Gerdauen

Geschichte von Shelesnodoroshnyj – Gerdauen

• Der deutsche Name des Ortes im Gau Barten leitete sich ab von dem prußischen Stammeshäuptling Girdawe, der Sohn des prußischen Edeln Tulegarde aus dem Geschlecht der Rendalia, der mit seinem Vater freiwillig den christlichen Glauben annahm und der um 1260 hier eine Burg besaß. Diese brannte er nach dem 2. Prußenaufstand 1262, an dem er die Teilnahme auf der Seite seiner Landsleute beharrlich verweigerte, selbst nieder und rettete sich nach Königsberg in den Schutz des Ordens.[1] Girdawe soll vom prußischen „girdin“ kommen, was soviel bedeutete wie „sprechen, reden, Wort halten“. Bald nachdem der Prußenaufstand niedergeschlagen war, erlosch die Sippe Girdawes und das Land fiel an den Orden zurück. Die Siedlung neben der Burg, eine Lischke, soll bereits durch Girdawe angelegt worden sein.[2]

• Der Orden errichtete unter dem Komtur Heinrich von Eysenberg an derselben Stelle am hohen Ufer des Flüsschens Omet ab 1312[3] eine massive Burg, das spätere „Altschloss“, daneben eine Wassermühle. 1315 wurde ein Komtur von Gerdauen namens Johann von Winnungen erwähnt, der wenig später nur noch als Pfleger von Gerdauen amtierte.

• 1336 verheerte Großfürst Kynstut die Gegend um Gerdauen, 1347 wurde die Burg Gerdauen von den Litauern unter Großfürst Olgierd belagert, aber vermutlich nicht eingenommen. Auch in den Folgejahren kam es um Gerdauen herum verschiedentlich zu kriegerischen Scharmützeln mit den Litauern

• Für 1368 wurde Kuno von Hattenstein als Pfleger der Burg Gerdauen genannt. Ab etwa 1360 erfolgte die systematische Erschließung, Vermessung und Absteckung des Gerdauer Landes, das nun planmäßig mit deutschen Siedlern besetzt wurde, sowie die Begründung von einer größeren Anzahl von Gütern wie Skandau, Korklack, Laggarben.[4]

• Als das umliegende Land weitgehend besiedelt war, erhielt auch die Siedlung neben der Burg am Banktin-See am 21. 9. 1398 vom Hochmeister Konrad von Jungingen das Stadtprivileg und feierte somit 1998 ihr 600jähriges Bestehen. Die Bürger lebten von der Landwirtschaft und später auch wesentlich vom Brauereiwesen. Um 1398 staute man die Omet zum Banktinsee auf.[5]

• Um 1406 wurden Arbeiten an der Wehrmauer erwähnt und bald danach die Pfarrkirche errichtet.

• Im Jahr 1428 verlegte man das Dominikanerkloster von Nordenburg nach Gerdauen in den Südteil der Stadt. Es bestand bis zur Säkularisierung in der Reformationszeit

• Im Städtekrieg 1454 – 1466 hielten die Bürger Gerdauens zunächst zu den Aufständischen, während die Burg unter Aßmus von Rysenburg gegen die Ordensfeinde verteidigt werden konnte. Dadurch kam Gerdauen und die Umgebung bald wieder unter die Ordensherrschaft

• Im Jahr 1469 vermachte der Orden unter Hochmeister Heinrich Reuß von Plauen die Stadt Gerdauen mit Burg, die Stadt Nordenburg sowie weitere Dörfer und Güter als Abgeltung für ausstehende Soldzahlungen an die Brüder und Söldnerführer Georg und Christoph v. Schlieben aus Sachsen – zunächst als Pfand, später als erblichen Besitz. Georg von Schlieben war derjenige, der während des 13jährigen Krieges in Alleinstein widerrechtlich die in der dortigen Burg aufbewahrten Wertgegenstände vereinnahmte und die 4 anwesenden Domherren einfach eingesperrt hatte.

