Meine Erinnerungen an Ostpreußen

Gerhard Helmstädt berichtet über die Flucht, das Leben nach der Krieg unter den Sowjets und die Verrtreibung aus Ostpreußen

Aufgeschrieben habe ich die Erinnerungen im Februar und März 2001. Einzelne Episoden habe ich in der Vergangenheit oft erzählt. Manchmal wurde mir geraten, das, woran ich mich erinnern kann, einmal aufzuschreiben. Es hat lange gedauert, bis ich mich dazu durchringen konnte. Der Computer hat die Entscheidung dazu erleichtert.

Ab August 1944 hielt ich mich hauptsächlich in Wartenburg bei Popelken bei den Eltern meines Vaters auf. Ich war in die 9. Klasse der Knabenmittelschule in Insterburg versetzt worden, aber im August wurde der Unterricht wegen der Kriegsereignisse und des Lehrermangels nicht wieder aufgenommen. Ich half Opa bei der Arbeit in der Landwirtschaft. Mein Bruder Arno war eineinhalb Jahre älter als ich und bei den Grosseltern aufgewachsen. Er war zum Spatendienst nach Südostpreussen eingezogen worden, so war ich als Hilfe sehr willkommen. Eigentlich wurde ich zu Hause in Georgental bei Insterburg auch gebraucht. Mutti war mit meinem siebeneinhalb Jahr jüngeren Bruder Rudi und dem Polenmädchen Lydia allein auf dem 25 Morgen grossen Hof.

Ich war immerhin 15 Jahre alt und hatte schon einige Erfahrungen in der Landwirtschaft. Nach dem Schulunterricht habe ich z,B. in den Vorjahren gepflügt und geeggt. Ich erinnere mich noch gut, dass ich täglich zur gleichen Zeit mit dem Pflügen aufhörte, Um Schularbeiten zu erledigen. Als ich eines Tages länger als sonst pflügen wollte, um die Arbeit an einem Ackerstück zu beenden, machte unser Hans nicht mit. Das Pferd kehrte sich um und kam auf mich zu. Es machte durch sein Verhalten deutlich, dass Feierabend sei. Mir blieb nichts anderes übrig, als nachzugeben. Am nächsten Tag zur gleichen Zeit sollte wieder Feierabend sein, Aber ich hatte mir Vaters Freund, Herrn Wohlgemuth, bestellt.

Der übernahm nun das Kommando und drehte einige Runden. Das Pferd gehorchte.

Ich machte weiter, und Herr Wohlgemuth ging bis zur Stallecke.

Das Pferd hatte ihn genau beobachtet. Als er nicht mehr zu sehen war, zog das Pferd nicht mehr und drehte sich um. Herr Wohlgemuth schaute um die Ecke und sah, was los war. Als seine laute Stimme von unserem Hof erschallte, erschrak Hans und ging in die Furche. In der Folgezeit hatte ich keine Schwierigkeiten mehr, weil ich dem Hans nun meinen Willen aufzwang, indem ich zu unterschiedlichen Zeiten die Arbeit beendete.

Nun ja, in Georgental wurde ich gebraucht, da konnte ich aber nicht bleiben. Ich hatte auch eine Einladung zum Spatendienst bekommen. Im Juli, zur Zeit des Attentats auf Hitler, war ich zum Panzergrabenbau in Litauen im Raum Wilkowischken gewesen. Nun schon wieder los?

Ich fuhr nach Wartenburg und ging in Popelken zum Arzt. Angeblich hatte ich Bauchschmerzen. Ich nutzte die Erfahrungen, die ich jahrelang gemacht hatte. Oft hatte ich in der Vergangenheit solche Schmerzen auf der linken Bauchseite gehabt, dass ich auf dem Nachhauseweg von der Schule gekrümmt liegen geblieben war und nach Haus getragen werden musste. Die Ärzte waren ratlos. Ein Arzt sprach sogar von Blinddarmreizungen auf der falschen Seite. Der Popelker Arzt glaubte mir und schrieb einen Krankenschein aus.

Ich konnte in Wartenburg bleiben. Zwischendurch fuhr ich auch mal nach Georgental, ließ mich aber am Tage in Richtung Dorf nicht sehen.

Am 18. Januar kehrte ich nach Georgental zurück, um an den Fluchtvorbereitungen teilzunehmen. Wir hatten 10 Soldaten als Einquartierung. Die sollten sich nach Westen zurückziehen.

In östlicher Richtung war Geschützdonner zu hören. Die Front war nicht mehr weit.

Muttis Eltern hatten östlich von Insterburg gewohnt, in Tammowischken gewohnt. Die mussten schon Im Herbst 1944 ihr Dorf verlassen. Aus der Gegend von Mohrungen in Südostpreußen haben sie sich dann gemeldet. Von ihrem Schicksal wissen wir nichts. Die Soldaten boten uns an, mit ihnen auf den Lkws mitzufahren. Wir lehnten ab, weil wir uns mit Opa in Wartenburg verabredet hatten, dort das Kriegsende abzuwarten. Opa hatte im Bruch, nicht weit von seinem Gehöft, ein Versteck vorbereitet. Die Soldaten halfen uns, den Leiterwagen zur Flucht umzubauen. Besonders wichtig waren die langen Weidenruten, die sie vom alten Pregel holten. Sie wurden halbkreisförmig gebogen und am Leiterwagen befestigt und miteinander verbunden.

Der Teppich wurde umgekehrt darüber gespannt, dadurch hatten wir ein Dach über dem Kopf. Noch am Abend und in der Nacht wurde der Wagen schwer beladen, darunter Speck von drei Schweinen. Die Einquartierung hatte unsere Schweine heimlich geschlachtet, dadurch konnten die Soldaten auch leben wie die Maden im Speck. Ich hatte die Schinken zum Räuchern nach Wartenburg mitgenommen, wenn ich heimlich in Georgental gewesen war. Mutti hatte u. a. alle ihre Damenstrümpfe mitgenommen. Die waren hinten am Wagen in einem Sack mit Kleiderbeuteln von Tante Eva angebunden. Ich weiß es deshalb so genau, weil der Sack unterwegs nicht mehr da war. Tante Eva hatte von ihren Sachen etwas gebraucht und nicht mehr richtig alles angebunden. Jedenfalls war der Sack weg, und es gab fürchterlichen Streit. Gut 4 Tage später ließen wir alles stehen. Ich komme noch darauf zurück.

Wir mußten ja deshalb den langen Leiterwagen nehmen, weil auch Tante Eva mit ihren fünf Kindern mitwollte. Tante Eva mit ihren Kindern wohnte schon ein paar Jahre in unserem Haus. Ihr Mann, Onkel Ferdinand, war inzwischen an der Ostfront vermißt. Zuletzt war er Munitionsfahrer gewesen.

Also auf dem Wagen sollten Platz finden: Tante Eva, Erika, Günter, Klaus, Brigitte, Bernd, Mutti, mein Bruder Rudi, unser Polenmädchen Lydia und ich. Am nächsten Morgen ging es los. Im Osten war der Geschützdonner zu hören. Die Rote Armee stand bei Gumbinnen, ca 30 km von uns entfernt. Ich sollte mit dem Fahrrad vorausfahren, um Opa unser Kommen anzukündigen.

Als ich unten an Jucknats war, passierte Schreckliches. Etwa hundert Meter von mir, im Gebüsch am Wasser, waren zwei Militärpolizisten, so genannte Kettenhunde, gerade dabei, zwei Soldaten aus dem Gebüsch herauszuholen. Ich hörte noch den lauten Wortwechsel, konnte aber nichts verstehen. Ich fuhr weiter Richtung Dorf, da fielen Schüsse. Ich sah noch, wie die Soldaten zusammensackten und die Kettenhunde zu ihrem Motorrad eilten. Georgental war gespenstisch leer. Mann und Maus waren auf der Flucht. In Zwion bog ich nach Norden in Richtung Wartenburg ab. Wenn ich doch in westlicher Richtung über Stärkenicken hätte fahren können, die Straße war frei.

Ich wurde am Berg in Zwion von einem zunächst langsam fahrenden Militärlaster überholt. Ich schaffte es, ohne daß mich der Fahrer sah, hinten rechts anzubammeln. Als das Fahrzeug kurz vor Gr. Schunkern war, hielt das Fahrzeug abrupt, so daß ich beinahe gestürzt wäre. Nun hörte ich den Tiefflieger auch, weswegen der Fahrer gehalten hatte. Die beiden Soldaten aus dem Fahrzeug hatten die Beine in die Hand genommen und rannten auf einen Schützengraben am Straßenrand zu. Ich hinterher. Ich sprang in den Graben, da spritzte die Erde von den Salven der Bordwaffe in mein Gesicht. Das war noch einmal gut gegangen. Die Soldaten stiegen in ihr Fahrzeug, ohne mich zu beachten. Ich fragte auch nicht, ob sie mich mitnehmen würden. Lieber fuhr ich allein mit dem Rad, so würde ich vielleicht nicht von Fliegern gesehen werden.

In Sprakten mußte ich über eine baumlose Fläche. Als ich den Tiefflieger sah, blieb mir nichts anderes über, als mich hinzuwerfen. Auf dem Rücken liegend, konnte ich den Piloten beobachten, wie er die Gegend absuchte. Es waren kleine wendige Maschinen. Alles, was sich bewegte, wurde beschossen. Kaum war eine Maschine weg, kam die nächste. Bis ich den nächsten Baum erreichte, mußte ich mich mindestens zweimal hinwerfen. Solche Tieffliegertätigkeiten gab es nur in unmittelbarer Frontnähe. Die Front muß schon bei Popelken, wenige Kilometer nördlich, gewesen sein.

Ich fuhr nun weiter Richtung Wald, wo Opa wohnte. Der Ort war wie leergefegt. Nur in der Luft kreiste nach wie vor ein Tiefflieger. Hier und da brannte es. Auf einem der Nachbargehöfte wurde gerade ein Dreschkasten in Brand geschossen. Vielleicht wurde er vom Piloten als Panzer wahrgenommen. Schon von weitem sah ich, daß im Bruch etwas brannte. Rauch stieg auf.

Als ich bei Opa und Oma ankam, waren die bei der Vorbereitung zur Flucht. Also nichts mit Bruch, nichts mit Abwarten des Kriegsendes. Warum machten wir denn nur den großen Umweg?

Opa hatte eingesehen, daß sein Plan für die Katz war. Sein Versteck im Bruch brannte, die Russen hatten es aus der Luft ausgemacht und in Brand geschossen. Die Nachbarn waren alle weg. Nun tat ihm alles leid. Am frühen Nachmittag kam unser Wagen an. Sie waren heil durch das Tiefflieger- gebiet gekommen. Der Wagen wurde rückwärts in die Scheuneneinfahrt geschoben, damit die kreisenden Tiefflieger ihn nicht sehen. Am späten Abend fuhren wir dann mit zwei Wagen durch den Wald über Weidlacken Richtung Gr. Schirrau. Unterwegs übernachteten wir in einem verlassenen Forsthaus. Opa kannte sich aus. Hier im Waldgebiet hatte er als Haumeister gearbeitet und war herumgekommen. Am nächsten Tag erreichten wir die Straße Tilsit – Taplacken. Die Straße war so verstopft, daß wir nicht raufkamen, nicht raufgelassen wurden. Opa wollte erreichen, daß beide Fahrzeuge zusammenbleiben. Es dauerte eine ganze Weile, bis ein Wagen stehen blieb und unsere beiden Wagen hineinließ.

Es ging kaum voran. Von Zeit zu Zeit tauchten Tiefflieger auf, die den Flüchtlingstreck angriffen, allerdings waren mittendrin auch Militärfahrzeuge.

Wenn wir an die Stelle kamen, wo wir Angriffe beobachtet hatten, standen rechts und links von der Straße geschobene Fuhrwerke, damit andere weiterfahren konnten. Die Pferde lagen tot oder verwundet daneben. Frauen, alte Männer und Kinder standen weinend herum. Ob es viele Opfer gegeben hatte, konnten wir nicht sehen, ich schaute auch nicht so genau hin. Jedenfalls kamen wir einfach nicht richtig voran. Es war sehr kalt, so um die minus 20 Grad C. Für die Kinder war es besonders schlimm. Wenn der Treck stand und keine Tiefflieger zu hören waren, konnten sie sich durch Herumtoben neben der Straße im tiefen Schnee ein wenig erwärmen. Tante Evas jüngster Sohn war erst 2 Jahre alt, der mußte auf dem Wagen warm eingepackt ausharren. Am Abend fuhren wir auf ein Gehöft, wo schon andere Flüchtlinge Rast gemacht hatten. Einheimische waren auch hier längst weg. Die Pferde wurden mit Futter und Wasser versorgt. Aus der Scheune holten wir Stroh, brachten es in ein halbwegs leeres Zimmer. Man glaubt gar nicht, wie viel Personen, wenn auch zum Teil Kinder, in einem Raum unterkommen. Ich hatte ein weiches Plätzchen.

Am 21. Januar kamen wir abends an die Straße Insterburg – Königsberg. In Taplacken war einfach nicht auf die Hauptstraße zu kommen! Jetzt wußten wir auch, warum wir bisher nicht schneller vorangekommen waren. Nach mehreren vergeblichen Versuchen klappte es doch. Opa, der voran fuhr, mußte darauf achten, daß wir mit dem zweiten Wagen nicht etwa zurückbleiben. Nachts wollten wir Pause machen. Die Pferde mußten getränkt werden. Die Höfe standen überall voller Wagen. Andere waren uns zuvorgekommen.

Endlich konnten wir an einer breiten Auffahrt die Straße verlassen. Opa ging ins Haus, wir blieben am Wagen. Im dunklen Flur traf er auf ein Mädchen, das eine Zimmertür bewachte. Opa fragte nach Wasser für die lieben Pferde. Das Mädchen wußte es nicht. Die Mutter, die das wüßte, müßte sich ausruhen. Opa sah das ein und wandte sich ab. Dem Mädchen war die Stimme so bekannt vorgekommen, und nun erst die Gestalt!

Plötzlich fragte das Mädchen: ” Opa, bist du es?” Er war es. Das Mädchen war unsere liebe Marga, die den Schlaf ihrer lieben Mutti bewacht hatte, Opas einzige Nichte, meine allerliebste Cousine Gutti, wie sie von Opa, als sie klein war, genannt wurde. Als ich Marga auf ihrer Konfirmation Ostern 1943 Gutti nannte, wurde ich nach draußen zitiert. Unter Androhung von Prügel sagte Marga mit einem todernsten Gesicht, mir läuft heute noch ein Schauer über den Rücken, sie hieße Marga und damit basta. Wehe ich sage noch einmal Gutti! Zaghaft wollte ich auch einen anderen Namen, etwa Fritz oder August, aber nixda, basta! Dabei war Gutti ein doch so schöner Name! Marga, wer heißt schon Marga?

Des Menschen Wille, sein Himmelreich. Also nannte ich sie fortan sicherheitshalber Marga.

Tante Frieda, Marga, ihr Bruder Reinhold und die Oma, waren früher aus Gutfließ, einem Nachbarort von Wartenburg, abgefahren. Und nun trafen wir uns nach über zwei Tagen Flucht zufällig mitten in der Nacht auf einem uns völlig fremden Bauernhof. Zufälle gibt es! Nachdem am nächsten Morgen Tiere und Menschen versorgt waren, ging es mit drei Wagen weiter. Zuerst fuhr Opa, dann Tante Frieda mit Marga, den Schluß machten wir.

Diese Reihenfolge sollte bald von Bedeutung sein. Gegen Mittag erreichten wir eine Kreuzung vor Tapiau. Links standen Militärfahrzeuge, die nicht auf die Hauptstraße nach Tapiau konnten, weil der Treck nicht vorankam. Nun hatten sich Ordner der Kreuzung bemächtigt und schickten ein Fahrzeug nach rechts, ein Fahrzeug geradeaus, ein Fahrzeug nach rechts, ein Fahrzeug geradeaus, Opa nach rechts, Tante Frieda mit Marga geradeaus. Tante Frieda wollte aber nach rechts, ihrem Vater und ihrer Mutter hinterher! Nichts da, hieß es, hier bestimmen wir, und die Regulierer hoben ihre Maschinenpistolen und zwangen so Tante Frieda geradeaus zu fahren. Wir wieder durften nicht geradeaus fahren, denn da lag Tapiau, dahinter Königsberg, wir mußten rechts abbiegen, parallel zur Front. Da hatten wir uns in der Nacht zufällig vereint, jetzt wurden wir wieder auf grausame Weise getrennt. Erst Jahre später erfuhr ich, daß Marga mit ihren Lieben nur bis Königsberg gekommen war.

Wir kamen nicht weit. Es ging einfach nicht voran. Rechts und links von uns schlugen Granaten ein. Die Front war nur wenige Kilometer entfernt. Die deutschen Truppen leisteten hier keinen Widerstand. Deutsche Soldaten gingen neben den Wagen der Flüchtlinge teils ohne Waffen einher. Waffen, so meinten sie, würden ohnehin nichts mehr nützen. Sie könnten ohne Waffen sich schneller von den Russen absetzen und würden, sollte der Russe sie überraschen, vielleicht nicht gleich erschossen werden. Den Kettenhunden wüßten sie schon auszuweichen, die hielten einen noch größeren Abstand zur Front.

