Bethel Henry Strousberg (20. 11. 1823 – 31. 5. 1884) erblickte als Bartel Heinrich Strausberg in Neidenburg das Licht der Welt. Seine Eltern, eine alteingesessene Neidenburger Familie, die seit 160 Jahren in der Stadt lebte, betrieben hier ein kleines Exportgeschäft, starben aber sehr früh, und der gerade 12 Jahre alte Waise reiste, da die Eltern offenbar wenig vom ansehnlichen Vermögen des Großvaters hinterlassen hatten[4] , nach London zu seinen Onkeln Gottheimer, den Brüdern seiner Mutter Caroline Strausberg, geb. Gottheimer, die dort durch das gut gehende Im- und Exportgeschäft Behrend Brothers zu Wohlstand gelangt waren. Sie kümmerten sich um den Neffen und der erlernte sehr schnell die Landessprache, anglisierte seinen Namen, ließ sich der besseren Anpassung an die Gesellschaft wegen christlich taufen und absolvierte bei den Onkeln eine kaufmännische Lehre. Der aufgeweckte und bildungshungrige Junge machte sich bald als Journalist selbständig. Er wurde Parlamentsberichterstatter der „Times“, gründete einen Zeitungsverlag, befriedigte damit aber noch nicht seinen Anspruch auf Erfolg im Leben. Den suchte er ab 1855 in Preußen, promovierte 1857 in Jena, wurde Wirtschaftsfachmann[1] und stieg hier rasch zum preußischen Generalvertreter der englischen Versicherungsgesellschaft „Waterloo“ auf.
Auf den umtriebigen Herrn Strousberg wurde ein Konsortium englischer Geschäftsleute aufmerksam, die sich in Zusammenarbeit mit ostpreußischen Unternehmern, Notabeln und Beamten bereit fanden, das Risikokapital für den Bau der 54,1 km langen Eisenbahnlinie Insterburg – Tilsit aufzubringen, aber nach einigen Jahren erfolgloser Bemühungen um eine Konzession von der Arbeitsweise der preußischen Bürokratie irritiert waren: das Geld für die Realisierung des Eisenbahnprojekts sollte durch die Emission von Aktien aufgebracht werden. Die Behörden ließen die Gründung einer Aktiengesellschaft aber erst zu, wenn deren Anteile namentlich gezeichnet und zu 10 % eingezahlt waren. Dieses Risiko schien allen zu hoch.
Bethel Henry Strousberg wußte einen Ausweg: mit dem Bau der Eisenbahn wurde ein Generalunternehmer beauftragt, der sämtliche Kosten der Landbeschaffung, der Planung und der Ausrüstung trug. Dieser wurde je nach Baufortschritt mit Aktien bezahlt, sodass sich die Gründung der Aktiengesellschaft zeitlich streckte und das Risiko der Kapitalgeber immer überschaubar blieb. Das Aktienkapital wurde dabei wesentlich höher angesetzt als für den Bau erforderlich war und der Generalunternehmer erhielt so wenigsten nominal wesentlich mehr als er aufwenden musste. Er konnte die Aktien unter pari an der Börse verkaufen, was anfänglich auf große Resonanz beim spekulationswilligen Publikum stieß, oder sie beleihen oder er konnte seine Einkäufe mit Aktien bezahlen und hatte dennoch genug Spielraum für eigene Gewinne. Formal wurden die Vorschriften der Behörden eingehalten. Bethel Henry Strousberg machte man zum Generalbevollmächtigten mit hohen Provisionszusagen.
Der Bedarf an Eisenbahnlinien war zu jener Zeit noch immens hoch. Das nächste Projekt war der Bau der Südbahn in Ostpreußen von Pillau nach Königsberg und von dort nach Lyck bzw. Prostken mit Stichbahn von Insterburg über Tilsit nach Memel vom 11. 9. 1865 – 1. 11. 1871[2]. Weitere Projekte folgten, wobei Strousberg jetzt die risikoreiche Stellung des Generalunternehmers selbst übernehmen musste, weil sich kein anderer dafür fand. Insgesamt baute Strousberg 23 Eisenbahnlinien in einer Länge von 412,4 Preuß. Meilen.[5]
Bau der Ostpreußischen Südbahn in einzelnen:
Pillau-Königsberg – 46km (Eröffnung1865)
Königsberg-Bartenstein – 58km (Eröffnung-1866)
Insterburg – Tilsit – 19km (Eröffnung(1865)
Bartenstein – Rastenburg – 45km (Eröffnung(1867)
Rastenburg – Lyck – 79km (Eröffnung(1868)
Lyck – Prostken 13 km (Eröffnung 1871)
Gesamt: 260 km[6]
Zunächst ging alles gut, der Eisenbahnbau boomte ungeheuerlich. Eventuelle finanzielle Löcher, die bei einem Projekt auftraten, konnten durch die frischen Mittel eines neuen Projekts gefüllt werden. Um auch an den Gewinnen der Lieferanten zu partizipieren, kaufte Strousberg außerdem noch Eisengruben im Siegerland, Kohlezechen, Eisen- und Stahlwerke wie die Dortmunder Union, die Lokomotiv- und Waggonbaufabrik Egestorff in Hannover (später „Hanomag“), eine Radfabrik, ein Brückenbauunternehmen etc. Zeitweilig beschäftigten seine Unternehmen 100.000 Mitarbeiter.