• Größere Stadtbrände gab es 1485 (von den Polen verursacht, Wiederaufbau erst 1493), 1585, 1665, 1802.

• Das Dominikanerkloster, das über 20 Mönche gebot, wurde im Zuge der Reformation aufgelöst. Dabei versuchten die Brüder Dittrich und Wilhelm von Schlieben, das Vermögen des Klosters in Höhe von „38 mark löttlich silber“ für sich zu behalten und nicht wie vorgeschrieben an den Landesherrn abzuliefern mit dem Argument, ihre eigene Familie hätte es ja dem Kloster geschenkt. Der Herzog setzte sich jedoch durch und bekam sein Geld.

• 1708 erteilte König Friedrich I. der Stadt Gerdauen die Konzession, 4 Jahrmärkte abzuhalten, den vierten Jahrmarkt jährlich um Bartholomäi. Am Freitag zuvor fand seitdem ein Vieh- und Pferdemarkt statt

• Auch Gerdauen wurde stark von der Großen Pest getroffen. Im Jahr 1710 fanden dadurch 1.027 Einwohner ihr Leben, in den Ämtern Gerdauen und Nordenburg insgesamt 8.113 Seelen[6].

nach der verlorenen Schlacht von Groß Jägerndorf am 30. 8. 1757 wurden die Kosaken zwar gehindert, in die Stadt Gerdauen einzudringen, aber dafür plünderten und verwüsteten sie Schloss Gerdauen, zerhackten die Möbel, schlachteten Vieh in den Repräsentationsräumen und hinterließen Schmutz und Unrat

• Am 11. August 1802 zerstörte ein Großfeuer in Gerdauen 47 Häuser, 2 Speicher, 34 Ställe, 78 Scheunen und etliche Schuppen. Der Brandherd lag beim Nagelschmied Lessner. Beim Wiederaufbau achtete man darauf, die Häuser mit schlichten klassizistischen Fassaden schöner als vorher zu errichten, sie mit der Traufe zum Marktplatz zu stellen und teilweise änderte man auch die Straßenführung.[7]

• 1818 wurde Gerdauen Kreisstadt

• nach dem Emanzipationsgesetz von 1812 siedelten sich auch Gerdauen Juden an. Um 1831 lebten bereits 138 Juden in der Stadt, 1848 waren es 166. Allerdings existierte bis 1945 keine Synagoge[8]

• Eine Choleraepedemie forderte 1867 etwa 100 Opfer unter der Bevölkerung[9]

• Letzter Besitzer der Begüterung Gerdauen aus der Familie von Schlieben war Dietrich Graf von Schlieben (1800 – 1874). Die Schulden, die auf den Gütern lagen, waren hoch, und als Gläubiger auch noch Kapitalkündigungen vornahmen, war die Versteigerung nicht aufzuhalten. 1831 erwarb Conrad Freiherr von Romberg (1783 – 1833) aus Brunn bei Wusterhausen in Brandenburg, seit 1818 verheiratet mit Amalie Konstanze Gräfin von Dönhoff-Dönhoffstädt (1798 – 1879) zunächst die Altschloß-Gerdauenschen Güter und 1833 dann auch die Neuschloss Gerdauenschen Güter

• 1871 Anschluss an das Eisenbahnnetz durch Einbindung in die Hauptstrecke Thorn – Insterburg. Weitere Eisenbahnanschlüsse: 1898 an die Nebenstrecke Königsberg – Angerburg, 1901 an die Linie nach Friedland und Löwenhagen, 1917 an die Kleinbahn Gerdauen – Rastenburg