Da der Beschuß stärker wurde, spannten die meisten ihre Pferde aus und ließen sie laufen. Was sollte man machen, wir ließen unsere Pferde auch laufen und suchten im nächsten Haus Schutz. Die Nacht konnten wir nur sitzend verbringen, soviel Leute waren im Haus. Am Morgen pfiffen die Granaten über unser Haus hinweg. Im Laufe des Vormittags verließen wir das Haus und suchten am Giebel Schutz, allerdings ohne Tante Eva mit ihren Kindern. Sie fühlten sich im Haus sicherer. Inzwischen beobachteten wir, daß leichtere Artillerie oder Panzer gezielt auf Häuser schossen, denn einige wurden getroffen. Von dem Haus, in dem noch Tante Eva war, kam das halbe Dach herunter. An unserem Giebel ging oben eine Tür auf und Tante Eva schrie um Hilfe. Die Kinder weinten. Ich suchte schnell eine Leiter, fand eine in der Scheune und legte sie an die Luke an.

Völlig mit Ziegelstaub bedeckt, wie Indianer auf dem Kriegspfad, kam einer nach dem anderen herunter. Bernd und Brigitte mußten getragen werden. Besonders im Gesicht sahen alle, es waren auch Fremde da oben gewesen, wie echt maskiert aus, außer Augen und beim geöffneten Mund war alles rot oder rötlich, wie Ziegelstaub eben.

Wir wollten jetzt so schnell wie möglich weiter. Wir ließen alles zurück, nur was wir anhatten, einiges hatte jeder doppelt angezogen, damit man es bei sich hat. Nördlich von uns war eine Straße, die von Ost nach West führte, an den Straßenbäumen zu erkennen. Dorthin strebten wir. Überall standen Pferdewagen, auch hier war die Straße verstopft. Wir überquerten die Straße. Oh Schreck, von rechts kamen Panzer, sie rasselten heran, wurden immer bedrohlicher. Wir entfernten uns 10 oder 15 Meter von der Straße und warfen uns in den Schnee. Ich hatte vor Aufregung einen Handschuh verloren und die Mütze war mir vom Kopf gefallen. Obwohl es sehr kalt war, fing ich an zu schwitzen.

Nur wenige Meter von uns rollten die Panzer vorbei, begleitet von in weiße Pelze gehüllter russische Infanterie, mit einer Pelzmütze als Kopfbedeckung. Aus den jeweiligen Luken schaute ein Panzerfahrer heraus. Sie schienen keine Angst zu haben, daß Deutsche auf sie schießen könnten. Ich beobachtete die Russen genau und mußte feststellen, daß sie wie normale Menschen aussahen, wie du und ich. Was hatte ich doch durch die Propaganda der Nazis für Vorstellungen vom Aussehen der so genannten Untermenschen bekommen. Auf Plakaten sahen die so genannten Bolschewiken wie Neandertaler mit einem Messer zwischen den Zähnen, wie Menschenfresser oder was weiß ich aus. Die Angst blieb, denn was wir nun sahen, war entsetzlich.

Zivilisten, wahrscheinlich polnische Zwangsarbeiter, zerrten einen Mann zu den Russen. Als dem Mann der Mantel heruntergerissen wurde, kam eine Polizeiuniform zum Vorschein. Die Polen müssen ihn schwer beschuldigt haben, denn der Polizist wurde zur Seite geführt und erschossen. Wenn unser Dorfpolizist Dorka von unserem Polenmädchen erwischt worden wäre, wäre es ihm wohl nicht anders ergangen. Unser Polenmädchen hatte allen Grund, den Dorka anzuklagen. Mehrmals hatte er mit dem Gummiknüppel auf sie eingeschlagen, einmal sogar, als sie auf der Wiese beim Melken war. Durch einen Spalt in der Scheunentür konnten wir, meine Mutti und ich, genau sehen, wie er mehrmals zuschlug. Wir haben nie erfahren, warum unser Polenmädchen Schläge bekam. Helfen konnte Mutti nicht, also schwieg sie.

Nachdem die Vorhut der Russen weiter gezogen war, suchte ich meine Mütze und den Handschuh, jetzt brauchte ich beides wieder. Wir gingen zurück zu den Wagen. Jetzt trafen immer mehr Russen ein, die die Häuser durchkämmten. Um uns auf der Straße kümmerten sie sich noch nicht. Als wir unsere beiden Wagen erreichten, staunte ich nicht schlecht. Ich hatte unser Polenmädchen ganz vergessen. Lydia war offensichtlich bei den Pferden geblieben. Kann auch sein, daß sie uns plötzlich nicht mehr gesehen hat. Opa und auch wir spannten jeweils unser Pferd an und fuhren auf einen großen Bauernhof. Oder war es ein Gut? Egal, es wurde schon dunkel.

Die Russen waren mir unheimlich. Nur runter von der Straße war die einhellige Meinung gewesen. Opa und ich brachten die Pferde in den Stall und versorgten sie. Wir hatten selber Hafer mit, aber Futter war genügend vorhanden. Opa wollte die Pferde noch tränken, ich sollte ins Haus gehen. Ich fand alle in einem Raum versammelt, nur das Polenmädchen fehlte. Lydia hatte sich verraten, daß sie Russisch kann. Sie wurde als Dolmetscherin gebraucht.

Lydia stammte aus Grodno, das nach dem ersten Weltkrieg wieder zu Polen gehörte, wie auch weite Gebiete jenseits des Bug. Lydia war Germanistikstudentin in Grodno gewesen. 1939 wurden die Gebiete östlich des Bug auf Grund des Hitler – Stalin – Paktes wieder von den Russen besetzt, wie schon bei den Teilungen Polens am Ende des 18. Jahrhunderts. Lydia hatte bis zum Sommer 1941, als die deutschen Truppen ostwärts zogen, wohl ganz gut Russisch gelernt.

Unser Polenmädchen bis Ende 1942, Natascha, stammte aus Bialystok im Nordosten Polens. Ihre Mutter war schon über 60 und schwer krank. Natascha hat viel geweint und wollte nach Hause. Sie konnte aber nur zu ihrer Mutter nach Polen, wenn im Austausch sich ein anderes Mädchen bereiterklärte, in Deutschland freiwillig Zwangsarbeit zu leisten. Unsere Lydia war eine von den Polinnen, die Ende 1942 in Insterburg ankam, um Natascha abzulösen. Mutti und ich haben Natascha mit ihrem wenigen Gepäck, darunter Geschenke von Mutti, mit dem Pferdewagen zum Bahnhof nach Insterburg gebracht. Es sollten ungefähr 10 Polenmädchen ausgetauscht werden. Es war alles so organisiert, daß Natascha unmittelbar nach dem Austausch in Begleitung der Organisatoren abreisen sollte. Unsere Natascha war so um die Vierzig, die angekommenen Polinnen alle jung, Anfang Zwanzig. Auf einmal war Lydia unser Polenmädchen.

Ich habe das gar nicht mitgekriegt oder weiß das heute nicht mehr genau. Lydia sprach Mutti und mich in gutem Deutsch an, das war schon mal gut. Mit Natascha war die Verständigung die meiste Zeit schwierig gewesen. Am späten Abend brachten die Russen Opa. Lydia war die Dolmetscherin.

Die Anwesenden wurden gezählt. Uns wurde gesagt, daß wir das Haus nicht verlassen dürften. Die Posten hätten Befehl, auf jeden zu schießen, der die Parole nicht nenne. Man sah, daß die anderen Räume auch kontrolliert wurden.

Opa wollte unbedingt weg. Er hatte Angst, daß die Russen ihn mitnehmen könnten. Er sah jünger aus als er war. Oma wollte, daß er bleibt. Nach den Kontrollen ließ sich Lydia bei uns sehen. Opa bat sie, ihm zu helfen, in den Stall zu kommen. Lydia wollte erst nicht, aber dann konnte er mit hinaus, sie kannte die Parole.

Am nächsten Morgen war Opa nicht mehr da, das Pferd auch nicht. Auch Opas Wagen war weg. Ob er ihn abends noch hatte vom Hof fahren können oder ob er gestohlen worden war, wußten wir nicht. Oma hatte auch viele Sachen doppelt an, mehr brauchte sie nicht. Zu essen war genug da. Gut, daß Opa die Sachen schon nach Hause bringen würde, so nahmen wir an.. Lydia mußte bei ihren neuen Herren bleiben, war aber manchmal noch am Eingang zu sehen. Sie hatte alles unter Kontrolle. Ich spannte an, wir fuhren vom Hof. Nur die kleinen Kinder saßen auf dem Wagen. Es war wieder saukalt. Wir fuhren in die Richtung, das heißt, wir wollten fahren, woher wir gekommen waren. Nun verstopften die Russen die Straße. Größere und kleinere Kanonen wurden von Vier- oder Zweispännern gezogen. Ein Gespann stand, die anderen fuhren vorbei, wir mußten warten.

Wir waren etwa 100 Meter von unserem Nachtquartier entfernt. Obwohl wir uns von Lydia herzlich verabschiedet hatten, stand sie noch an der Toreinfahrt und beobachtete uns. Die Russen von dem stehenden Gespann sahen uns, kamen über die Straße und spannten unser Pferd aus. Ich begriff das nicht. Da kam auch schon Lydia uns zu Hilfe. Sie sprach auf die Russen ein, die hörten gar nicht hin, stießen Lydia zur Seite. Dann spannten sie eines ihrer Pferde aus und unseren Hans an. Sie hatte doch etwas erreicht. Sie brachte uns das Pferd der Russen . Gemeinsam spannten wir das fremde Pferd an. Die Straße war inzwischen frei, denn das Gespann mit unserem Hans hatte sich in die Kolonne eingereiht. Ich sagte Hü, aber das Pferd verstand kein Deutsch. Ich benutzte die Peitsche, aber das Pferd reagierte nicht. Alle schauten mich an und wunderten sich, daß ich nicht mehr fahren kann. Ich stieg ab und versuchte das Pferd zu ziehen. Alle schoben nun den Wagen, so daß das Pferd nur die Beine setzen brauchte. Auch das wurde nichts.

Es war wie gesagt sehr kalt, also schauten wir uns um, wo das nächste Haus steht. Wir spannten das Pferd aus und ließen es stehen. Wir gingen vielleicht 100 Meter weiter in das Haus, das wir uns ausgekuckt hatten. Vom Wohnzimmer aus konnte ich die Straße gut überblicken. Was sah ich da? Unser Wagen war besetzt! Auf der Deichselseite, also vorne, schaute nur noch der Hintern von einem Russen heraus, der den Wagen plünderte. Eins nach dem anderen flog heraus und wurde von anderen untersucht. Ich kuckte weg, da fiel mir ein, daß wir nichts zum Essen mitgenommen hatten, kein Brot, keinen Speck, keine Wurst, nichts. Daß auch niemand daran gedacht hatte! Hat das Gehirn bei der Kälte nicht funktioniert? So kalt war es auch wieder nicht. Wie konnte das passieren!

In dem Raum waren mehrere deutsche Familien, die Brot, Wurst und Speck auspackten und anfingen zu essen. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, ich bekam echt Hunger. Es waren nach dem Frühstück durch das Durcheinander schon einige Stunden vergangen. Die anderen hatten gegessen und fragten uns verwundert, ob wir keinen Hunger hätten. Ich habe Hunger, sagte nicht nur ich, aber wir hätten doch nichts. Alles wäre auf dem Wagen geblieben, den hätten die Russen geplündert. Nun packten alle ihre Schätze wieder aus und gaben uns Brot und Speck, bis wir dankbar dankten. Wir konnten nicht einmal sagen, daß wir uns revanchieren würden.

Gegen Abend kamen Russen und musterten uns. Dann wollten sie Uhri, Uhri haben und zeigten auf den Arm. Mutti und Tante Eva hatten Uhren am Arm, sie hatten die nicht versteckt, so konnten sie ihnen abgenommen werden. Meine Uhr hatte ich zufällig in der Hosentasche, so behielt ich sie. Die anderen hatten keine Uhren, die hätten ihnen andere Ruskis abgenommen. Sie fuchtelten mit den Armen herum und zeigten nach draußen. Das müssen die Russen verstanden haben, denn sie entfernten sich. Ich habe mich nur gewundert, wozu die so viele Uhren brauchten, denn die, die zu uns ins Zimmer gekommen waren, hatten schon jeder mehrere Uhren an den Armen. Mutti hatte jetzt Angst um ihren Ehering. Sie ahnte, daß Russen auch nach Ringen fragen und suchen würden. Es dauerte gar nicht lange, da kamen andere Russen, die nach Uhren, und tatsächlich auch nach Ringen suchten. Taschen wurden abgenommen und ausgeschüttet, Sachen durchwühlt. Was man alles über sich ergehen lassen mußte! Mutti hatte ihren Ring gut versteckt, den fanden die Russen nicht. Am nächsten Tag zogen wir zu Fuß weiter. 10 Personen, wenn man die Kinder auch so nennt. Für die beiden Jüngsten hatten wir einen Schlitten gefunden, der mal von dem einen, dann mal von einem anderen gezogen wurde.

Da es auch tagsüber immer noch kalt war, machten wir bald Rast. Wir wählten uns ein hübsches Häuschen etwas abseits von der Straße aus.

Ich durchsuchte das Haus vom Keller bis zum Boden. In der Räucherkammer hingen Dauerwürste und Speck. Im Keller waren reichlich Kartoffeln. In der Speisekammer fanden die Frauen Eßbares. Nach Tagen wurde wieder richtig gekocht. Wir hatten seit dem 19. Januar kein warmes Essen mehr gesehen. Es war mindestens der 25. Januar. Inzwischen hatte ich in den Räumen, die wir nutzen wollten, Feuer gemacht. Die Räume waren schon sehr ausgekühlt. Am Abend ging es dann schon. Die Öfen waren sehr heiß und in der Nähe der Öfen konnte man es aushalten.

Abends wurden Weckgläser mit Wurst geöffnet. Brot war vorhanden, aber schon betrocknet. Man konnte auch Pellkartoffeln dazu essen.

Ach ja, im Hühnerstall waren noch tatsächlich Hühner. Die Stalltür hatten die Besitzer des Hauses vor der Flucht geöffnet und Getreide in großer Menge hingeschüttet. Wasser war eingefroren, die Hühner pickten Schnee. Das habe ich auch woanders gesehen. Wir hatten Eier für Setzeier, Flinsen, gekochte Eier. Mutti, Oma und Tante Eva waren bei einem Brutzeln und Braten. Sie dachten an den nächsten Tag. Leider sahen wir kein Pferd, so mußten wir am nächsten Morgen zu Fuß weiter. Ich hatte einen Ballen Stoff für Nachthemden und Unterhemden, Barchent, gefunden und mußte den dafür, daß ich den gefunden hatte, mitschleppen. Ich hatte den Ballen mit einem Schal an beiden Enden verbunden, so daß ich den Ballen quer über den Rücken wie ein Gewehr tragen konnte. Mutti hatte die Idee, daraus Nachthemden zu nähen. Ich komme vielleicht darauf zurück.

Wir wollten nach Wartenburg, wo uns Opa erwarten wollte. Wären wir man gleich, wie es geplant war, in Wartenburg geblieben. Es wäre uns wahrscheinlich viel erspart geblieben. Das kann man eben im Nachhinein sagen. Jedenfalls gingen wir wieder die Straße entlang, die wir auf dem Pferdewagen gefahren waren, nur in entgegen gesetzter Richtung. Es war viel Betrieb auf der Straße. Wir kamen nicht recht voran. Russische Militärfahrzeuge überholten an die Front marschierende Einheiten und drängten uns manchmal in den Straßengraben. Zum erstenmal sahen wir schwer bewaffnete “Flintenweiber”, wie die weiblichen Soldaten in der russischen Armee von uns genannt wurden. Plötzlich war der Begriff da. Sie waren ernster als die Männer und blickten uns böse an.

Als einige müde wurden und nicht mehr recht laufen wollten, machten wir abseits der Hauptstraße Quartier. Alles wiederholte sich wie am Vortag. Es wurde eingeheizt, Essen gekocht, die Räume durchstöbert, Stroh aus der Scheune geholt. Auf Stroh schlief es sich gar nicht schlecht. Am nächsten Tag erreichten wir Taplacken, wo wir am 21.1.Tante Frieda, Marga und Reinhold ganz überraschend getroffen hatten. Hier durften wir nicht weitergehen. Russische Soldaten forderten uns gestikulierend auf, in ein Gebäude zu gehen. Es war die Schule. Wenn auch viele Kinder dabei waren, war nicht an Unterricht gedacht. Ganz und gar nicht! Wir sollten interniert werden, oder wie man das nennt, wenn man eingesperrt wird. In einem großen Klassenzimmer waren schon ca 15 Frauen und Kinder, wir kamen mit 10 Personen hinein. Laufend kamen Frauen, Kinder und Männer dazu. Der Raum wurde so voll, daß man gerade noch Platz zum Sitzen hatte. Wenn jemand in der Nähe aufstand, konnte ich mich auf dem nackten Fußboden auch mal ausstrecken. Tante Eva war mit ihren Kindern in den hinteren Teil des Raumes abgedrängt worden, wir waren in der Nähe der Schultafel an der Wand eingezwängt. Ich wußte manchmal nicht, wo ich die Beine lassen soll, wenn jemand sich streckte. Mutti, Oma und Rudi hatten es nicht besser. Was das noch werden sollte! Wenn man auf die Schultoilette mußte, trat man schon mal auf Körperteile von anderen. Mit der Zeit standen manche lieber auf. Wir an der Wand hatten das Problem nicht, dafür hatten wir einen weiteren Weg zur Tür über Beine und Körperteile hinweg.

