Beitrag von Günter Klepke
Die hier abgebildete Fahrkarte ist ausgestellt für einen Erwachsenen und zwei Kindern – ausgestellt für den 22. Januar 1945 in Elbing. Mein Vater war Eisenbahner, Zugschaffner bei einer Dienststelle in Elbing. Wahrscheinlich hat er die Fahrkartenausgabe am Bahnhof Elbing gebeten, sie für seine Familie auszustellen. Klar war, als Eisenbahner konnte er Elbing mit der Familie nicht verlassen. Unklarheiten gibt es zur Personenzahl. Wir waren drei Kinder und meine Mutter. Mein Großvater, fast achtzig Jahre alt, sollte eigentlich die Flucht mit seiner Tochter Anna, ihrem Mann Otto Neumann und deren Nichte Erika von Hirschfeld aus mit Pferd und Wagen versuchen. In letzter Minute entschied man, mein Großvater sollte die Flucht mit meiner Mutter und uns drei Kindern von Elbing versuchen. So wurde es dann auch gemacht.
Viel zu spät hatten die Behörden den Menschen erlaubt, die Flucht zu beginnen. Es herrschte panische Angst und immer wieder der Glaube, Elbing wird von der Deutschen Wehrmacht gehalten. Am 22. Januar abends soll es noch einen Appell des Kreisleiters der NSDAP gegeben haben, in Elbing zu bleiben. Das war möglicherweise der Grund, dass meine Mutter mit ihrem Vater und uns drei Kindern die Flucht erst einen Tag später, nun also am 23. Januar 1945, begann.
Am 22. Januar 1945 erhielt meine Mutter die Abreisebescheinigung Nr. 8552 der Stadt Elbing. Aus Gesprächen meiner Eltern erinnere ich, im Falle einer Evakuierung soll das Reiseziel die Wohnung der Schwägerin meines Vaters in Berlin-Charlottenburg werden. Das wurde geändert in Neustadt, was ja auch das Reiseziel auf der Fahrkarte ist. Diese Bescheinigung wurde wohl in großer Hast erstellt. So ist der Geburtsort meiner Mutter Drigelsdorf, was nach phonetischer Aufnahme als Folge eines Hörfehlers, Rigelsburg wurde. Die Ziffer 1 wurde durch das kleine i auf der Schreibmaschine dargestellt. Häufiger wurde früher dafür das kleine L benutzt. Warum das angedachte Reiseziel Berlin-Charlottenburg zwar aufgeschrieben, dann aber in Neustadt geändert wurde, ist weiter rätselhaft. So deutet einiges darauf hin, der Vordruck dieser Bescheinigung muss vorbereitet gewesen sein. Zwei Einträge sind mit einem blauen Farbstift gestrichen worden. Andere Eintragungen sind mit einem Kopierstift gemacht worden. Leider sind die handschriftlichen Bemerkungen auf den Seitenrändern nicht mehr zu entziffern. Meine Mutter hatte diese Bescheinigung, zweifach geknickt, mit den Papieren der Familie in ihrem Portemonnaie aufbewahrt. Schon Tage vorher hatten meine Eltern drei Koffer für die Flucht vorbereitet. Als Folge eines Planungsfehlers wurden die Familienpapiere auf zwei Koffer verteilt. So befanden sich in einem Koffer ein Teil der Familienpapiere und das Kaffee-Service meiner Mutter. Mein Großvater war inzwischen bei uns in der Wohnung. Er wirkte gefasst und ruhig. Mein Vater kam jetzt mit der Information, es werden Busse zum Bahnhof eingesetzt. In der nun einsetzenden Aufregung griff meine Mutter nach dem Koffer mit dem Kaffee-Service. Die beiden anderen Koffer blieben stehen. Das Geschenk für mich als knapp siebenjährigen Jungen der letzten deutschen Weihnacht in Ostpreussen, war eine Burg. Wohl nach den Motiven der Festung Kolberg, preussische Zinnsoldaten, farbenprächtig angemalt, verteidigen die Stadt. Diese Burg hatte ich Tage vorher in einem Fenster zur Straße hin aufgebaut. Ich hatte ja schon viel von dem Zeitgeist jeder Tage aufgenommen und quälte meine Eltern häufig mit der Frage, wann ich denn nun endlich in die DJ eintreten könne. Beim Verlassen der Wohnung blieb mein Vater in der Wohnungstür stehen. Er wirkte sehr ruhig und fand tröstende Worte für meine Mutter. Dieses Bild hat sich in meinem Kopf festgesetzt.
Am 23. gegen 13:20h standen wir also an der Bushaltestelle der Tannenbergallee in Nähe der Hausnummer 279 (Spittelhof). Es war die Endhaltestelle dieser Buslinie. Wir waren die einzigen, die einstiegen. Leichter Schneefall. Wir fuhren mit dem Bus zum Bahnhof – er war schwarz von Menschen. Natürlich fragte niemand mehr nach einer Fahrkarte. Das Warten währte Stunden. Schließlich fanden wir Platz in einem geschlossenen Güterwagen. Völlig überfüllt und eine sehr erregte Stimmung: Viele alte Frauen, viele Kinder und eine kleinere Zahl verwundeter Soldaten. Kaum Verpflegung, Milch und Wasser. Viele Frauen mit Säuglingen. Streitereien mussten immer wieder von den Soldaten geschlichtet werden. Die Züge fuhren nach Sicht – alles sehr langsam. Bereits einen Tag später sollen die russischen Truppen die Bahnverbindung westlich Elbings unterbrochen haben. Später bemühte sich die militärische Führung der Russen, die Zivilbevölkerung aus dem Kampfgebiet heraus zunehmen. Vor dem Todesmarsch der Menschen nach Pr. Holland werden wohl andere Leute noch in unserer Wohnung gelebt haben. Elbing wurde am 10. Februar 1945 von der Deutschen Wehrmacht verlassen. Zurück blieben viele Menschen, denen die Flucht nicht geglückt war, viele verwundete deutsche Soldaten und russische Gefangene.
Wir blieben in diesem Zuge bis Stargard oder vielleicht sogar bis Stettin. In Stargard gelang es meiner Mutter, Lebensmittel zu kaufen. In Stettin mussten wir den Zug verlassen. Auch hier war der Bahnsteig schwarz von Menschen. Ein sehr großes Gedränge: zwei Mädchen wurden vom Bahnsteig in das Gleis gedrängt und von einem einlaufenden Zug überfahren.
Ab hier habe ich leider keine rechten Erinnerungen mehr. Ich hatte eine Ruhr-Erkrankung und Fieber.
Unsere Flucht endete im nördlichen Niedersachsen, im Raum Bremervörde. Hier erlebten wir den Einzug britischer Soldaten.
Sechzig Jahre vergingen bis ich den Bahnhof Elbing wieder sah. Diese Fahrkarte ist heute bei meiner Tochter in Australien.
Günter Klepke