• Im 1. Weltkrieg fand in der Nähe eine größere Schlacht statt, in deren Verlauf ein Teil der Häuser zerstört wurde. Die Reparaturarbeiten waren 1921 abgeschlossen, wozu die Städte Berlin-Wilmersdorf und Budapest als Paten erheblich beigetragen haben Der Deutsche Werkbund beauftragte 1915 den Architekten Heinz Stoffregen (1879 – 1929) mit dem Wiederaufbau Gerdauens. Er baute die Altstadt nach dem Vorbild mittelalterlicher Städte it Gauben und Erkern wieder auf, und zwar so unauffällig, dass es wie zufällig und organisch gewachsen aussah.[15] Für den Wiederaufbau der Landgemeinden wurde am 15. 10. 1915 der „Kriegshilfsverein im Kreise Teltow für die ländlichen Ortschaften des Kreises Gerdauen“ gegründet.[10] Im August 1917 machte sich Kaiser Wilhelm II. ein persönliches Bild vom Wiederaufbau, der schon gute Fortschritte gemacht hatte.

• Obwohl der Kreis Gerdauen als Hochburg der SPD galt, wurde die Ortsgruppe Gerdauen der NSDAP 1928 als erste vom Führer in Ostpreußen bestätigte Ortsgruppe gegründet.[11]

• Die fast hundertjährige Geschichte der Juden in Gerdauen ist nicht besonders erforscht. Einige jüdische Mitbürger konnten noch rechtzeitig das Land verlassen, die anderen gingen in den Tod. Der jüdische Friedhof in der Nähe der neuen Schule überdauerte – bretterumsäumt – den Krieg, wurde aber unter der sowjetischen Verwaltung beseitigt.[12]

• Auf dem Vorwerk Althof der Begüterung von Alfred von Janson wurde 1936 ein Feldflughafen angelegt, der einer der vielen Ausgangspunkte für die Angriffe auf Polen war. Er spielte aber ab Oktober 1939 keine Rolle mehr. Nach dem Krieg machten die Sowjets aus dem Militärflugplatz ein Barackenlager mit Wachtürmen und Stacheldraht für Gefangene.[13]

• Am 27. Januar 1945 wurde Gerdauen von den sowjetischen Soldaten besetzt, wobei nicht klar ist, ob mit oder ohne Kampf[14]

• Im 2. Weltkrieg kam die Stadt aber relativ unbeschadet über die Kampfzeit, doch nach 1945 riss man viele Gebäude ab, um Baumaterial zu gewinnen. Nur einige Häuser im Norden und Westen der Stadt blieben erhalten.

• Der neue russische Name bedeutet „Eisenbahnort“, denn nach dem Krieg befand sich hier ein großer Bahn-Umschlagplatz von Normalspur zur größeren russischen Spurbreite und Gerdauen war ein bedeutender Grenzübergangspunkt. Erst in den 1990er Jahren nahm der Verkehr hier bemerkenswert ab und wurde 1997 ganz eingestellt.



[1] Wulf D. Wagner, Gerdauen I, S. 38

[2] Wulf D. Wagner, Gerdauen I., S. 48

[3] Wulf D. Wagner, Gerdauen I, S. 547

[4] Wulf D. Wagner, Gerdauen I, S. 40

[5] Wulf D. Wagner, Gerdauen I, S. 49

[6] Wulf D. Wagner, Gerdauen I, S. 78

[7] Wulf D. Wagner, Gerdauen I, S. 106

[8] Wulf D. Wagner, Gerdauen I, S. 115

[9] Wulf D. Wagner, Gerdauen I, S. 141

[10] Wulf D. Wagner, Gerdauen I, S. 166/168

[11] Wulf D. Wagner, Gerdauen I, S. 199 + 205

[12] Wulf D. Wagner, Gerdauen I, S. 208

[13] Wulf D. Wagner, Gerdauen I, S. 223 ff

[14] Wulf D. Wagner, Gerdauen I, S. 234
[15] Nils Aschenbeck, Mehr als nur eine Wohn. Fußnote, PAZ Nr. 46/2018 (16. November), S. 21