In der Nacht konnte ich kaum schlafen. Mit der kalten Wand kam ich nicht in Berührung, denn ich konnte die lange Stoffrolle benutzen, von der Mutti auch profitierte. Eßbares hatte jede Familie dabei, denn am Abend gab es nichts. Ich hatte auf der Toilette Wasser getrunken, die Wasserversorgung war in Ordnung . Das wurde weitergesagt. Am Morgen gab es warme Getränke, die von anderen Deutschen gebracht wurden. Jeder bekam auch ein Stück Brot. Es schmeckte anders als unser Brot. Es hatte eine dünne schmackhafte Kruste, innen war es weich und feucht. Das fiel einem gleich auf. Wir und auch Tante Eva hatten Reserven. Mutti hat der einen oder anderen Frau ein bißchen abgegeben, wenn sie sah, daß die nichts hatten. Irgendwann bekamen wir auch Kohlsuppe, Mehlsuppe oder Brei. Nur im Hellen durften wir auf die Toilette, dann nicht mehr. Das wurde einem Mann zum Verhängnis. Ich berichte davon gleich.

Nachts durften nur Frauen hinaus, wenn sie von Russen geholt wurden. Die Russen, meist kamen sie zu zweit, leuchteten mit ihren hellen Taschenlampen in den Raum. Wenn sie glaubten, ein Opfer entdeckt zu haben, stiefelten sie über die Sitzenden oder manchmal auch Liegenden hinweg. Dann hörte man “Frau, komm! Frau komm! ” Sie hatten diese Worte schon gelernt. Die Frauen oder Mädchen gingen mit, was sollten sie sonst tun. Manchmal wiederholte sich das in der Nacht.

Es kam vor, daß die eine oder andere Frau freiwillig mitging, um jungen Frauen oder Mädchen die Vergewaltigung zu ersparen. Den Russen war das egal. Eines Abends forderten mich zwei Frauen auf, an den Tisch zu kommen, der in der Nähe der Tür stand. Ich war groß und schlank und mit meinen 15 Jahren der älteste Junge. Sie forderten mich auf, unter den Tisch zu kriechen. Gehorsam, wie ich war, kroch ich unter den Tisch. Als wieder zwei Russen in den Raum kamen, stellten sich die beiden Frauen vor den Tisch. Das müssen sie so auffällig gemacht haben, daß die Russen neugierig an den Tisch kamen, die Frauen zur Seite schoben und mich musterten. Nun wurde ich mit “komm, komm” aufgefordert, mitzugehen, was ich auch ohne weiteres tat. Im Flur leuchteten sie mir ins Gesicht und brachen in schallendes Gelächter aus. Im Schein der Lampe sah ich, daß es junge Soldaten waren. Mit mir wußten sie nichts anzufangen und schickten mich zurück. Ich hatte Glück, daß sie mich nicht verprügelt haben. Das hätte ich auch überstanden.

Jedenfalls hatten die Frauen erreicht, daß sich in dieser Nacht kein Russe mehr sehen ließ. In dieser oder der nächsten Nacht mußte einer der Männer, der mir mit eigenartigem Verhalten aufgefallen war, auf die Toilette. Man hörte, wie er im Dunkeln in Richtung Tür ging, weil einige schimpften. Er hatte sie getreten. Als er an der Tür war, klopfte er laut. Die Tür wurde geöffnet, die Russen leuchteten ihn an. Er wollte vorbei, sagte warum, aber die Russen verstanden ihn nicht. Er wurde in den Raum zurückgestoßen. Er versuchte nun wohl, seinen Platz im Dunkeln zu finden. Wieder gab es Proteste. Er konnte wohl sein Wasser nicht mehr halten. Anstatt jetzt in die Hosen zu pinkeln, forderte er die um ihn Sitzenden auf, aufzupassen. Ich hörte noch, wie er sagte: ” Paßt up, ick pöß”. Kurz danach hörte man deutlich, wie er strullte. Die Kinder und Frauen um ihn herum kreischten und schrien, weil sie von dem Urinstrahl getroffen worden waren. Bei dem Tumult ging die Tür auf, die Frauen schimpften und stießen den Mann Richtung Tür. Die Russen sahen wohl, was passiert war und nahmen den Mann mit. Kurze Zeit später hörten wir eine Maschinenpistolensalve. Ob er wirklich erschossen worden ist, weiß ich nicht. Er kam jedenfalls nicht wieder. Die bestimmt noch naß von dem Urinstrahl waren, sagten keinen Piep. Müssen die gestunken haben, und sie konnten sich nicht einmal waschen!

Wir waren wohl 5 oder 6 Tage in Taplacken, dann konnten wir gehen.

Wir kamen an die Straße nach Tilsit und versuchten, so weit wie möglich zu kommen, denn nach Wartenburg war es nicht mehr weit. Am Nachmittag machten wir auf einem Gehöft auf der rechten Seite der Straße Rast, nachdem ich mir die Räucherkammer angesehen hatte. Auch hier müssen die Eigentümer überhastet geflüchtet sein, denn wir fanden alles, was wir brauchten. Es sah so aus, als wenn noch keine Fremden vor uns hier gewesen waren. Am Abend saßen wir bei Kerzenschein in der Küche oder hatten die Petroleumlampe an. Im Herd war Feuer. Es bruzzelte und kochte. Wieder gab es nach Tagen am Tisch kultiviert etwas Gutes zu essen.

Am nächsten Morgen kamen Russen ins Haus. Damit hatten wir nicht gerechnet, weil nur hin und wieder ein Fahrzeug durchgefahren war ohne zu halten, und wir annahmen, daß sie nur in ihren Standorten bleiben würden. Den Kindern gaben sie Bonbons und redeten auf sie für uns unverständlich ein. Die Kleinsten, Bernd und Brigitte, wollten sie auf den Arm nehmen, aber die schrien. Sie gingen nun durchs Haus und suchten Schnaps. Sie machten entsprechende Zeichen am Hals, sie schnickten mit den Fingern. Sie fanden aber nur Brennspiritus. Das Zeugs wurde mit Wasser verdünnt und von ihnen getrunken. Das ist denen bestimmt nicht gut bekommen.

Als sie gegangen waren, packten wir so schnell wie möglich unsere Sachen zusammen und zogen weiter. Als wir ein Waldgebiet durchquert hatten, erkannte Oma die Gegend. Hier wäre sie schon gewesen. Wir waren nur noch wenige Kilometer von Wartenburg entfernt. Wir bogen rechts ab. Bald sahen wir vor uns Häuser von Wartenburg. Oma sagte dann, daß wir einen Umweg gemacht hätten. Aber egal, wir waren da, aber Opa war nirgends zu sehen.

Wir suchten überall, wo man suchen kann, nichts. Oma sah Zeichen, daß Opa dagewesen sein mußte. Ich ging zum Nachbargehöft, zu Busis. Er war Jagdpächter gewesen, und in seinem Jagdzimmer war ich 1944 oft gewesen. Ich sollte ihn auf die Jagd begleiten. Von einem seiner Hochsitze hätte er mir sogar erlaubt zu schießen. Es hätte mich schon gereizt, mal mitzugehen, aber wenn ich daran dachte, daß ich da die halbe Nacht frierend auf dem Hochsitz auch noch still sitzen soll, dann ging ich doch lieber schlafen. Und so bin ich nie auf die Jagd gegangen, obwohl ich für mein Leben gern schoß, vielleicht nicht auf große Tiere und nicht auf Menschen.

Ich wollte nun sehen, ob seine Waffensammlung noch da wäre. Als ich das Zimmer betrat, sah ich Opa auf dem Boden in einer Blutlache liegen. Ich wußte sofort, Opa ist tot. Ich rannte zurück. Oma und Mutti kamen weinend mit. Warum war Opa nicht bei uns geblieben, er könnte vielleicht noch leben. Alle möglichen Gedanken schossen einem durch den Kopf. Erst beim erneuten Betreten des Waffenzimmers sah ich, daß keine Waffe mehr im Raum war. Oma drehte Opa um, da war hinten am Hals ein Einschußloch zu sehen, Genickschuß also.

Oma war dann sehr gefaßt. Es war ja nichts zu ändern. Oma wußte, daß auf dem Boden Opas Sarg ist. Er hatte schon an den Tod gedacht, vorgesorgt. Tante Eva half mir, den Sarg runterzuholen. Das Wichtigste war jetzt, ihn zu beerdigen. Pickhacke , zwei Spaten, Schaufel, Stricke, an alles wurde gedacht, nahmen wir mit. Opa hatte einen großen Handschlitten, da kam der Sarg hinauf. Oma hatte weiße Laken mit. Er wurde eingewickelt und kam in den Sarg. Warum wir nun einen Umweg machten, weiß ich nicht genau. Vielleicht rechnete Oma damit, daß auf dem Hauptweg Russen kommen könnten? Jedenfalls fuhren wir Richtung Bruch, parallel zum Hauptweg weiter und den Friedhofsweg zurück.

Es war nicht einfach, die gefrorene Erdschicht abzutragen. Durch die dicke Schneeschicht war der gefrorene Boden dünner als ich glaubte.

Mit der Pickhacke ging es ganz gut. Abwechselnd wurde gegraben. Opa ist so gut, wie wir es konnten, beerdigt worden. Oma und Mutti haben ständig gebetet und geweint.

In Wartenburg wollten weder Oma noch Mutti bleiben. Es wurde schnell etwas gegessen. Wir wollten nach Gutfließ in Tante Friedas und Margas Haus. Also wurde alles Brauchbare auf den großen und einen kleinen Schlitten gepackt und ab ging es. Als wir die ersten Häuser auf der rechten Seite von Gutfließ erreichten, war das erste Haus bewohnt. Was das für Leute waren, weiß ich nicht. Wir erfuhren, daß hier, solange sie hier wohnten, keine Russen gewesen waren. Das Nachbarhaus war leer und groß genug für uns. In Tante Friedas Haus konnten wir immer noch ziehen.

Die Straße von Popelken nach Sprakten war in der Ferne gut einzusehen. Dort fuhren russische Militärfahrzeuge in beide Richtungen. Wir mußten also vorsichtig sein. Von den Nachbarn erfuhren wir, daß sie am Tage kein Feuer machten, damit der Rauch nicht die Anwesenheit von Menschen verrät. Von den herumlaufenden Kühen fingen wir uns eine ein. Nach ein oder zwei Tagen war die Milch wieder genießbar. Die Milch konnten wir nicht schleudern. Wir hatten keinen Einsatz. Zu Beginn des Krieges waren die alle eingezogen worden. Durch Abschöpfen der Sahne von der Milch ging es aber auch. Ein Butterfaß hatten wir, so daß wir buttern konnten. Milch, Sahne, Butter, Glumse, alles hatten wir, nur kein Fleisch, kein frisches Fleisch. Weckgläser mit Fleisch und Wurst fanden wir überall. Speck war in einigen Räucherkammern genügend vorhanden. Hühner hatten wir uns genügend eingefangen. Eier und Geflügelfleisch brachten Abwechslung auf den Speisezettel. Inzwischen hatten wir uns auch zwei Kälbchen und eine weitere Kuh eingefangen. Wir brauchten Milch für die Kälbchen. Ein Kälbchen wurde bald von den Frauen geschlachtet, ich durfte nicht einmal zuschauen. Warum eigentlich nicht? Ich wußte es nicht.

Getreide war reichlich vorhanden. Zum Brotbacken mußten wir mit der Kaffeemühle abwechselnd fast den ganzen Tag mahlen. Mutti und Oma verstanden Sauerteig zu machen, so daß wir bald frisches Brot hatten. Das Brotbacken im Backofen verstanden sowohl Mutti als auch Oma. Nur Zucker fanden wir nicht. Da kam Mutti auf die Idee, aus Futterrüben Sirup zu kochen. Ein großer gußeisener Topf war vorhanden. Die Rüben wurden zerkleinert, gekocht und ausgepreßt. Der Saft eingekocht. Mutti hatte sich mit einem langen Holzlöffel, einem Stiehl und einem Stück Holz einen Galgen zum Rühren angefertigt. Je dicker der Sirup wurde, um so schlimmer spritzte das. Tante Eva kochte aus Butter, Sahne, Mehl und Sirup Bonbons.

Die Stoffrolle hatte ich nicht unnötig mitgeschleppt. Wenn Mutti Zeit hatte, nähte sie Nachthemden. Zum Glück war eine gute Nähmaschine vorhanden. Die Nachthemden waren für die Haut angenehm, und sie wärmten.

Nach ungefähr drei Wochen tauchten Russen auf. Sie durchstöberten alles. Etwas für sie Brauchbares fanden sie nicht. Zuletzt griffen sie sich einige Hühner. Sie waren wohl der Meinung, daß wir zuviel hätten. Sie banden unser Kälbchen los und verschwanden. Nach kurzer Beratung wurde wieder gepackt, Essen auf Vorrat gekocht. Morgens früh kam alles auf die Schlitten. Wir gingen Richtung Wartenburg. Dort bogen wir nach Sprakten ab. Omas Haus haben wir meines Wissens nach Opas Beerdigung nicht mehr betreten. Vor Sprakten bogen wir wieder nach rechts ab und gingen auf eine Waldecke zu. Von der Hauptstraße waren wir mindestens 500 Meter entfernt. Wir stießen auf drei Häuser, zwei waren bewohnt. Warum sollten wir nicht hierbleiben? Ein Haus war frei und wir waren nicht allein. Georgental war noch weit, ca 20 Kilometer.

Wir waren es gewöhnt, für alle schnell ein Schlaflager zu schaffen. Wer konnte und wollte, half mit. Rudi und ich waren in einem kleinen Zimmer und konnten uns ausstrecken.

Am nächsten Tag kamen zwei bewaffnete Russen zu uns, gingen durch alle Räume, durchwühlten aber nichts. In den beiden anderen Häusern waren sie auch schon gewesen. Es war wohl eine Streife. Zum Schluß forderten sie mich durch Zeichen auf , vorauszugehen. Ich mußte am Wald entlang, wo wir am Vortag hergekommen waren, immer auf der Waldseite gehen. Sie gingen so rechts von mir, daß sie durch mich, wenn ich auch nicht so ein breites Kreuz hatte, zum Wald hin gedeckt waren. An der Waldecke gaben sie durch Zeichen zu verstehen, denn das Gesagte verstand ich nicht, daß ich zurückgehen könnte. Ich traute dem Frieden nicht und ging rückwärts. Ich wollte sehen, wenn sie auf mich schießen, vielleicht hinwerfen und wegkriechen.

Als wir etwa 100 Meter voneinander entfernt waren, machten sie eine wegwerfende Handbewegung, drehten sich um und entfernten sich schneller. Jetzt wurde mir, glaube ich, bewußt, daß sie mich als Geisel mitgenommen hatten. Warum und wieso wußte ich hier noch nicht.

Ich war wieder frei und sah zu, daß ich zu den Meinen kam. Mutti hatte schon befürchtet, daß ich auf dem Weg nach Sibirien wäre.

In der folgenden Nacht wurde ich von Männerstimmen wach. Ich hörte, daß sie aufgefordert wurden, leiser zu sein. Erst viel später erfuhr ich, daß das deutsche Soldaten gewesen waren, die sich im Wald versteckt aufhielten, um der Gefangenschaft zu entgehen.

Bald kehrte Ruhe ein, sie waren wohl gegangen. Am nächsten Morgen kam ich gar nicht dazu, mich nach den nächtlichen Besuchern zu erkundigen, denn vom nahen Wald waren Schüsse zu hören. Unverzüglich liefen Mutti und ich, noch im Nachthemd, in die Veranda. Von da war der Waldrand gut einzusehen. Ich sah Soldaten am Waldrand entlang in gebückter Haltung laufen. Wieder fielen Schüsse. Zwei Soldaten fielen oder warfen sich hin, wahrscheinlich von Kugeln getroffen, die anderen liefen weiter und verschwanden in einem Waldvorsprung.

So schnell wie an diesem Tag hatten wir noch kein Haus bisher verlassen. Oma und die Kinder wurden laut aufgefordert, sich anzuziehen, Tante Eva war schon fertig. Hektisch wurde alles eingepackt und auf die Schlitten gebracht. Schon nach wenigen Minuten waren wir auf dem Weg Richtung Straße. Nicht gewaschen, nichts gegessen. Mutti verteilte trockenes Brot. Wenigstens etwas.Die Bewohner der beiden anderen Häuser hatten wir ganz vergessen. Aber auch sie hatten die Häuser verlassen und kamen hinterher. Wir waren nun um die 30 Personen, darunter auch zwei ältere Männer, die die Straße nach Insterburg erreichten.

Wir waren noch nicht lange auf der Hauptstraße unterwegs, da hielt vorne, etwa einen Kilometer von uns entfernt, ein Lkw. Rechts und links stiegen Soldaten ab und verließen die Straße. Wenige Minuten später tauchten sie rechts und links von uns völlig unerwartet auf und umzingelten uns mit angelegten Maschinenpistolen. Sie hatten wohl bei uns ehemalige deutsche Soldaten vermutet. Denn als sie unsere Gruppe gründlich gemustert hatten, gingen die meisten weiter Richtung Wald.