In wenigen Jahren wurde Strousberg unermesslich reich. Zwar hatte er nicht viel Bares in der Kasse, aber er besaß über 50 Rittergüter mit mehr als 75.000 ha, darunter als Perle die Herrschaft Zbirow in Böhmen und die Herrschaft Groß Peisten im Kreis Pr. Eylau, etliche Industrieunternehmen und eine Reihe von Bahnlinien. Er begann sogar, politisch tätig zu werden und gewann bei den Reichstagswahlen 1868 im Wahlkreis Allenstein-Rößel, wo er für die Alt-Konservativen kandidierte, einen Sitz im Reichstag. Weil er seinen Wählern für den Fall seines Wahlsieges eine Eisenbahn versprochen hatte, wäre er fast wegen ungebührlicher Wahlbeeinflussung disqualifiziert worden. Man beließ ihm jedoch sein Mandat.
Der Reichtum und damit die gesellschaftliche Stellung verflogen genau so schnell wie sie kamen. Das Unglück bahnte sich an mit einem großen Eisenbahnprojekt in Rumänien, das er 1868 in Angriff nahm. Hier wurde von Strousbergs Leuten undiplomatisch und unwirtschaftlich gearbeitet. Strousberg selbst war durch die gleichzeitig in Angriff genommenen zahlreichen Projekte mit straffen Kontrollen des Eisenbahnbaus in Rumänien überfordert. Der deutsch-französische Krieg 1870/71 brachte große Kurseinbrüche an der Börse und hinderte Strousberg, den nach seinem System erforderlichen Verkauf von Aktien und Obligationen zur Deckung der laufenden Kosten erfolgreich durchzuführen. Trotz seines enormen Reichtums war er illiquide und die deutschen Banken, die einen so erfolgreichen Konkurrenten nicht eben förderten, belegten Strousberg mit einer Kreditsperre, die auch Bitten von Bismarck und Kaiser Wilhelm nicht lockern konnten. Als er die vertraglich vereinbarten laufenden Zinsen auf die rumänischen Obligationen, die der Finanzierung des Vorhabens dienten, nicht aufbringen konnte, brach sein Imperium zusammen.
Die Bankiers Bleichröder sowie Hansemann von der Disconto Bank sorgten ab 1872 bei diskretem Schutz der adligen Konzessionäre für eine ordentliche Beendigung des rumänischen Abenteuers, schonten dabei aber Strousberg in keiner Weise. Er mußte seinen wertvollen Besitz an Industrieunternehmen sowie seine Anteile an den Bahnlinien zu unfreundlichen Konditionen an die Disconto Bank abgeben und seinen Immobilienbesitz bis unter das Dach mit Hypotheken belasten. Das machte ihn immer noch nicht ganz arm, so reich war er. Doch er wollte sich mit seinem Schicksal nicht abfinden und versuchte verzweifelt, mit neuen Krediten an alte Erfolge anzuknüpfen.
Das ging schief. In Moskau, wo er einen neuerlichen Millionenkredit der dortigen Commerz-Leihbank nicht bedienen konnte, wurde er 1874 in das Schuldgefängnis eingeliefert und über sein gesamtes Vermögen in Deutschland und Österreich wurde der Konkurs eröffnet. Der Berliner Börsen-Courier bezifferte die Schuldsumme Strousbergs mit 100 Millionen Reichsmark.[3] Alles, was er noch besaß – darunter Rennpferde, eine wertvolle Bibliothek und eine umfangreiche Kunstsammlung, kam unter den Hammer. Unter seinen Gemälden befand sich übrigens auch das 1872 entstandene Max-Liebermann-Bild „Die Gänserupferinnen“, das Strousberg für 1000 Taler gekauft hatte. Dieses erwarb Louis Liebermann, der Vater des Malers, aus der Konkursmasse zurück und vererbte es 1888 der Nationalgalerie, die es heute noch als eine ihrer Attraktionen besitzt. In das Strousbergsche Palais in der Wilhelmstraße zog die Britische Botschaft ein. Nach den Zerstörungen im 2. Weltkrieg bezogen die Engländer an derselben Stelle im Jahr 2000 ihren Botschaftsneubau.
Als Strousberg 1877 aus dem Gefängnis freikam, lebte er noch einige Jahre von journalistischen Arbeiten und träumte von weiteren großen Unternehmungen wie dem Bau eines Verbindungskanals zwischen der Nord- und der Ostsee, bis er am 31. 5. 1884 verarmt starb und auf dem Mathäus-Friedhof in Berlin-Schöneberg in einer schon vorher bezahlten großen Erbbegräbnisstelle beigesetzt wurde . Etliche Zeugnisse aus seinem Leben – Ahnentafel, Taufzeugnis, Heiratsurkunde, Mitgliedskarten, Ordensdiplome, Briefe und Zeitungsausschnitte – schenkte die Urenkelin des Eisenbahnkönigs 1998 der Stiftung Stadtmuseum Berlin und die werden dort jetzt präsentiert.
[1] H.K., Vom Aufstieg und tiefen Fall des Finanzgenies Bartel Heinrich Strausberg aus Neidenburg, Neidenburger Heimatbrief, Pfingsten 1999, S. 23
[2] Aus dem Heimatkreis Niedenburg, Oprbl. Nr. 17/09 (15. April), S. 19
[3] [3] H.K., Vom Aufstieg und tiefen Fall des Finanzgenies Bartel Heinrich Strausberg aus Neidenburg, Neidenburger Heimatbrief, Pfingsten 1999, S. 25
[4] Rudolf Stockert, Strousberg – der Eisenbahnkönig aus Neidenburg, Neidenburger Heimatbrief, Weihnachten 2017, S. 33 ff
[5] Rudolf Stockert, Strousberg – der Eisenbahnkönig aus Neidenburg, Neidenburger Heimatbrief, Weihnachten 2017, S. 43
[6] Kulturzentrum Ostpreußen, Von der Kleinbahn bis zum Hofzug, 2. Aufl. 2023, S. 8