Bilder

Literatur

Der Kreis Gerdauen – ein ostpreußisches Heimatbuch

Kultur im ländlichen Ostpreußen. Menschen, Geschichte und Güter im Kreis Gerdauen

von Wulf D. Wagner, Husum Verlag 2008/2009 in Husum, ISBN 13: 978-3-89876-356-1, je 39,95 €
Herausgeber: Heimatkreisgemeinschaft Gerdauen e. V.
Bestellung über: Hans Eckart Meyer, Oberstrasse 28 a, 24977 Langballigholz, Tel.: 04636 8408

Nicht allein mit den Gütern im Kreis Gerdauen beschäftigt sich dieser Band. Wulf Wagner hat in seiner Chronik über den Kreis vielmehr großen Wert auf die Menschen und ihre Geschichten gelegt. Mit dem ersten Teil des Buches über die geschichtliche Entwicklung liegt somit die zurzeit genaueste, umfangreichste und auch anschaulichste Darstellung des Kreises Gerdauen vor. Vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert konnten dabei die Besitzerfolgen vieler Güter lückenlos rekonstruiert werden. Bei den Recherchen traten auch zahlreiche kulturgeschichtlich interessante und spannende Geschichten zutage. Besonders für das 20. Jahrhundert hat Wagner – neben der Nutzung archivarische Angaben – eng mit den Menschen des Landkreises Gerdauen zusammengearbeitet. Eine Vielzahl privater Bilder, Erinnerungen und Geschichten aus ihrem Besitz macht das Buch lebendig und facettenreich zugleich. Ein wichtiges Stück Geschichte wurde so vor dem Vergessen bewahrt.

Dr. Wulf Dietrich Wagner aus Berlin, Jahrgang 1969, Experte für Architekturgeschichte, hat sich jahrelang ausführlich mit Ostpreußen beschäftigt und bereits Bücher über ostpreußisches Bauen und die Güter des Kreises Heiligenbeil in Ostpreußen geschrieben.

(Verlagstext)

“Titanenwerk” sollte man es denn nennen, wenn jemand wie Wulf D. Wagner
ohne institutionelle Unterstützung, als privatgelehrter Einzelkämpfer
binnen eines Jahres fast 1.400 Seiten zum Druck befördert
über die “Kultur im ländlichen Ostpreußen” — exemplarisch dargestellt
in seinem zweiten Band zur Geschichte, den Gütern und den Menschen des
Kreises Gerdauen (Husum Druck- und Verlagsgesellschaft,
Husum 2009, Seiten 717 bis 1382, Abbildungen, 39,95 Euro).
Wie schon zum ersten Band bemerkt (JF 6/09) läßt Wagner die herkömmliche
Regionalgeschichte, die für Ostpreußen nach 1945 in den
Heimatkreis-Büchern der 1960er bis 1980er Jahre versammelt ist, weit
hinter sich. Das gilt zum einen für die Abundanz und Gründlichkeit der
Quellenauswertung.
Hier setzt Wagner schlicht neue Maßstäbe. Das gilt zum andern methodisch
für die Verklammerung von Architektur-, Agrar-, Sozial- und
Kulturgeschichte, die landeshistorisch einen bislang unerreichten
Standard für die Zukunft vorgibt. Und schließlich ist auch die
einzigartige Dichte der Baupläne und Abbildungen zu rühmen.
Um hier nur eins herauszugreifen: die Farbdias, die der junge Joachim
Horn um 1940 von seinem Elternhaus, dem Gut Korellen, gemacht hat.
Hineingezogen ins Interieur des Eßzimmers, hingestellt auf die
blanken Dielen des Wohnzimmers findet der Betrachter wie von Zauberhand
die verlorene Zeit wieder.
Eine Frage bleibt: Wird Wagners Kraft für die großen und lohnenden
Güterkreise Fischhausen, Rastenburg
oder Rosenberg reichen?

(JUNGE FREIHEIT, Nr. 43/09 . 16. Oktober 2009)