Wir mußten unter Bewachung weitergehen bis Berschkallen, oder Birken, wie der Ort zuletzt hieß. In Birken wurde unsere Gruppe von Offizieren gemustert. Ein Posten bekam einen Befehl und kam auf mich zu. Ich wurde festgenommen und Richtung Haus bugsiert, in dem die Offiziere verschwunden waren. Warum gerade ich, schoß es mir durch den Kopf. Waren es meine Schnürstiefel, die ich irgendwo gefunden hatte, die mich größer machten, als ich schon war? Oder sah ich älter aus? Fragen über Fragen beschäftigten mich, als ich in einen fast leeren Raum geführt wurde. In der Ecke, etwas von der Wand abgerückt, stand ein großer Schreibtisch mit Sessel. Auf dem Sessel nahm kurz darauf ein hoher Offizier Platz. Die anderen Offiziere, ich glaube es waren so zehn an der Zahl, postierten sich, in dicke Pelzmäntel gehüllt, rechts und links vom Kommandeur. Zwei Dolmetscherinnen waren geholt worden. Nun begann ein Verhör in einem recht unfreundlichen und barschen Ton. Zunächst wurde ich gefragt, wo wir herkämen. Ich nannte die Orte, besonders Taplacken, Gutfließ und nun das Haus am Wald in Sprakten. Eine Weile hatten sie eine Karte vor sich zum Betrachten. Nun wollten sie von mir wissen, ob ich die Schießerei gehört und gesehen hätte. Ich bejahte das. Es wäre auch der Grund, warum wir so früh auf der Straße waren. Wir hätten Angst bekommen. Mutti und ich hätten gesehen, sagte ich ihnen, daß zwei Soldaten bei der Schießerei am Wald getroffen wurden und hinfielen.

Nun wurde ich gefragt, ob ich oder andere mit deutschen Soldaten Kontakt gehabt hätten. Ich hätte, konnte ich ihnen wahrheitsgemäß sagen, seit Ende Januar keine deutschen Soldaten mehr gesehen, mehr wüßte ich nicht. Die ganze Befragung hatte mich so aufgeregt, daß ich kaum noch sprechen konnte. Ich glaube, mir kamen auch die Tränen.

Es trat auf einmal Ruhe ein, und ein höherer Offizier sagte der Dolmetscherin etwas in einem wesentlich angenehmeren Ton, was sie ebenso ruhig übersetzte. Ich bräuchte keine Angst zu haben, mir würde nichts geschehen. Wir würden an einen Ort gebracht, wo alle befragt werden könnten. Ich konnte gehen und wurde draußen sofort neugierig umringt. Ich sagte, wie die Vernehmung verlaufen war. Ich betonte besonders, daß ich gesagt hätte, daß wir keinen Kontakt zu deutschen Soldaten im nahen Wald gehabt hätten. Nach einer längeren Wartezeit kamen Lkws auf den Hof. Wir wurden aufgefordert, zwei Lkws zu besteigen. Sitzgelegenheiten waren nicht vorhanden, wir mußten in die Hocke gehen oder uns auf den Rand setzen. Auf unserem Lkw war nur wenig Platz, denn in der Mitte der Ladefläche war etwas mit einer großen Plane zugedeckt. Jemand von uns lüftete die Plane ein wenig und ließ sie sofort fallen. Nicht alle hatten gesehen, daß darunter zwei Rotarmisten lagen. Flüsternd wurde das weitergesagt.

Ich war irgendwie entsetzt, daß die ausgerechnet auf diesem Lkw lagen, mit dem wir transportiert wurden. Was hatte das zu bedeuten? Wir wurden vom Hof gefahren. Es ging Richtung Popelken. Uns folgte unmittelbar ein Panzerspähwagen. Ich machte mir so meine Gedanken, war aber inzwischen ganz ruhig. Was würde jetzt geschehen? Die Frauen weinten, die Kinder kuckten zu, waren sprachlos.

Als Sprakten auftauchte, brannten alle Häuser am Wald. Und auch Wartenburg brannte. In der Richtung stiegen viele Rauchsäulen auf. Heute ist von Wartenburg kein Stein mehr zu finden. In Popelken bogen wir nach Tilsit ab, der Panzerspähwagen fuhr in eine andere Richtung. In Kreuzingen wurde auf einem Gutshof haltgemacht, und wir mußten absteigen. Der Lkw fuhr mit den Toten weiter.

In einem Stall sollten wir nun uns einrichten. Stroh war nebenan in der Scheune. Wir bekamen zwei oder 3 Decken für jeden, trotzdem war es nachts ganz schön kalt. Es war Ende Februar, es lag noch Schnee, aber der Frost hatte nachgelassen. Wir konnten uns frei bewegen, durften den Ort aber nicht verlassen.

Auf einem Streifzug durch den Ort fand ich in der Nähe der Bank eine größere Menge gebündelter Hundertmarkscheine. Waren die noch etwas wert? Ich wußte es nicht. Ich nahm einige mit für hinterlistige Zwecke auf dem Plumsklosett. Nicht einmal dafür taugten sie noch, waren viel zu glatt. Aber besser als gar nichts. Am Tage, oft auch nachts, waren Vernehmungen. Perfekt deutsch sprechende Offiziere wollten alles wissen: Eltern, Geschwister, Schulbildung, Freizeittätigkeiten, einfach alles. Bei der zweiten Vernehmung wurde ich gefragt, ob ich in der HJ gewesen wäre. Von einem Gleichaltrigen wußte ich, daß er, als er das verneinte, Prügel bekommen hatte. Ich hatte der HJ nicht angehört, das sagte ich auch. Er wunderte sich, und fragte nach. Ich konnte ihm sagen, daß ich, kurz bevor ich in die HJ aufgenommen werden sollte, Jungzugführer in Starkenicken geworden wäre. Er gab sich damit zufrieden, wenn er das auch noch von keinem gehört hätte.

Nur soviel: Mein Fähnleinführer bei den Pimpfen brauchte Jungzugführer, denn kaum jemand war bereit, mit fast Gleichaltrigen Dienst zu machen.

Hinlegen! Auf! Wie beim Militär, dann einfache politische Schulung. Z.B.: Wer waren Baldur von Schirach, Schacht, Göring usw? In Starkenicken kannte ich niemand, keiner kannte mich. Ich mußte eben nicht in die HJ. Zum Glück brauchte ich nur einige Male nach Starkenicken, dann war ich in Wartenburg weit ab vom Schuß.

Zwei Tage nach meiner letzten Vernehmung teilte man mir mit, daß ich in ein Arbeitslager nach Rußland sollte. Mit einem Lkw wurde ich nach Tapiau in ein Sammellager gebracht. Mutti war mitgefahren. Irgendwie hatte sie es geschafft, auf den Lkw mit aufsteigen zu dürfen. Am Eingang zu einem gewaltigen Gebäudekomplex, der früheren Irrenanstalt, wurden wir getrennt. Ich wurde registriert und in einen Warteraum geschickt. Von hier sollten wir zu einem Rasierer. Wer da herauskam, hatte eine Glatze. Auch im Intimbereich, so erfuhr ich, wurde rasiert. Den Läusen keine Chance! Die Wartezeit war lang, wir hatten viel Zeit. Immer zwei Mann mußten hinein. Auch für mich kam die Aufforderung, in den Raum zu kommen. Der mit mir Hineingegangene kam zuerst ran. Oder hatte ich ihm den Vortritt gelassen?

Jedenfalls saß ich noch in Warteposition, da kam ein Offizier in den Nebenraum und rief meinen Namen: Gerxard Xelmstadt! Ich sollte mit ihm kommen, wurde zum Tor geführt und konnte gehen. Mutti hatte es doch geschafft, mich da herauszuholen. Papa war als Funktionär der sozialdemokratischen Ortsgruppe verfolgt worden. Mutti hatte entsprechende Papiere gerettet, die mir jetzt Sibirien ersparten.

Der Kraftfahrer hatte auf Mutti gewartet. Gegen Abend waren wir wieder in Kreuzingen.

Mich ließen die Russen nun in Ruhe. Sibirien war kein Thema mehr.

Schon zwei Tage später marschierten wir in Begleitung eines Postens nach Tilsit. Die Kinder vorweg, die anderen hinterher. Wieder um die 3O Personen. Mir ist so, als ob die Männer nicht mehr mit von der Partie waren. In Tilsit wurden wir in einer Villa am Stadtrand in Richtung Ragnit untergebracht. Geheizte Zimmer, Doppelstockbetten. Wann hatten wir das zuletzt gehabt? Die Verpflegung war gut. Wir konnten am Tage in die Stadt gehen. Ich nutzte das, so oft ich konnte, daß waren aber nur zwei oder drei Tage.

Wieder hieß es Sachen zusammenpacken und rauf auf die Straße.

Hinter einem Panjewagen mit einem russischen Posten wanderten wir über die ganze Straßenbreite verteilt über Ragnit Richtung Breitenstein. Die größeren Gepäckstücke konnten auf den Wagen gelegt werden. Die Landschaft war noch weiß, die Temperatur bewegte sich um Null Grad. Es war eben noch Anfang März. Der Frühling stand aber unmittelbar vor der Tür.

Täglich mußten wir 15 bis 20 Kilometer zurücklegen. Übernachten konnten wir meist in Ställen oder Scheunen, selten in Häusern. Kaltverpflegung hatte der Posten auf dem Panjewagen mit, Getränke mußten zubereitet werden. Mit dem Waschen war das so eine Sache. Meist nur Katzenwäsche. Wo es hingehen sollte, erfuhren wir nicht. Wir kamen durch Breitenstein, Georgenburg, Insterburg, Gumbinnen, Ebenrode.

Am Straßenrand sahen wir gelegentlich tote deutsche Soldaten liegen. Keiner sagte etwas. Wir mußten weiter. Zwischen Gumbinnen und Ebenrode waren Sprengkommandos dabei, Minen zu beseitigen. Laufend krachte es auf der rechten Seite der Straße. In Ebenrode ging es nordwärts. In Schloßberg marschierten wir wieder nach Westen, aber nicht weit. Nach wenigen Kilometern erreichten wir das Dorf Henzken. Hier erfuhren wir durch Dolmetscher, daß wir hier bis Kriegsende bleiben müßten.

In den Dörfern ringsum wären nur Deutsche. Oma, Mutti, Rudi und ich wurden in ein einzeln stehendes Haus , etwa 200 Meter vom Dorf entfernt, untergebracht. Ein Teil des Daches war beschädigt, so daß da niemand, auch Tante Eva nicht, einziehen konnte, leider. Wir waren immer alle zusammen gewesen. Tante Eva mit ihren Kindern mußte ins Dorf. Warum wir gerade in dieses Haus mußten, wissen die Götter. Nicht weit von unserem Haus waren aber auch noch einzeln stehende Häuser mit Leuten, die vor uns gekommen waren.

Uns blieb ein großes Zimmer und die Küche, wo es nicht reinregnete.

Zwei Betten waren vorhanden, Rudi und ich mußten auf dem Fußboden auf Stroh schlafen. Wie gehabt. Im Schuppen waren Bretter, Werkzeuge, Nägel. Ich sagte mir, wenn wir hier monatelang bleiben müssen, versuchst es einfach mal, ein Doppelstockbett zu bauen. Der freie Platz dafür war gerade groß genug. Ich habe gesägt, gestemmt, gehobelt und genagelt, und das Bett nahm Gestalt an. Das Gestell wackelte sehr, drohte zusammenzubrechen. Mit ein paar schräg angenagelten Brettern konnte ich das Bett stabilisieren. Ich staunte selber, daß ich das gebracht hatte. Papa war Zimmermann, von dem konnte ich es nicht haben . Oder doch? Ich hatte oft zugesehen, wenn er eine Bank oder einen Tisch angefertigt hatte, manchmal auch was gehalten.

Mutti hatte aus Getreidesäcken für uns zwei Strohsäcke genäht. Die konnte ich sehr fest stopfen, auf die Holzbretter des Bettes legen und mit dem Körpergewicht formen. Eine so wunderbare Kuhle, glaube ich, habe ich nie wieder gehabt. Rudi mußte unten schlafen, ich kletterte nach oben. Ich habe heute auf der Karte ausgemessen, daß wir in 8 oder 9 Tagen 150 km von Tilsit bis Henzken zurückgelegt haben. Es gibt aber eine direkte Verbindung, da wären es nur 70 km gewesen. Da hätten wir über die Inster gemußt, die Brücke soll aber zerstört gewesen sein. Vielleicht war das Gebiet auch noch nicht von Minen geräumt worden. So mußten wir einen riesigen Umweg machen. Wir bekamen aus einem Vorratslager im Dorf Brot und Konserven. Die Brotration war gering bemessen. 600 Gramm für Erwachsene und 400 Gramm für Kinder. Von dem, was wir bekamen, wurde ich nicht satt. Der Keller, die Speisekammer und die Räucherkammer waren leer. Hier hatten die vor uns Angekommenen den Rest geholt. Es ist auch wahrscheinlich, daß nicht viel zu holen war, denn hier im Schloßberger Raum hatten schon 1944 Kämpfe mit den Russen stattgefunden. Die meisten Bewohner waren deshalb schon im Herbst 1944 evakuiert worden.

Obwohl wir unseren Ort nicht verlassen sollten, ging ich ein paar Tage später in südliche Richtung, bis ich in ein Dorf kam. Ich fand nach langem Suchen in einem Haus Kartoffeln, Möhren und Wruken. In der Räucherkammer hingen ein Rest von einem Schinken und ein oder zwei Würste. Die Ausbeute war mager, aber immerhin etwas. Mit einem Schlitten transportierte ich unter schwierigen Bedingungen meine Schätze nach Henzken, denn nicht überall lag noch Schnee. Aber irgendwie habe ich es geschafft.

Das Wichtigste war nun wieder die Suche nach Läusen. Mutti hatte darin Routine. Wenn ich meine Unterhemden untersucht und nichts gefunden hatte, dann staunte ich, wie Mutti das machte. Schon in Gutfließ hatte sie uns durch Knacken der Läuse und Nissen, und natürlich auch durch Erhitzen der Kleidung im Backofen, läusefrei gemacht. An den Augen kann es nicht gelegen haben, denn ich konnte gut sehen. Wie auch immer, ich fand nur wenige Läuse, eher Nissen. Ob Rudi geschickter war, weiß ich nicht.

In Henzken gab es einen Bürgermeister, jedenfalls wurde er so genannt, der von den Russen eingesetzt worden war. Er sollte insbesondere die Leute zur Arbeit heranziehen. Die Frauen und auch ich mußten uns bald nach der Ankunft in Henzken an den Scheunen einfinden. Die Scheunen des Gutes waren voller Getreide. Weizen, Roggen, Gerste, noch fast nichts gedroschen, nur die Mäuse waren aktiv gewesen. Es stand ein großer Lantz – Dreschkasten, aber kein Dieselmotor. Mit dem war nichts zu machen. Da war aber noch ein kleines Maschinchen, an ein Roßwerk anzuschließen. Die Garben mit den Ähren nach vorne mußten hineingehalten werden, dann wurden die Körnerchen herausgeschlagen, wenn sich die Welle drehte.

Also, ein Roßwerk war vorhanden, aber keine Pferde. Der Bürgermeister war nicht der Dümmste. Ehe ich die Frauen mit den Dreschflegeln anfangen lasse, spann ich die ein, sagte er sich. So viele Frauen, wie im Viereck des Roßwerks Platz hatten, nahmen Aufstellung. Mit Leinen in der Hand gingen sie im Kreis, darunter Tante Eva und Mutti, und zogen. Es klappte gut, und am Abend war allerhand Getreide auf dem Haufen. Nun mußte es noch gereinigt werden. Eine Maschine mit Sieben, die durch eine Kurbel zum Rütteln gebracht wurde, hatten sie hier auch. Das Getreide wurde gereinigt, und ein Teil des Getreides wurde verteilt. Jede Frau, die gearbeitet hatte, bekam ein Beutelchen oder etwas im Sack mit. Noch abends wurde das gedroschene Getreide von den Russen abgeholt. Sie waren meist unzufrieden mit der Menge. Sie meinten, es müßte mehr sein, gaben sich aber zufrieden. Der Bürgermeister drängte darauf, daß eine Maschine zum Antrieb der Dreschmaschine besorgt würde. Ich glaube, das hat Wochen gedauert, bis mit dem Dreschkasten gedroschen werden konnte. Ich hatte Glück, mir gab der Bürgermeister eine andere Aufgabe. Er wolle auf die Jagd gehen, sagte er mir, damit wir Fleisch bekämen. Ich solle doch mal die Gegend absuchen, ob da nicht ein Gewehr herumläge.

Ich nichts wie los, bloß nicht am Roßwerk eingeteilt werden! Zwei kleinere Jungen, die das gehört hatten, kamen mit. Ob Rudi dabei war, weiß ich nicht mehr. Tatsächlich fand ich ein verrostetes Gewehr auf einer Wiese unter einem Baum. Ich kannte mich ein bißchen mit Waffen aus. Bei den Pimpfen waren wir unterwiesen worden, Gewehre und Pistolen auseinander zu nehmen. Ich versuchte, das Schloß zu öffnen. Ich wollte sehen, ob eine Patrone im Lauf ist. Es gelang nicht, das Schloß war eingerostet. Ich schickte die Jungen ein paar Meter weg und drückte ab. Es knallte, aber der Lauf war aufgerissen. Ein Hase sprang in der Nähe auf und suchte im Zickzack das Weite. Sonst war zum Glück nichts passiert. Die beiden Jungen waren hinter mir weit genug weg gewesen. Ich hatte auch nicht gemerkt, daß mir Splitter um die Ohren geflogen wären. Bestimmt sind auch keine geflogen.

