litauen in die UdSSR eingegliedert, im Juni 1941 gab es große Deportationen nach Sibirien. Von den etwa 250 000 Juden, die ca. acht Prozent der litauischen Gesamtbevölkerung ausmachten, wurden 6000 – 7000 vom NKWD deportiert. Bereits kurz nach dem Einmarsch der Wehrmacht fanden im Sommer 1941 Hinrichtungen von Juden, Massenerschießungen und gewalttätige Exzesse in 226 litauischen Städten, Kleinstädten und Dörfern statt. Erste Ermordungen jüdischer Zivilisten von deutscher Hand verübte das kurzfristig gebildete Einsatzkommando der Gestapo Tilsit, das den Grenzstreifen von Juden “säubern” sollte und am 26. Juni 1941 im litauischen Grenzort Gargzdai 200 jüdische Männer erschoß. Es folgten Exekutionen in Kretinga und Palanga. Bereits vor dem Einmarsch der Deutschen und in den ersten Besatzungstagen im Juni 1941 hatten über 40 Pogrome von Litauern an Juden stattgefunden. Ab August 1941 gab es auf der nördlichen Seite des deutsch-litauischen Grenzgebietes keine Juden mehr, auf der deutschen Seite existierte ein Konzentrationslager in Heydekrug. Die Insassen mußten Straßenbauarbeiten im Kreis (in den Abschnitten Verdainë – Paðyðë und Paðyðe – Katyèiai) verrichten. Zur Geschichte der Juden im Memelland und in Memel siehe unter http://wiki-de.genealogy.net/Juden_im_Memelland
Am 28 Januar 1945 eroberte die Rote Armee das Memelland. Am 7. April 1948 wurde es in die zur Sowjetunion gehörende Sowjetrepublik Litauen eingegliedert. 1991 erlangte Litauen seine staatliche Souveränität zurück und trat aus der Sowjetunion aus.[10]
Ludwig Jedemin Rhesa, , bis 1796 Martin Ludwig Reehse 1776 – 1840), Konsistorialrat und Dichter, Sammler und Übersetzer litauischer Lyrik (“Prutena”), Verfasser der litauischen Bibel, wurde in Karwaiten auf den Kurischen Nehrung als Sohn eines Strandaufsehers geboren. Karwaiten war ehemals eines der größten Dörfer der Kurischen Nehrung. Noch 1748 wurden Kirche und Schule neu erbaut. Dann wanderte die unerbittliche Sanddüne über das Dorf hinweg. 1791 gaben die Fischer Karwaiten auf. Rhesa wurde früh verwaist und wuchs bei einem Verwandten, dem Präcentor und Pfarrer Wittich in Plaschken, Kreis Tilsit, Kaukehmen im Kreis Niederung und Schwarzort auf der Kurischen Nehrung in litauisch sprechender Umgebung, jedoch bei deutscher Erziehung, auf. Er studierte seit 1795 Theologie in Königsberg, wurde 1800 Garnisonprediger in Königsberg-Friedrichsburg und 1810 Professor der Theologie sowie Direktor des Litauischen Seminars. In dieser Funktion sammelte und übersetze er litauische Lyrik und machte sie im Deutschen bekannt 1829 wurde er Konsistorialrat und Mitglied des Provinzialschulkollegiums. Rhesa stiftete des Studentenheim Rhesanium in Königsberg; 1812 bis 1814 Teilnahme an den Feldzügen in Russland und Frankreich als Brigadeprediger. Werke: 1809 und 1825 “Prutena oder preußische Volkslieder und andere vaterländische Dichtungen”, 1813 “Kriegsgesänge”, 1814 “Nachrichten und Bemerkungen aus dem Tagebuche eines Feldgeistlichen”. Er übersetzte 1818 erstmals Donalitius’ “Jahreszeiten” ins Deutsche und 1825 “Dainos”. Sein Grab befindet sich auf dem alten Friedhof der Domgemeinde am Brandenburger Tor. Zum 200. Geburtstag wurde ihm ein Denkmal aus Nehrungsholz gesetzt: von der Poststraße nach Memel auf der Nehrung zweigt jenseits von Preil, Preila, die Straße nach Perwelk, Pervalka ab. Nach tausend Metern führt auf der Höhe links ein Sandweg zu einer hohen hölzernen Stele, die aus einem kräftigen Stück Nehrungsholz geschnitzt ist und überlebensgroß die Büste Martin Ludwig Rhesas trägt.
[1] Hans.Jörg Froese, Noch vor dem Krieg zurückgegeben, PAZ Nr. 12/09 (21. März), S. 10
[2] Beate Szillis-Kappelhoff, Opr-forum, 28.6.07
[3] Heinrich A. Kurschat, Das Buch vom Memelland, 2. Aufl. 1990, S. 167
[4] Hans.Jörg Froese, Noch vor dem Krieg zurückgegeben, PAZ Nr. 12/09 (21. März), S. 10
[5] Dietrich von Lenski-Kattenau, Vier Generationen wirkten segensreich, Oprbl. Nr. 42/1987, S. 12
[6] Hans-Jörg Froese, Wie das Memelland wieder deutsch wurde, PAZ Nr. 13/09 (28. März), S. 10
[7] Kossert, Ostpreußen, S. 18, Richard Meyer, Heimatkunde des Memelgebietes, Memel 1922, S. 91
[8] Dr. Fritz Brix, Der Kreis Tilsit-Ragnit, S. 76 ff
[9] Kossert, Ostpreußen, S. 18
[10] Uwe Jurgsties, 80 Jahre Angliederung an Litauen? Pr. Allg.Ztg., Nr. 20/03, S. 21, ähnlich: Brigadegeneral Gerd Schultze-Rhonhof, Die Annexion des Memellandes, Pr. Allg. Ztg., Nr. 27/03, S. 5; dto. Nr. 29/03, S. 7
[11] Heinrich A. Kurschat, Das Buch vom Memelland, 2. Aufl. 1990, S. 167
[12] Hans-Jörg Froese, So viel Autonomie wie möglich, PAZ Nr. 8/2013 (23. Februar), S. 10
[13] Bodo Bost, Als die Franzosen im Memelland das Sagen hatten, PAZ Nr. 5/2020 (31. Januar), S. 10
[14] Bodo Bost, Als die Franzosen im Memelland das Sagen hatten, PAZ Nr. 5/2020 (31. Januar), S. 10
[15] Heinrich A. Kurschat, Das Buch vom Memelland, 2. Aufl. 1990, S. 167