Obgleich ich von den Russen 1946 oft Waffen, wenn ich Wache stehen mußte, in die Hand bekam, habe ich nicht mehr geschossen. Wenn ich Waffen liegen sah, ließ ich sie auch liegen. Wir gingen nun zurück, und ich erzählte meinem Auftraggeber von dem Vorfall. Trotzdem sollte ich weiter suchen. Am nächsten Tag, denn für den Tag hatte ich die Nase voll, ging ich allein auf Waffensuche. Ich staunte, wie viel Waffen herumlagen. Sie waren bestimmt von deutschen Soldaten auf der Flucht einfach weggeworfen worden, wie ich schon mal erwähnte. Sie lagen in Gräben im Wasser, in Weidenbüschen oder einfach hinter Scheunen. Auch diese Waffen waren alle eingerostet und nicht zu gebrauchen. Ich versuchte nicht einmal, abzudrücken. Ich hatte vom ersten Mal genug.

Ich kam an ein einzelnes Gehöft, ungefähr zwei oder drei Kilometer von unserem Dorf entfernt. Was ich da sah, trieb mir die Schweißtropfen auf die Stirn. Die Scheune war von unten bis oben, von links nach rechts voller Waffen und Munition. Panzerfäuste, Maschinengewehre, Karabiner und hoch aufgestapelte Kisten mit Munition. Ich habe den Raum nicht betreten, sondern mich auf dem schnellsten Wege entfernt. Wahrscheinlich habe ich an eine mögliche Verminung gedacht.

In der Nacht wurde ich von einer unheimlichen Serie von Explosionen wach. An Schlafen war nicht mehr zu denken. Am nächsten Morgen war von dem Einzelgehöft nichts mehr zu sehen. Als ich mir das aus der Nähe ansah, war da ein riesiger Krater. Weit verstreut lag Schrott, was ehemals Waffen gewesen waren. Vielleicht hatte ich nach meinem Besuch die Scheunentür aufgelassen und ein Tier war hineingeraten.

Ich kehrte zum Bauernhof oder Gutshof, wie man will, zurück, aber arbeiten brauchte ich nicht. Ich beobachtete manchmal die kleineren Kinder beim Spielen oder organisierte selber ein Spiel. Jedenfalls war ich auf dem Hof, als ein Junge einen Gegenstand Richtung Scheune warf, in der die Frauen waren. Es gab einen lauten Knall und alle stürzten aus der Scheune heraus. Was die wohl gedacht haben? Der bärtige Bürgermeister schaute wild um sich und suchte die Angreifer, konnte aber keine entdecken. Die Jungen, von denen einer den Gegenstand geworfen hatte, waren vor Angst um die Ecke gelaufen. Ich ging nun näher zum Ort des Geschehens und konnte dem Bürgermeister sagen, daß ein Junge vor dem Knall etwas geworfen hätte. Nun sah er sich alles genauer an. Er fand Metallsplitter an der Scheunenwand. Die Jungen waren inzwischen zurückgekommen und zeigten ihm die Stelle, wo sie den Gegenstand gefunden hatten. Es dauerte gar nicht lange, da hatte der Seebär gefunden, was alles erklärte. Er rief alle Kinder und Frauen zusammen und zeigte seinen Fund . Es sah wie ein großes Ei aus Metall aus und war halb ummantelt. Tatsächlich sprach er dann von der Eierhandgranate und wie gefährlich die Eierhandgranaten wären. Er entfernte sich einige Meter von uns und warf die gefundenen Eierhandgranaten in hohem Bogen weg. Alle detonierten.

Er gab nun Verhaltensregeln bekannt, vor allem sollte man die Dinger liegenlassen. Mir ist nicht in Erinnerung, daß sich jemand nicht daran gehalten hätte. Jedenfalls ist mir von einer Verletzung nichts bekannt.

Jeden Abend brachte Mutti einen kleinen Beutel Roggen, Weizen oder Gerste mit, je nachdem, was gerade gedroschen wurde. Um daraus was Eßbares herzustellen, mußte das Getreide gemahlen werden. Für Mehlsuppen ging das nach wie vor mit der Kaffeemühle.

Im Dorf gab es eine Schrotmühle auf einem ehemaligen Kornboden. Ein Motor war nicht aufzutreiben. Was tun? Der Bürgermeister wußte wie immer Rat. Er ließ zwei Schwungräder von irgendwelchen Maschinen abbauen und herbeischaffen. Die wurden auf beiden Seiten der Schrotmühle angebaut.

Auf jeder Seite konnte eine Person mit dem Griff die Mühle in Gang bringen. Am Anfang war das gar nicht so leicht. Wenn die Schwungräder sich etwas schneller drehten, ging das relativ leicht. Wenn einer nicht mehr konnte, mußte der Nächste ran. Da immer viele Leute mahlen wollten und man sich gegenseitig helfen mußte, kam jemand auf die Idee, Stricke zu verwenden. Die wurden an den Griffen der Schwungräder angebunden. So , konnten auf jeder Seite noch zwei durch abwechselndes Ziehen die an den Griffen Drehenden unterstützen. Bei lautem Hallo und bei Gesang machte das richtig Spaß. Nun konnten sich die Drehenden und Ziehenden ablösen. Jedenfalls hatten wir nun genügend Mehl.

Das Mittagessen war unter den Umständen relativ abwechslungsreich . Es gab Mehlbrei, Schlunzsuppe, Klunkersuppe, Brotsuppe, denn inzwischen konnten wir wieder Brot backen. Aus Kartoffeln, die leider knapp wurden, gab es meist nur noch Zitterbrei oder Zittersuppe. Für 4 Personen, Oma, Mutti, Rudi und mich, wurde aus 1 bis 3 geriebenen Kartoffeln mit viel Wasser eine Zittersuppe gekocht. Die schmeckte gar nicht schlecht. Mit ungefähr 5 mittelgroßen Kartoffeln entstand ein Zitterbrei. Manchmal wurde ich auch davon satt. Zur Zittersuppe konnte man trockenes Brot dazu essen.

Auf meinen Streifzügen entdeckte ich einige Bunker zwischen Henzken und Kussen. Es war uns bekannt, daß im Januar 1945 hier im Raum Schloßberg schwere Kämpfe stattgefunden hatten. Ich war unangenehm berührt, als ich in einem der Bunker, der halb voll Wasser war, 5 oder 6 deutsche Soldaten in ihren Uniformen in dem Wasser liegen sah. Sie waren aufgedunsen. Ich machte, daß ich wegkam. Ich berichtete dem Bürgermeister davon. Wenige Tage später, es war wohl Ende März, Anfang April, mußten die Frauen mit einem Leiterwagen tote deutsche Soldaten nach Schloßberg bringen. Mutti und Tante Eva mußten auch mitmachen. Einige zogen den Wagen, andere schoben ihn. In Schloßberg wurden die Toten, soweit ich weiß, in einem Massengrab beerdigt. Wie die Frauen es geschafft haben, die toten Soldaten aus den Bunkern herauszuholen, ist mir heute noch ein Rätsel . Ich war jedenfalls froh, daß ich da nicht mitmachen mußte.

Ende April, Anfang Mai wurde die erste Rinderherde durch unser Gebiet getrieben. Die Viehtreiber waren Litauer, die sich jetzt Kühe aus dem westlichen Ostpreußen holten. Von ihnen erfuhren wir auch, daß erst Mitte April Königsberg von den Russen erobert worden war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir nichts vom weiteren Kriegsverlauf erfahren. Bei uns wurde erzählt, daß die Amerikaner kommen und die Russen vertreiben würden. Das Gerücht hielt sich sehr lange.

Zurück zu den Kühen. Schon ab Sommer 1944, das weiß ich noch genau, wurden fast täglich Herden aus Litauen nach Westen getrieben.

Nun hatten wir Glück, daß die Litauer sich Kühe zurückholten und für einige Tage bei uns Station machten. Die Kühe mußten täglich gemolken werden, das schafften sie nicht allein. Fast alle Frauen, auch Mutti und Tante Eva, gingen mit Eimern zum Melken. Wer nicht melken konnte, bekam trotzdem genügend Milch. Von einigen Kühen war die Milch zunächst nicht genießbar. Biestmilch mußte erst abgemolken werden. Die Milch bekamen die Kälber zu saufen oder sie wurde einfach weggeschüttet. In den folgenden Tagen wurde sowieso sehr viel Milch ausgegossen. das hatte Gründe. Wir hatten nun Milch, Sahne, Quark und Butter. Die abgeschöpfte Sahne, denn eine Schleuder hatten wir nicht, wurde schnell sauer und ließ sich gut buttern. Ein Butterfaß hatten wir gefunden. Es gab nun Milchsuppe, Milchbrei, Sahnesoße usw.. Leider vertrugen wir das nicht. Alle bekamen Durchfall. Wir nannten die Krankheit “Ruhr”. Wir hatten längere Zeit fettlos gelebt und nun hatten wir die Bescherung. Wenn man was gemeinsam gegessen hatte, gab es ein Wettrennen zum Häuschen mit dem Herzchen. Oma hätte da alt ausgesehen, also lief ich auf die Wiese hinterm Haus und suchte eine günstige noch freie Stelle. Ich habe dann ein Loch gegraben, um die Stelle schneller zu finden.Ich habe dann nur noch Holzkohle gegessen . Die sollte helfen, half aber zunächst nicht. Wie lange dieser Zustand angehalten hat, weiß ich heute nicht mehr.

Jedenfalls wurden , so lange wir in Henzken waren , Viehherden durch unser Gebiet getrieben . Die Kühe mußten gemolken werden, ob wir die Milch brauchten oder nicht. Inzwischen brauchten alle wieder mehr Milch, alle hatten sich wohl an fettes Essen gewöhnt. Neu auf dem Speiseplan waren nun Brennesselsalat, irgendwas aus Löwenzahn und anderen Unkräutern. Mutti war da sehr erfinderisch, vielleicht auch Oma. Ich weiß das nicht mehr so genau. Im Garten wuchs Petersilie, Minze und anderes. Wir hatten nun auch Tee und nicht nur Kaffee aus gerösteter Gerste.

Gelegentlich gab es auch Abwechslung. Einmal kamen Litauer zum zweiten Mal durch unser Gebiet. Da wir uns inzwischen kannten, luden sie uns zu einem gemeinsamen Lagerfeuer ein. Es waren immer so 5 oder 6 Leute, die perfekt die deutsche Sprache beherrschten.

Es wurde gesungen und getanzt. Ich glaube, daß auch Alkohol im Spiel war. Einige waren recht ausgelassen. Besonders Tante Eva. Dann sang sie ihr Lieblingslied : ” Die Männer sind alle Verbrecher, ihr Herz ist ein finsteres Loch. Die Frauen sind auch nicht viel besser, aber lieb sind sie doch.”

Ende Mai erfuhren wir, daß der Krieg zu Ende wäre und die Deutschen kapituliert hätten. Wir hatten also vergebens auf die Amerikaner gewartet. Eines Tages kamen zwei Lastwagen mit jeweils zwei Russen ins Dorf. Auf dem Dorfplatz sollten sich alle Dorfbewohner einfinden. Ein Offizier und ein Dolmetscher forderten uns auf, unsere Sachen zu packen und mit ihnen auf ein Gut zu fahren, um dort zu arbeiten. Einige ließen sich überreden, holten ihre wenigen Habseligkeiten und stiegen auf die Lkws. Mutti, Tante Eva und andere glaubten den Russen nicht. Sie nahmen an, daß es nach Sibirien ginge. Die Russen versicherten immer wieder, daß es nur in die Nähe von Insterburg ginge. Da sie mit ihren Überredungskünsten keinen Erfolg hatten, wollten sie in einigen Tagen wiederkommen und fuhren ab. Da wir annahmen, daß sie uns, wenn wir nicht freiwillig mitführen, uns zwingen würden mitzufahren, bereiteten wir uns auf die Abfahrt vor. Tatsächlich kamen die gleichen Fahrzeuge mit den Russen nach ungefähr drei Tagen wieder. Sie hatten zwei Deutsche vom ersten Transport mitgebracht. Nach ihren Berichten glaubten wir ihnen und fuhren erwartungsvoll mit. Über Kussen fuhren wir in Richtung Tilsit über die Inster. Über den Fluß hatten die Russen eine Behelfsbrücke gebaut. Wir erreichten die Straße, auf der wir vor Wochen von Tilsit kommend Richtung Insterburg marschiert waren .In Blumental bogen die Fahrzeuge nach rechts von der Hauptstraße ab in einen Landweg ein. Nach ungefähr einem Kilometer kamen wir auf einen Gutshof, wo uns die vor uns gefahrenen erwarteten. Von ihnen erfuhren wir, was nun passieren würde.

Wir wurden zu einem Nebengebäude gefahren und mußten unsere gesamte Kleidung mitnehmen. In einem größeren Raum erhielten wir nummerierte Beutel. Wir mußten uns alle ausziehen und die gesamte Kleidung hineinlegen. An den nummerierten Beuteln hingen Nummernschildchen mit einem längeren Band. Wir konnten die Schildchen also umhängen. Alle, Frauen, die älteren Männer, Kinder und ich mit meinen fast 16 Jahren mußten dann in den Nebenraum, einem Waschraum. Ich wußte gar nicht, wo ich hinkucken sollte. Ich hatte bis zu diesem Tag noch keine nackte Frau gesehen, nur auf Bildern im Gesundheitsbuch, und nun das! Ich machte so, als wenn ich gar nicht kucke, aber in den Augenwinkeln sah ich Mutti, Tante Eva, Oma und auch junge Frauen und Mädchen mit strammen Brüsten. Die älteren Männer waren ganz schön behaart und hatten vorne ganz schöne Dinger hängen. Jedenfalls war mir das alles peinlich. Es war auch nicht besonders warm. Wahrscheinlich war die Luft von den vielen warmen Körper ein bißchen verschlagen. Alle liefen in dem Raum hin und her. Wohin Rudi gekuckt hat, weiß ich nicht. Darauf habe ich wohl nicht geachtet. Nach einer Ewigkeit, vielleicht ein oder zwei Stunden, war der Spuk vorbei. Wir bekamen unsere Sachen wieder. Sie waren von der Entlausung noch warm. Wir hatten keine Läuse mehr gehabt, aber das konnten die Russen nicht wissen. Nach dem Anziehen bekamen wir auch die Sachen vom LKW.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Gutshofes waren mehrere Insthäuser. Dort wurden wir untergebracht. Mit Möbeln war es nicht doll. Die zuerst Angekommenen hatten sich wohl einiges geholt, was die Russen übrig gelassen hatten. Ein Tisch, Stühle und ein Bett für Oma hatten wir, Mutti, Rudi und ich mußten auf Stroh auf dem Fußboden schlafen. In der Scheune war genügend vorhanden, so daß wir schön weich schlafen konnten. Einige Decken hatten wir bekommen. Die Küche der Russen hatte für uns auch was gekocht. Es gab Kohlsuppe und trockenes Brot. Die Kapustasuppe sollte ich noch oft zu essen bekommen.

Ansonsten bekamen wir täglich ungefähr 600 Gramm Brot pro Person. Milch, Butter, Fleisch, Mehl, Reis und andere Lebensmittel gab es so wenig, daß wir ständig Hunger hatten. Ich merkte, daß Mutti von dem, was ihr zustand, Rudi und auch mir noch abgab. Wie muß sie erst gehungert haben!

Russisch hatte ich noch fast nichts gelernt. Es hatte ja auch kaum Gelegenheiten gegeben und ich wollte auch bisher nicht russisch lernen. Wenn uns was zu sagen war, waren Dolmetscher da. Nun war das anders. Bei der Arbeit auf den Feldern war ich mit Soldaten zusammen. Eine Verständigung war schlecht möglich. Es ging nur durch Zeigen. Junge Soldaten, sie waren manchmal nicht viel älter als ich, wollten deutsch lernen. Neben den Körperteilen wie Kopf, Arme und Beine wollten sie auch wissen, wie das Ding heißt, welches den Mann von der Frau unterscheidet. Aber besonderes Interesse zeigten sie für die weiblichen Körperteile. Ich habe noch eine Vorstellung, wie sie lachten, als sie die Wörter übten. So lernte ich als eine der ersten russischen Wörter Xu, Pisda und andere Wörter vom menschlichen Körper kennen, aber auch Xleb, Masla, Kalbassa,Cirr für Lebensmittel.

Unter den Offizieren, die sich mit mir über Gott und die Welt unterhalten wollten, waren auch Germanisten. Besonders mit einem der Lehrer traf ich mich recht oft. Er erzählte dann von seiner Tätigkeit an einer Schule in Kiew. Daß er so schnell wie möglich wieder nach Hause möchte, wenn dort auch nicht mehr alles so wäre wie früher. Von seiner Familie wüßte er nichts. Dann wollte er mich examinieren. Er rezitierte ” Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, daß ich so traurig bin. Ein Märchen aus alten Zeiten, das will mir nicht aus dem Sinn.” Usw. Dann fragte er mich, ob mir das Gedicht bekannt sei. Ja, sagte ich, das wäre aus der Lorelei. Von wem das wäre wollte er wissen. Meine Antwort war: Dichter unbekannt, wie ich es als braver Schüler in der deutschen Mittelschule gelernt hatte. Ich sehe ihn noch lächeln und mit dem Kopf schütteln. Er erzählte mir nun von dem deutschen Dichter Xeinrich Xeine (Ein H kennen die Russen nicht), der von den Nazis verleugnet wurde, weil er Jude war. Heine habe ich später gerne gelesen und mich manchmal auch an diesen russischen Offizier erinnert.

Ende Juni konnten wir in das wenige Kilometer entfernte Bergental umziehen. Der Natschalnik von Blumental übernahm dort die Verantwortung und nahm einige Deutsche, darunter Oma, Tante Eva und Mutti mit den Kindern mit. Der Ort lag ungefähr 12 Kilometer von Insterburg entfernt unmittelbar an der Hauptstraße. Wir konnten in ein einzeln stehendes Häuschen ziehen, das nur durch einen Vorgarten von der Straße getrennt war. Zum Gutshof war es nicht weit. Mich nahmen die Russen immer öfter als Spezialisten auf die Felder mit. Mit den meisten Maschinen wußten sie nichts anzufangen. Z B. mußte Gras gemäht werden. Mit der Sense hatten sie schon ein Stück gemäht, als ich ihnen vorschlug, mit dem Grasmäher zu mähen. Wir gingen zum Dolmetscher, dem erklärte ich alles. Also wurden zwei Pferde geholt, wir hatten auf dem Gut ungefähr 20 Pferde, und vor den Mäher gespannt. Ich mähte einige Runden, wie ich es schon 1943 von deutschen Soldaten gelernt hatte, als sie unsere Wiese mit mitgebrachten Maschinen mähen mußten. Vater war ja zu dem Zeitpunkt auch schon Soldat. Ich wurde bald von einem Soldaten abgelöst und konnte machen, was ich wollte. Obgleich wir Selbstverpfleger waren, bekam ich auf dem Feld Mittagessen oder die Russen bezogen mich in Ihr Essen ein. Nach der Arbeit nahmen mich die Russen sogar zum Abendessen mit. Ich weiß noch wie heute, daß es an diesem ersten Abend , es sollten noch viele weitere folgen, Kohlsuppe, ihr Kapusta gab mit viel fettem Fleisch. Dazu konnte ich Brot nehmen so viel ich wollte. Kamerad, kuschei, kuschei hieß es nur. Von da an brauchte ich nicht mehr zu hungern. Zu Hause blieb meine Portion den anderen Familienmitgliedern.

Das angetrocknete Gras mußte per Hand gewendet werden. Am nächsten Tag zeigte ich ihnen dann, wie die Hungerharke funktionierte. Sehr schnell wurde ich wieder abgelöst. Es waren junge Soldaten, die noch nie etwas mit Landwirtschaft zu tun gehabt hatten und zum Teil auch in einer Stadt aufgewachsen waren. Bei mir war das ja anders, und so nahmen sie meine Hilfe gern in Anspruch. Wenn der Natschalnik sie kontrollierte, sah man, daß er mit ihnen zufrieden war. Die Soldaten müssen auch Lobendes von mir gesagt haben, denn er wandte sich mir zu , klopfte mir auf die Schulter und sagte etwas, was ich natürlich nicht verstand.

Wenn mich abends der Natschalnik im Speiseraum sah, nickte er mir zu und muß also nichts dagegen gehabt haben, daß ich bei den Soldaten war.

Als die Roggenernte begann, die Getreidefelder waren 1944 von den Deutschen noch bestellt worden, konnte ich den Soldaten die Funktion des Mähbinders erklären. Alle Maschinen auf dem Gut waren in einem tadellosen Zustand, hatten sie den Winter über doch in einem großen Schuppen gestanden und waren im Herbst konserviert worden. Bindegarn oder Bindergarn war reichlich noch vorhanden. Ich konnte den Soldaten zeigen, wie Garn eingelegt wird, und es funktionierte sogar. Das Wetter war für die Getreideernte günstig, für mein Faulenzen am Feldrand ebenfalls. Hin und wieder traten Pannen auf, Garn riß oder die Maschine verstopfte. Ich mußte nur noch selten helfen, sie hatten gut gelernt. Wenn ich auch kaum etwas zu tun hatte, gehörte ich noch längere Zeit zur Erntebrigade.

An einem Sonnabend, es muß Ende September gewesen sein, ich war im Vorgarten, kam ein Junge mit einem Rucksack und Handgepäck auf Bergental zu. Ich hatte ihn schon, als er noch weit vom Ort entfernt war, beobachtet. Er schlich recht müde aussehend dahin und nahm mich gar nicht wahr. Als er in der Nähe unseres Vorgartens war, erkannte ich ihn. Leider habe ich seinen Namen vergessen. Er war ein Schulkamerad aus unserem Nachbarort Nettienen. Ich sprach ihn an. Ich sah ihm an, wie froh er war, endlich einen Bekannten zu treffen. Die Begrüßung war herzlich. Wir hatten im Haus ein freies Zimmer , er konnte bleiben. Mutti hatte nichts dagegen. Er mußte mit unserem einfachen Essen zufrieden sein. Kaum zu glauben, was er uns dann erzählte. Auf der Flucht war er bis Berlin gekommen. Unterwegs war er plötzlich von der Mutter getrennt worden. Er hätte sie noch verzweifelt gesucht, sie aber nicht mehr gefunden. Nun hoffte er, daß er sie in Berlin bei der Tante treffen würde, wo sie ohnehin hinwollten. Im Februar erreichte er Berlin. Seine Mutter war noch nicht da und kam auch nicht in der Zeit seines Aufenthaltes in Berlin dort an. Er mußte sich bei der Behörde anmelden, wohl auch, um an eine Lebensmittelkarte zu kommen. Nach wenigen Tagen bekam er einen Einberufungsbefehl, obwohl er gerade erst 15 Jahre alt geworden war. Er war Jahrgang 1930!! Ich habe mir mein Teil gedacht. Jedenfalls mußte er sich bei der Truppe irgendwo melden, wurde eingekleidet, ausgebildet und nach ca. vier Wochen an die Front in Berlin abkommandiert. Er hat uns Fotos von sich gezeigt, da mußte man lachen. Die Uniform paßte ihm gar nicht. Die Hosen zu lang, die Ärmel zu lang, alles aufgekrempelt. Die Militärmütze viel zu groß. Auf einem Foto war er in einer Stellung mit einem Gewehr, einem Stahlhelm, der sein Gesicht halb verdeckte. Heute glaube ich, wenn ich über die Fotos nachdenke, daß der Fotograf die Unsinnigkeit des Krieges mit Kindern dokumentieren wollte. Mein Schulkamerad kehrte in den letzten Tagen des Krieges zu seiner Tante zurück. Dort wartete er bis August auf seine Mutter. Da sie nicht kam, entschloß er sich sich gegen den Willen seiner Tante, nach Ostpreußen zurückzukehren und dort seine Mutter zu suchen. Mit dem Zug, meist Güterzüge, per Anhalter auf Russenautos, zu Fuß, mit Pferdewagen hat er es geschafft, Polen zu durchqueren, ohne zu verhungern und aufgehalten zu werden. Auch in seinem Heimatort fand er seine Mutter nicht. Noch einmal durch Polen zur Tante nach Berlin wollte er nicht.

Er muß eingesehen haben, daß er nur mit viel Glück es geschafft hatte, durch Polen durchzukommen. Nun wollte er nach Litauen. Im Juli 1944 waren wir, er also auch, 20 Kilometer südlich von Wilkowischken in einem abgelegenen Dorf zum Spatendienst, um Panzergräben zu bauen. Von den ungefähr 1000 Jungen im Alter von 13 bis 15 Jahren war er der einzige, der in einem richtigen Bett bei einer litauischen Familie schlafen konnte. Die anderen schliefen in Scheunen und auf Heuböden. Ich schlief mit anderen, und manchmal er auch, über dem stinkenden Stall auf dem Heuboden. Die Litauer hatten ihn wie ihren Sohn behandelt. Zu diesen Litauern wollte er. Ich habe ihn in dem Dorf 1947 besucht.

Das Haus der litauischen Familie stand nicht mehr, aber einige Häuser weiter fand ich ihn. Ich wurde da sehr gut aufgenommen. Ich weiß allerdings heute nicht mehr, ob es die Familie war , zu der er wollte. Dann müßte sie umgezogen sein. Bald darauf wurde Oma, Vaters Mutter, schwer krank. Wir wußten nicht, was sie hatte. Einige Tage später war sie tot. Auf dem Boden unseres jetzigen Hauses stand ein Sarg ohne Deckel. Den haben wir genommen und die tote Oma hineingelegt. Aus Brettern, im Schuppen waren genug, baute ich einen provisorischen Deckel. Auf dem Handwagen, mit einem Tuch zugedeckt , fuhren Mutti, Tante Eva und ich sie zum Friedhof am anderen Ende des Dorfes. Mit nur einem Spaten hoben wir abwechselnd grabend ein ziemlich großes Loch aus und haben Oma da begraben.

Es war nicht so einfach. Oma fehlte nun sehr. Sie hatte sich um alles im Haus gekümmert. Essen eingeteilt und gekocht, wenn Mutti zur Arbeit war. Mir wurde nun sehr bewußt, wie ungerecht ich sie seit der Flucht behandelt hatte. Sie wollte bestimmt immer das Beste, ich habe aber dagegen geredet und oft nicht gehorcht. Ich konnte nicht dagegen an. Jetzt hätte ich es gerne besser gemacht, nun war es zu spät.

Ende September zogen wir wieder zwei Kilometer weiter Richtung Insterburg nach Rosental. Die Russen von dort, die uns abwarben, versprachen uns ein besseres Leben. Tante Eva mit ihren Kindern und wir ließen uns überreden. Viel hatten wir nicht zu packen. Wir wurden mit Erlaubnis unseres Natschalniks abgeholt und in leer stehende Häuser eingewiesen. Der Ort lag knapp einen Kilometer von der Hauptstraße entfernt. Unser Haus lag rechts vom Weg, Tante Evas links einige hundert Meter von uns entfernt. Am Ende unseres Hauses war ein Vorratsspeicher, wo Lebensmittel für den Ort aufbewahrt wurden. Wir hatten es nicht weit, wenn Lebensmittel verteilt wurden. Von hier wollte Mutti nun endlich nach Georgental, um zu sehen, wie unser Zuhause aussieht. Wir hatten schon erfahren, daß unser Gehöft zerstört worden sei.

An einem Sonntag machten wir uns also auf, Tante Eva, Mutti, Rudi und ich. In Georgenburg kamen wir am Kriegsgefangenenlager vorbei. Wir konnten uns mit einigen über das Woher und Wohin unterhalten. Schon von weitem sahen wir, daß von unserem Gehöft nur noch die Mauern vom Haus und vom Stall standen. Auf unserem Gelände stand das Unkraut meterhoch. Nichts war zu finden, alles verbrannt oder geplündert. Wir hatten im Herbst 1944 Geschirr und Weckgläser mit Eingemachtem an drei Stellen vergraben. Zwei Stellen hatten die Russen oder wer auch immer gefunden und ausgeraubt. Es waren die zuletzt angelegten Stellen. Vielleicht waren sie etwas eingefallen nach dem Anlegen. Die Russen hatten ein Auge dafür. Wir hatten sie dabei schon in anderen Orten beobachtet, wenn sie Eingegrabenes gesucht und gefunden hatten. Sie benutzten dabei noch lange Eisenstangen, mit denen sie herumstocherten.

Auf unserem ersten Versteck hatte Mutti Blumen angepflanzt. Da hatten sie nicht gesucht. In diesem Loch fanden wir eine große Wäschewanne voll Geschirr und vor allem Weckgläser. Die Hälfte der Gläser mit Wurst und Fleisch erhielt Tante Eva, trotzdem hatten wir noch reichlich. Als das erste Leberwurstglas auf war, verbreitete es einen starken Geruch. Ich dachte schon, unsere Schätze wären ungenießbar. Als ich dann die Nase ins Glas steckte, roch es schon besser. Und die Leberwurst schmeckte!!! Alle Gläser waren in Ordnung, so daß wir eine längere Zeit etwas davon hatten.

Bald danach wurde Mutti schwer krank. Sie hatte hohes Fieber und mußte sich übergeben. Der Verwalter des Magazins veranlaßte, daß ein Arzt geholt wurde. Mutti wurde umgehend in die Kutsche gebracht, mit der der Arzt geholt worden war, und nach Nettienen mitgenommen. Sie hatte Typhus. In Nettienen war ein Typhuskrankenhaus, in dem auch deutsche Ärzte arbeiteten. Wer dort bisher hingekommen war, war nicht zurückgekehrt. Rudi und ich hatten Angst, die Mutti nicht wiederzusehen. Ich mußte nun neben der Arbeit im Pferdestall für Rudi und mich sorgen: Essen machen, abwaschen, aufräumen, Wäsche waschen, Feuerung besorgen, heizen. Ich wollte immer Mutti besuchen, aber man sagte mir, daß das im Typhuskrankenhaus nicht möglich wäre.

So vergingen drei Wochen. Nun hatte ich mir vorgenommen, doch zu versuchen, sie zu besuchen. Ich war noch beim Umziehen, als ich durchs Wohnzimmerfenster eine Person zu Fuß von der Hauptstraße abbiegen und auf unser Dorf zukommen sah. Ich hatte so eine leise Ahnung, und tatsächlich, es war Mutti. Sie war wieder gesund, wenn auch noch geschwächt, trotzdem hatte sie über 10 km zurückgelegt, zu Fuß! Die Freude war unbeschreiblich. Sie war immerhin die erste, die von da zurückkam. Vielleicht waren auch die Medikamente inzwischen besser.

Wenige Tage später bekam ich Typhus. Der Arzt machte Mutti keine Hoffnung, daß ich das überlebe. Ich bekam Medikamente und Mutti sollte ein Hühnersüppchen kochen, weil ich so geschwächt aussah. Der Verwalter des Magazins war mein Retter. Er ließ ein Huhn schlachten und ich bekam mein Hühnersüppchen. Das hat mir Mutti später erzählt, ich wußte davon nichts. Ich soll 14 Tage ohne Bewußtsein gewesen sein. Wie Mutti die Medikamente, Getränke und Süppchen in meinen Körper hineinbekommen hat, ist mir allerdings ein Rätsel.

Nach vier Wochen fühlte ich mich besser und wollte aufstehen, um endlich zu sehen, ob wir im ersten Stock, wie ich glaubte, oder zu ebener Erde, wie Mutti und Rudi sagten, wohnen würden. Ich kam aber nicht weit . Aufrichten konnte ich mich schon länger, als ich aber die Beine gebrauchen wollte, brach ich zusammen. Meine Beine trugen mich nicht mehr. Zum Glück kam Mutti bald nach Hause und legte mich ins Bett. Ich ließ nun mehrmals täglich die Beine aus dem Bett baumeln und belastete sie vorsichtig. Nach einigen Tagen konnte ich mit Muttis Hilfe endlich zum Fenster gehen und mich davon überzeugen, daß meine Vorstellungen falsch waren. Allmählich kam die Erinnerung zurück. In den nächsten Tagen lernte ich wieder gehen. Mein erster Weg führte mich zum Magazin, um mich bei dem Russen für all die Hilfe zu bedanken.

Er schenkte mir eine amerikanische Fleischbüchse. Ob die vielleicht überhaupt für die deutschen Flüchtlinge oder Kriegsgefangenen von den Amerikanern geliefert worden waren? Sollte das die Hilfe der Amerikaner gegen die Russen sein? Jedenfalls bekamen wir hin und wieder eine Fleischbüchse. Als ich eines Tages einen Brand bemerkte, wollte ich , um das zu melden, laufen, konnte aber nicht, ich fiel hin. Der Kopf wollte, die Beine nicht.

Ab Dezember fing ich im Pferdestall wieder an zu arbeiten. Füttern, putzen, irgend etwas fahren. Ein Pferd fing an zu lahmen und wurde geschlachtet. Da ich dabei war, konnte ich mir ein Stück von einigen Kilo aussuchen . Aber alle Deutschen konnten sich Fleisch von dem Pferd holen.

Anfang Januar war ich in Bergental und traf den Natschalnik. Nachdem er erfahren hatte, wie es uns so geht, sagte er mir, daß er den Sowchos, also Staatsgut, in Landwehr inzwischen leite, er wäre nur zufällig hier.

Wenn wir wollten, könnten wir Arbeit bekommen. Ende Februar zogen wir um. Wir wurden am Rande eines großen Platzes im ersten Insthaus untergebracht. Wir hatten zwei Räume und eine Küche. Tante Eva mit ihren Kindern bewohnte die andere Hälfte des Hauses. Mitten auf dem Platz war das Inspektorhaus. In dem schönen Haus wohnte der Verantwortliche für die Milchviehhaltung, ein Ukrainer in mittleren Jahren mit seiner Familie.

Überhaupt waren inzwischen viele Zivilisten aus Weißrußland, der Ukraine und dem europäischen Rußland nach Ostpreußen gekommen. Viele erzählten, daß sie dort zum Teil in Erdlöchern gehaust hätten. Um neu zu bauen, fehlte Material. Und da sie hörten, daß in dem eroberten Gebiet Ostpreußen Häuser leer stünden, weil die Bewohner geflüchtet wären, hätten sie sich überzeugen lassen, hierher zu kommen. Inzwischen waren Offiziere und ältere Soldaten in ihre Heimat zurückgekehrt, weil sie hier nicht mehr unbedingt gebraucht wurden. Wir hatten uns, was das Wohnumfeld betrifft, diesmal verschlechtert. 10 Meter vom Haus entfernt war ein großer Abfallhaufen. Dort wimmelte es von Ratten. Soweit, so gut, aber sie drangen auch in die Häuser ein. Unter den Dielenbrettern war ein Hohlraum. Unter dem Fundament durchzukommen war für sie ein leichtes, sie brauchten nun nur die Dielenbretter durchzunagen, dann waren sie bei uns drin. Jeden zweiten Tag habe ich die Löcher zu gemacht, aber in der nächsten Nacht waren sie wieder drin. Die Lebensmittel hatten wir inzwischen an Deckenhaken in Beuteln hängen. In der Nacht hörte man die Biester von den Regalen in Richtung der Beutel springen und runterplumpsen. Sie liefen auch über mein Bett. Ich mußte vollständig unter die Decke kriechen und mich bewegen, damit sie mich nicht anknabberten. Im Nachbarhaus hat eine Ratte einem Kind in den Zeh gebissen. Das tat nicht nur weh, sondern hatte auch gesundheitliche Folgen. Zum Glück konnten die Ratten bald vergiftet werden. Der Haufen wurde abgefahren, dann war Ruhe.

Am Ende unserer Insthäuserreihe hatten die Russen eine Sauna gebaut. Von einem eisernen Herd hatten sie die Beine abgesägt, neu an den Schornstein angeschlossen und darüber Feldsteine aufgeschichtet. Wenn das Feuer richtig brannte, fingen die Steine fast an zu glühen. Darauf gegossenes Wasser verdampfte sofort. Gegenüber waren treppenförmige Holzgestelle bis fast zur Decke gebaut. Wenn der Raum voller Dampf war, hielt man es oben nicht aus. Man fing unten an und allmählich stieg man immer höher. Wurde Wasser auf die Steine gegossen, machte man, daß man nach unten kam. Die Russen peitschten sich mit Strauchzeug gegenseitig den Rücken, ich mochte das nicht. Das Saunabad wurde jeden Sonnabend angeheizt. Wenn man eine Weile drin gewesen war, konnte man im Vorraum in einen großen Bottig mit kaltem Wasser steigen oder man ging kurz vor die Tür. Frauen mieden zu der Zeit den Platz, sie waren nachmittags dran. Nach dem Saunabad marschierten die Beine wie von selbst nach Hause. Da es Sonnabend gegen Mittag war, konnte ich mich hinlegen.

Ich arbeitete im Pferdestall. Zusammen mit Schamm-Schie, einem 18-jährigen Mongolen aus Sibirien, waren 32 Pferde zu betreuen. Unser Natschalnik, inzwischen wußte ich, daß er ein Kosakenmajor war, hatte sein temperamentvolles Pferd in einem anderen Stall, zum Glück. Wenn er ausreiten wollte, mußten immer zwei Soldaten der Wache sein Pferd halten, bis er aufgesessen war. Es war eine Augenweide, wenn er ausritt. Sobald er dem Pferd die Zügel freigab, galoppierte es vom Hof und war bald in der Ferne verschwunden. Wir hatten auch zwei Trakehner in unserem Stall, mit denen machte es großen Spaß zu reiten oder zu fahren. Täglich um 6 Uhr wurden die Pferde gefüttert, getränkt und anschließend gestriegelt und geputzt. Jeder hatte 16 Pferde zu betreuen, wir halfen uns aber gegenseitig, so daß wir zur gleichen Zeit fertig waren.

Kurz vor 8 Uhr wurden die Pferde von Soldaten und Zivilisten zur Arbeit auf den Feldern abgeholt. Wenn Pferde übrig blieben, wenn ein Gespannführer ausgefallen war, mußten wir auch mit einem Gespann ausrücken. Ende März wurde das Futter für die Kühe und Pferde knapp. Der Natschalnik hatte erfahren, daß im Raum Königsberg Heu, Getreide , Kartoffeln und , was weiß ich , lagerten und nicht gebraucht würden. Es wurden 10 Gespanne zusammengestellt und ab ging es. Ich war auch dabei. Ich hatte vor einen Leiterwagen die beiden Trakehner gespannt. Unterwegs habe ich es bereut. In der Kolonne zu fahren , war mit denen schwierig. Ständig mußte ich sie zügeln, damit ich nicht auf den vor mir fahrenden Wagen aufführe. Bei der ersten Rast in Waldhausen bat ich den Leiter der Kolonne, soweit reichten meine Russischkenntnisse inzwischen, vorfahren zu dürfen bis zum nächsten Rastplatz. Der sollte in Taplacken sein. Ich ließ nun die Pferde ausgreifen, bis sie müde wurden. Daß mein Wagen nicht auseinander gefallen ist, hat mich gewundert. Als ich mich nach der gemeinsamen Pause wieder einreihte, ließen sich die Trakehner besser dirigieren. Am Abend erreichten wir ein Gut kurz vor Königsberg. Wir wurden erwartet und bekamen auch zu essen, wenn ich mich nicht irre, Kapusta. Ich wurde auch zur Nachtwache eingeteilt. Ich wurde an einer Maschinenpistole eingewiesen und belehrt, daß ich mit der bei Gefahr in die Luft schießen sollte. Um zwei Uhr nachts , zur besten Schlafenszeit, wurde ich geweckt und mußte mit Schamm-Schie raus. Ich unterschied mich im Dunkeln kaum von einem Russen, denn ich trug Russenuniform ohne Schulterstücke.

Meine Zivilkleidung war fast nicht mehr zu tragen, so hatte mir Schamm-Schie die Uniform besorgt. Meine Sonntagskleidung am Wochenende bestand aus einer deutschen Fliegerhose und einer kurzen deutschen Polizeijacke. Damit konnte ich mich nur in Landwehr blicken lassen. Wir mußten am Rande des Gutshofes den Hof im Auge behalten, damit keiner an unsere Wagen ginge oder Pferde aus dem Stall holen könne. Zwei Stunden können eine lange Zeit sein, vor allem, wenn man müde ist.

Am nächsten Tag nach dem Frühstück wurden die Wagen beladen. Ich sollte Heu laden. Darin hatte ich Erfahrung von zu Hause, wenn wir Heu aus den Pregelwiesen holten.. Vater mußte dann staken, ich laden. Mit 11 oder 12 Jahren! Jetzt war das kein Problem. Die Russen stakten, ich lud. Einmal rechts , einmal links, dann die Mitte. Es wurde ein sehr großes Fuder. Und ich bin mit der Wagenladung ohne Probleme nach Hause gekommen. Ein zweiter Wagen mit Heu mußte unterwegs zum Teil neu beladen werden. Aber so schnell ging das nicht. Wir mußten noch eine Nacht bleiben. Ich wurde wieder um dieselbe Zeit zur Nachtwache eingeteilt. Frühmorgens ging es los. Unterwegs, wenn ich deutsche Frauen sah, fragte ich nach Frieda, Marga und Reinhold Dannat. Ohne Erfolg. Abends spät waren wir zurück.

Eines Tages nahm ich für einen Tag Urlaub und ging die 10 Kilometer nach Insterburg. Ich kannte die Stadt wie meine Westentasche. Als kleiner Junge war ich oft in die Stadt mitgefahren, dann hatte ich 4 Jahre die Mittelschule besucht. Nun war die Stadt nicht wiederzuerkennen. Besonders vor und auf dem Marktplatz war viel zerstört. Ich wollte zur Post. Die war in der ehemaligen Mädchenmittelschule untergebracht. Tatsächlich war Post aus Deutschland da, aber in vollen Säcken aufbewahrt. Ich weiß gar nicht, wie viel Säcke ich durchsucht habe, bis ich einen Brief von Tante Meta, die inzwischen in Thüringen wohnte, fand. Der Brief war im Herbst 45 abgeschickt worden und enthielt nur allgemeine Informationen. Aber immerhin konnten wir hoffen, weitere Post auf diesem Wege zu bekommen. Ich schickte nun meinerseits einen kurzen Brief an Tante Meta als Lebenszeichen von uns. Die von der Post war so nett und kennzeichnete die Säcke, die ich durchgesehen hatte, denn ich wollte beim nächsten Mal nicht von vorne anfangen. Außerdem versprach sie, Post aus Deutschland an uns zu sammeln.

Als ich wieder Post abholte, erfur ich, daß Tante Meta meine Post erhalten hatte. In ihrem Brief teilte sie uns mit, daß Papa als Gefangener in Frankreich wäre. Sein Brief an Tante Meta lag bei, so daß wir nun wußten, wie er nach Frankreich gekommen war.

Nun glaubten Mutti und wir schon eher daran, daß wir den Papa irgendwann und irgendwo wiedersehen würden. Uns erreichten bis zur Ausreise aus Ostpreußen 1947 noch viele Briefe aus Frankreich über Thüringen. 1947 kam dann der erste Brief aus Hamburg, wohin er entlassen worden war. Im Sommer 1947 erhielten wir einen Brief aus Güstrow, also aus der sowjetischen Besatzungszone. Papa war freiwillig zu den Russen übergesiedelt, erstens, weil er uns näher sein wollte, und zweitens, weil ein Freund aus den Insterburger Tagen, Herr Blaubel oder Plaubel hier lebte. Seine Adresse hatte er von der Volksfürsorge, die ihren Sitz in Hamburg hatte. Beide hatten in Insterburg für die Volksfürsorge gearbeitet. Inzwischen hatten wir von Tante Meta und Papa erfahren, daß Arno in Schwerin wäre. Also waren wir auch die Sorge los.

14 Tage nach der Fahrt in die Nähe von Königsberg wurde wieder eine Fahrt organisiert. Diesmal blieben die Trakehner im Stall. Wieder fragte ich überall nach Marga, wieder nichts. Es lief alles wie beim ersten Mal ab.

Nun mußten alle Gespanne hinaus zum Pflügen. Ein riesiger Kartoffelacker mußte gepflügt werden. Zum Glück hatte der Natschalnik zwei Traktoren heranschaffen lassen, sonst wäre die Frühjahrsbestellung nicht geschafft worden. Zum Kartoffellegen mußten auch Mutti, Tante Eva und andere Frauen zu uns aufs Feld, ungefähr 2 km vom Hof entfernt an einem Wäldchen. In einer Arbeitspause hat einer am Rand des Wäldchens ein Feuer gemacht.

In der Glut konnte man sich einige Kartoffeln zum 2. Frühstück rösten. Am nächsten Tag staunte ich nicht schlecht, daß an der Feuerstelle einige Bäumchen umgekippt waren, der Boden ca. einen halben Meter abgesackt war und es noch qualmte. Des Rätsels Lösung war, daß das Wäldchen auf Torfboden stand und der Torf nun brannte bzw. schwelte. Im Herbst bei der Kartoffelernte war von dem Wäldchen nicht mehr viel übrig, aber wir konnten wieder Kartoffeln rösten, ohne Feuer machen zu müssen. Auf diesem Sowchos wurde alles angebaut. Es gab inzwischen genügend Spezialisten, die sich mit dem Gemüseanbau auskannten. Daß Kohl angebaut wurde, war selbstverständlich, denn oft gab es Kapusta in allen Variationen. Auf ungefähr zwei Morgen wuchsen Zwiebeln. Das Feld lag gleich hinter dem Gutshaus. Als die Zwiebeln herangewachsen waren, hielten manchmal vorbeifahrende Russen ihr Fahrzeug an, rannten aufs Zwiebelfeld und klauten Zwiebeln. Der Natschalnik konnte das nicht dulden. Er mußte Zwiebeln an die Vorgesetzten liefern. Was tun? Das Feld wurde bewacht. Kaum waren keine Posten zu sehen, hielten wieder Fahrzeuge. Die Posten waren erfinderisch. Sie bauten zwischen die ersten Reihen Stolperdrähte, die mit einer Klingelanlage im Gutshaus verbunden waren . Das Klingeln war bis zum Pferdestall zu hören. Dann hörte man die Posten die Treppen im Gutshaus herunterpoltern und sah sie herausstürzen. Meist kamen sie nun zur rechten Zeit, um die Diebe festzunehmen. Man hörte auch schießen. Einmal konnte ich beobachten, wie ein Posten es noch schaffte, auf einen anfahrenden LKW zu klettern. Erst als der Posten durchs Dach des Führerhauses schoß, hielt der Fahrer an. Die Diebe wurden festgenommen und im Keller eingesperrt. Abends kamen dann ihre Vorgesetzten und lösten sie aus. Die Zwiebelklauerei kann man nur verstehen, wenn man weiß, wie scharf die Russen auf Zwiebeln waren. Ich komme noch darauf zurück.

Auf einem Feld neben der Schmiede war ein Tomatenfeld. Es wuchsen Erbsen , Bohnen, Möhren, Wruken, eigentlich fast alles, was ich von zu Hause kannte. Inzwischen war es Juni geworden. Am Wochenende kamen die Pferde auf die Koppel. Wir holten sie meist zu zweit ab, weil die Pferde die Straße überqueren mußten und die Militärfahrzeuge ziemlich unvorsichtig und undiszipliniert fuhren. Ich holte die Pferde, Schamm-Schie paßte an der Straße auf. Einmal habe ich nicht darauf geachtet, welches Pferd ich vor mir hatte. Ich sprang auf das Pferd, versuchte die Herde zu treiben, und schon wurde es von einem der Hengste angegriffen. Da merkte ich, daß ich auch auf einem Hengst saß, denn der angreifende Hengst verteidigte die Stuten. Mit Mühe und Not konnte ich den Vorderhufen des Angreifers ausweichen, indem ich nach hinten rutschte. Daß ich nicht hinuntergerutscht bin, war ein Wunder, weil sie beide mit erhobenen Vorderbeinen aufeinander einschlugen. Außerdem hatte ich wie üblich kein Zaumzeug mit, um mich daran festzuhalten und das Pferd besser dirigieren zu können. In einem günstigen Moment sprang ich ab , nahm eine Stute, und alles war in Ordnung. Ich konnte die Pferde auf den Hof treiben. Kurze Zeit später, die Pferde waren auf der anderen Seite der Straße auf der Koppel, so daß sie die Straße nicht überqueren mußten. Trotzdem hatte ich Schamm-Schie gebeten, an der Straße aufzupassen. Ich holte die Pferde und trieb sie in Richtung Straße. Es war schon schummrig, als die Pferde die Straße erreichten. Ich sah, wie ein LKW mit einem Affentempo an den Pferden vorbeifuhr. Ich hörte einen dumpfen Aufprall und der LKW geriet ins Schleudern. Der LKW fuhr weiter und die Pferde legten ruhig den Weg bis zum Gutshof zurück. Als ich auf den Hof kam, sah ich die Bescherung. Unser bestes Arbeitspferd war stehen geblieben und war schon von Russen umringt.

Sie hatten den Vorfall gemeinsam mit Schamm-Schie beobachtet . Die rechte Bauchseite war aufgeschlitzt. Mich traf keine Schuld. Aber sahen das die Russen auch so? Jedenfalls kam der Natschalnik, ließ sein schnelles Pferd anspannen und fuhr mit Galopp den Tierarzt vom Nachbardorf holen. Als der Tierarzt kam, stand das Pferd noch, aber es fing schon an zu wackeln, es mußte gestützt werden.

Da der Tierarzt sagte, daß es keine Rettung gäbe, ordnete der Natschalnik die Schlachtung an. Inzwischen war es dunkel geworden. Bei elektrischem Licht wurde das Pferd, das nun lag, von einem Fleischer unter den Soldaten an Ort und Stelle geschlachtet. Wir waren10 Russen und ich. Auf einen Wagen ohne Seitenwände mit einer großen Holzplattform wurden die zerlegten Teile hinaufgelegt. Kurz vor Mitternacht wurde das Fleisch über den dunklen Hof zum Speicher gefahren. Schamm- Schie und ich schoben den Wagen, die anderen zogen ihn. Ich bekam, es war stockdunkel, von Schamm-Schie einen Rippentriller, und ich merkte, daß er vom Wagen etwas heruntergezogen und vor meine Füße gelegt hatte. Ich begriff, daß das Fleisch für mich war und machte, daß ich nach Hause kam. Mutti und Tante Eva waren noch auf und hatten, da sie von dem Vorfall gehört hatten, voller Sorge auf mich gewartet. Nun kam ich schwer bepackt nach Hause. Wie staunten wir, daß es die Pferdeleber war. Es waren zwei große und ein kleiner Flügel. Noch in der Nacht fingen die Frauen an , in Malzkaffee , Fett hatten wir nicht , irgenwie zu braten oder vielleicht auch zu kochen. Fast alle Kinder wurden geweckt und konnten sich an Leber sattessen, wir natürlich auch. Den größeren Rest nahm Tante Eva mit, um ihn zu verstecken. Wir wußten ja nicht, wie das ausgehen würde.

Schon morgens erfuhr ich von Schamm-Schie, daß der Natschalnik nach der Leber gesucht hätte. Ich sollte dafür sorgen, daß bei einer Kontrolle nichts bei uns gefunden würde. Kurz vor Mittag ging der Natschalnik durch alle Häuser der Russen, konnte aber wohl keinen Bratenduft ausmachen. Auch in der Sowchosküche hatte er keinen Erfolg. Zu uns kam er nicht. Wahrscheinlich sagte er sich, daß ein Deutscher nicht zehn Russen überlisten könne. An einen Helfer unter den Russen hat er in dem Augenblick nicht gedacht. Am Nachmittag gab der Natschalnik auf und ließ Fleisch an alle verteilen, ohne Einschränkung. Jetzt konnten wir die Leber richtig braten. Ich hatte bei der Fleischzuteilung darauf geachtet, daß auch fettes Fleisch dabei war.

Wir hatten nun nur 31 Arbeitspferde. Zur Feldarbeit wurden unbedingt noch einige gebraucht. Vielleicht eine Woche später sollten 4 Pferde aus dem Königsberger Raum geholt werden. Ein LKW wurde bereitgestellt. Drei Soldaten und ich sollten die Pferde holen. Jeder nahm einen Sattel mit. In der Verpflegungskiste für drei Tage waren unter anderem einige Dauerwürste, Brot und vor allem reichlich Zwiebeln von unserer Sowchosernte. Wir hatten uns für die Fahrt jeder einen Strohsack als Sitz mitgenommen, denn wir fuhren in einem offenen LKW ohne Sitze oder Bänke. Hinter Insterburg wurde die Kiste aufgemacht und etwas zu essen ausgeteilt. Die Russen nahmen zunächst nur Brot und Zwiebeln, ich bekam eine lange Wurst und Brot. Von der Wurst blieb natürlich erst einmal über die Hälfte übrig. Wenn ich Leute auf Feldern arbeiten sah, ließ ich den LKW anhalten und ging hin. Keiner kannte Marga. Vor Königsberg bogen wir rechts ab und fuhren auf einen größeren Gutshof. Hier waren keine Zivilisten, nur Militärs. Ich hatte ebenfalls meine beste Russenhose, Russenhemd, und was dazu gehörte, an. Wenn ich Offiziere grüßte, kuckten die mich skeptisch an, grüßten aber zurück. Vielleicht hielten die mich für einen degradierten Sergeanten. Daß ich da als Deutscher rumlaufe, konnten sie nicht ahnen. Irgendwie klappte es nicht mit dem Pferdekauf, oder wie das ablaufen sollte. Am Abend waren wir unverrichteter Dinge wieder in Landwehr. Die übrig gebliebene Wurst bekam ich mit. Die Soldaten hatten nicht viel davon gegessen, aber Zwiebeln waren nur wenige übrig, die hätten nicht für zwei, geschweige für drei Tage gereicht.

Eines Tages kamen Schamm-Schie und ich auf die Idee, die Stallböden, den Oberboden der Scheune und andere Örtlichkeiten auf dem Gutshof zu durchstöbern. Über der Scheunendiele entdeckten wir mindestens 10 Sättel bester Qualität. Da oben war wohl noch niemand gewesen. Schamm-Schie verpflichtete mich zum Stillschweigen. Irgendwas hatte er vor. Noch am selben Tag, es muß Wochenende gewesen sein, mußte ich mit ihm hoch. Er war mit einem scharfen Messer bewaffnet. Mit dem Messer trennte er das Bespannleder gekonnt heraus. Es war bestes Rindsleder. Wohl war ihm nicht dabei, denn ich sollte aufpassen, und wenn einer gekommen wäre, ihn warnen.

Alle hat er nicht zerstört, aber als wir eine Zeit später nachschauten , waren die restlichen Sättel weg. 14 Tage später hatte er Stiefel vom feinsten an. Unser Sowchosschuster war ein Könner. Nun sah Schamm- Schie, was ich für eine miserable Fußbekleidung hatte. Umgehend nahm er mich zum Schuster mit und ließ mir Schuhe anfertigen, leider keine schönen Stiefel. Als die Schuhe fertig waren, wollte ich keine Stiefel haben, so gut waren die Schuhe. Sie haben sehr lange gehalten, denn sie waren von bestem Rindsleder.

Wenn ich mit Russen zusammen war, fragten sie meistens, ob ich rauche. Wenn ich die Frage, Kamerad, tie kurisch? bejahte, dann griffen sie in eine Tasche und holten gefaltetes Zeitungspapier, die Prawda, heraus. In der rechten Hosentasche hatten die Soldaten Machorka, zerkleinerte Tabaksstrünke. Ruck, zuck hatte ich eine Zigarette in der Hand zum Anfeuchten. Sie mußte ich wieder zurückgeben, sie wurde gedrückt, damit das Papier zusammenklebte, an den Enden zugedreht, eine Seite wieder abgerissen, dann bekam ich die fertige Zigarette zurück. Nach kurzer Zeit waren wir alle beim gemeinsamen Rauchen. Die Offiziere rauchten richtige Zigaretten, meist Paparossi. Die halbe Zigarette bestand aus Pappe. Die Pappe wurde geschickt über Kreuz geknickt, um wohl mehr Nikotin zurückzuhalten. Auch sie teilten mit mir die Zigaretten, wenn wir im Gespräch waren. Es kam vor, daß sie , wenn sie nur eine Zigarette hatten, sie durchrissen und mir die Hälfte abgaben. Es gab Zeiten, da habe ich getrocknete Kirschenblätter geraucht. Natürlich nicht nur ich! Tante Eva ist 1945 darauf gekommen. Wenn wir nichts hatten, rauchten wir, Tante Eva, Mutti und ich, eben getrocknete Kirschblätter.

1944 hatte ich von einer Frau eine Raucherkarte bekommen. Ich hatte ihr einen Koffer zurückgebracht, der an unserem Gehöft aus dem Linienbus nach Popelken gefallen war. Das war der Anfang meiner Raucherkarriere. Als ich in Wartenburg bei Opa war, bekam ich von ihm Zigaretten. Rauch man, Jungche, sagte er, dann hast wenigstens was vom Leben. Oma war dagegen, konnte aber nichts machen. Bald rauchte ich auf Lunge. Das erste Mal auf Lunge rauchte ich, als ich zu den Kühen am Bruch zum Weiterpflocken ging. Ich legte mich nach den ersten Zügen auf den Rücken und genoß das Drehen im Kopf mit geschlossenen Augen. Dieser Schwindel wurde von Mal zu Mal weniger. Am liebsten rauchte ich Juno. Daß ich bei der Räucherei nicht lungenkrank geworden bin, ist ein richtiges Wunder. Nun rauche ich seit über 30 Jahren nicht mehr.

Ein Arbeitstag war recht lang. Morgens um sechs Uhr begann die Arbeit im Stall. Um acht Uhr rückten die letzten Gespanne aus. Im Sommer nach der Roggenernte war ich zum Pflügen in der Nähe einer Koppel, etwa einen Kilometer vom Hof entfernt. Ich war weit und breit allein beim Pflügen. Jeder hatte sein Stück Acker. Der Verantwortliche für das Pflügen dachte wohl, dann das besser kontrollieren zu können. Abends war ich für das Füttern mit zuständig. Nach 20 Uhr, manchmal auch erst nach 21 Uhr, hatte ich Feierabend. Wenn ich dann den ganzen Tag mutterseelenallein hinter dem Pflug hermarschiert war, war ich abends todmüde.

Es blieb nicht aus, daß ich nachmittags in den Pausen auch mal kurz einschlief. Die Pferde ließ ich am Feldrand grasen. An einem der Nachmittage erwischte mich der Natschalnik beim Schlafen. Er war auf einem Kontrollritt über die Felder. Nach einem kurzen Gespräch ohne Vorhaltungen machte ich weiter. Wie der Teufel es will, am nächsten Nachmittag, ich wachte gerade wieder auf, sah ich ihn angeritten kommen. Ich habe ganz schön Schiß gehabt, rechnete mit allem. Aber nein, er fragte mich, warum ich so müde wäre. Als ich ihm meinen Tagesablauf geschildert hatte, überlegte er eine Weile. Er fragte mich, ob ich Kühe hüten möchte, da könne ich viel schlafen. Ich war einverstanden. So wurde ich Kuhhirte, Chef von ungefähr 80 Rindern.

Schamm- Schie mußte nun zunächst allein die Pferde versorgen. Ich wurde am nächsten Tag vom Schweizer, einem Ukrainer, eingewiesen, wo und wie die Kühe zu hüten wären. Ich übernahm die Kuhherde auf dem Gutshof. Melker sicherten die Straße, die ich überqueren mußte. Dann trieb ich die Herde allein und ohne Hund in Richtung der Insterwiesen, ungefähr einen Kilometer vom Hof entfernt. Wenn ich müde wurde, und meiner Meinung nach die Kühe genug gefressen hatten, trieb ich sie auf eine Landzunge an der Inster. Da hatten die Kühe genügend Platz und auch noch was zu fressen. Wenn sie sich zum Wiederkäuen hinlegten, legte ich mich auch hin. Da, wo es auf die Landzunge ging, waren es ungefähr 10 Meter Breite. Wenn ich mich in die Mitte legte, trauten sich die Kühe kaum vorbei, wenn sie wieder auf die Wiese wollten. Wenn ich wach wurde, versuchten die ersten Kühe, sich an mir vorbei zu schleichen. Ich trieb sie dann lautstark zurück, um ihnen das heimliche Vorbeischleichen auszutreiben. Dann gab ich den Weg zur Weide frei. Es war ein herrliches Leben gegenüber vorher. Der Arbeitstag war lange nicht so lang , und ich konnte schlafen, schlafen, bis ich am Tage nicht mehr schlafen konnte. Inzwischen hatte ich ein Pferd bekommen, so daß ich reitend die Kühe zusammenhalten konnte.

Eines Tages kam der Schweizer im Galopp auf mich zugeritten, und fing an, lautstark zu schimpfen: Jupptfeua matt, ßinn ßabake, durack usw. Einige Schimpfwörter waren mir neu, überhaupt sollte man sie nicht übersetzen. Was war passiert? Auf dem Gutshof stände eine Kuh mit einer Nachgeburt. Das Kalb wäre nicht da. Es müßte hier irgendwo liegen. Ich sprang auf mein Pferd, und gemeinsam ritten wir über die Wiesen, wo ich die Kühe an diesem Tag gehütet hatte. Nichts, kein Kalb zu finden. Mein Chef ritt zurück. Nach einer Stunde etwa kam er wieder, stieg ab und entschuldigte sich wortreich. Ich habe kaum etwas verstanden. Dann erfuhr ich, daß die Kuh , als er auf dem Hof zurückgekommen wäre, erst gekalbt hätte. Erst die Nachgeburt, und dann das Kalb, das hätte er noch nie erlebt, davon hätte er noch nichts gehört. Nun wüßte er es, müßte es glauben, daß so etwas möglich sei.

Unsere Kuhherde wurde größer. Vom Nachbarsowchos wurde eine Herde hierher verlegt mit einem Kuhhirten in meinem Alter. Die größere Herde mit zwei Berittenen zu hüten, war jetzt ein kleineres Problem. Außerdem hatten wir viel Spaß. Wenn die Kühe lagen oder standen zum Wiederkäuen, dann ritten wir über Stock und Stein um die Wette oder dachten uns irgendwelche Spielchen aus. Wenn es mal regnete, war das auch kein Problem. In der Nähe des Flusses stand ein Heuschober von früher, da konnten wir uns unterstellen. Aus welchem Grunde auch immer, eines Tages händigte man uns Gewehre mit 5 Schuß Munition aus. Wir sollten in die Luft schießen, wenn Banditen kämen. Wir haben keine Banditen, solange wir die Gewehre hatten, gesehen. Vielleicht wurden von anderen Weiden Kühe gestohlen.

Nicht weit von uns, auf der anderen Seite eines Grabens, war eine Badestelle. Dorthin kamen hin und wieder Militäreinheiten in Kompaniestärke zum Baden. Eines Tages sah mein Kumpel einen Hasen laufen und hat wohl an Hasenbraten gedacht. Er nahm sein Gewehr, ich versuchte ihn noch zu warnen, er lief hinter dem Hasen her und schoß in Richtung der Russen. Zum Glück hatte er keinen Soldaten getroffen. Der Hase war nicht mehr zu sehen. Offiziere auf der anderen Seite des Grabens zeigten in den Graben und der Dussel lief in die Falle und wurde entwaffnet. Ich ritt im Galopp zum Gut und teilte dem Natschalnik den Vorfall mit. Er ließ sein Pferd satteln und ritt zur Badestelle. Hätte er das man nicht getan! Ich sah ihn auf die Offiziere einreden, da zogen sie ihn vom Pferd. Die Einheit marschierte umgehend ab und nahm meinen Kumpel und den Natschalnik mit. Am Abend kamen beide zu Fuß vom Militärlager im zwei Kilometer entfernten Wald zurück. Es muß eine Verhandlung zu seinen Gunsten gegeben haben, denn einige Tage später brachten zwei Soldaten sein Pferd zurück. Mit unserer Bewaffnung war es vorbei. Ich erhielt von da an weder ein Gewehr noch eine Maschinenpistole. War auch gut so. Wer weiß, was sonst noch passiert wäre. Und geschossen habe ich sowieso nicht.

Die Kartoffelernte hatte noch nicht begonnen, da waren schon Kartoffeldiebe am Werk. Damit die Klauerei aufhört, wurden die Felder bewacht. Auch Schamm-Schie mußte los, obwohl er mit den Pferden genug zu tun hatte. Manchmal half ich ihm abends beim Füttern. Auch wir hatten lange keine Kartoffeln gehabt. Als das Schamm-Schie erfuhr, bot er mir an , wenn er auf Wache stünde, ein Auge zuzudrücken. In einer der folgenden Nächte hatte er vor Mitternacht Dienst. Über die Insterwiesen kam ich an das Kartoffelfeld gut heran. Konnte für mich nicht günstiger sein. Als ich zur vereinbarten Zeit da war, hatte mein Freund schon einen Beutel mit Kartoffeln in der Hand. Ich brauchte gar nicht buddeln. Er zeigte mir nun, wo ich nicht gehen dürfe, damit ich nicht den anderen Posten in die Hände laufe. Alles ging gut. Von hinten kam ich über die Wiese gut an unser Insthaus heran. Das wiederholte sich bis zur Ernte.

Tante Eva hat auch versucht, an Kartoffeln zu kommen. Sie wurde erwischt und mußte eine Nacht in Insterburg in einem Karzer zubringen. Mutti hat sich dann um die Kinder gekümmert.

Wenn ich am Wochenende die Kühe hüten mußte, war das nicht so schön. Die anderen hatten frei, ich mußte auf den Insterwiesen, inzwischen wieder alleine, mich um die Kühe kümmern. Wenn ich am Sonntag auf der Wiese war, spazierten am Nachmittag oft russische Frauen und Mädchen laut mit hellen fremdartigen Stimmen singend die Straße nach Georgenburg entlang. Bald gefiel mir der Gesang ausnehmend gut. Noch heute höre ich den eigenartigen Gesang russischer Frauen sehr, sehr gerne.

Ende des Jahres 1946 erhielten wir die Erlaubnis, nach Insterburg zu ziehen. Tante Eva fand in einem kleinen Häuschen eine Wohnung. Mutti Rudi und ich verbrachten die erste Nacht in einer, man kann sagen, Ruine. Es war ein zweistöckiges Haus. Im Erdgeschoß gab es weder Fenster noch Türen, auch keine Dielen. Im ersten Stock, nur über eine Leiter zu erreichen, war es so ähnlich. Nur eine Wohnung war bewohnbar, da wohnte eine Frau mit ihrem Sohn in meinem Alter. Wir verbrachten also die erste Nacht in einem zugigen Zimmer ohne Fenster und Tür. Wir schliefen angezogen in Decken gehüllt auf dem nackten Fußboden. Es war für uns nichts Neues. Wir wollten aber hier bleiben, weil wir in der Nähe von Tante Eva bleiben wollten. Vielleicht hätten wir woanders in der Stadt eine richtige Wohnung gefunden. Nun egal.

Am Morgen kletterte ich mit einer Brechstange, einem Hammer und einem Seil mit der Leiter der Leute aus dem ersten Stock in den zweiten Stock. Hier war alles in Ordnung. Ich baute zwei Fenster und zwei Türen aus und ließ sie mit dem Seil nach unten. Mutti nahm sie in Empfang. Wir suchten und fanden irgendwo Lehm. Mutti hatte vom Mauern Erfahrung, denn sie hatte Ende der zwanziger Jahre bei unserem Hausbau mitgeholfen. Als erstes wurde ein Fenster in der künftigen Wohnstube eingesetzt. Ziegel, die noch zum Zumauern gebraucht wurden, lagen überall herum, ich brauchte sie nur zu holen. Für den Einbau der Tür blieb am ersten Tag nicht genügend Zeit, sie sollte zur Nacht nur provisorisch davor gestellt werden. Oben im zweiten Stock hatte ich Betten, Tische und Stühle sowie andere Möbel gesehen. Ich ließ drei Betten von oben herunter, für mehr war nicht Zeit, es wurde dunkel und zu gefährlich. Diese Nacht schliefen wir schon besser, komfortabler.

Der Ofen war auch in Ordnung, so daß wir heizen konnten. Ich hatte aus dem zweiten Stock vorsorglich Brennmaterial hinuntergeworfen, denn geheizt wurde mit dem, was man aus leer stehenden Häusern herausreißen konnte. Darin hatten wir zwei Jahre Erfahrung.

Am nächsten Tag riß ich oben Dielen heraus. Da das Zimmer oben zufällig die gleiche Größe wie unser Zimmer hatte, ging das Verlegen der Dielen recht zügig. Ich glaube, wir waren abends fertig. Am nächsten Tag wurde die Küche gedielt, dann Fenster und Türen eingesetzt. Nach ungefähr einer Woche war die Wohnung mit Flurtür komplett Den Küchenherd hatten wir aus einem leerstehenden Haus geholt. Es war ein transportabler mit einer größeren Platte. Das Wasserwerk arbeitete normal, so daß wir Trinkwasser hatten. Die Leitungen waren in Ordnung. Zum ersten Mal hatten wir auch elektrisches Licht. Die Lampen waren noch nicht ausgebaut worden. Ersatzbirnen waren im zweiten Stock genügend vorhanden.

Wir mußten uns anmelden und bekamen Lebensmittelkarten. Woher wir Geld zum Bezahlen hatten, weiß ich gar nicht. Mutti ging arbeiten, wo und was, weiß ich heute auch nicht mehr. Ich arbeitete im Hafen in der Tischlerei mit Kriegsgefangenen aus Georgenburg zusammen. Ich hatte nichts gelernt und war Hilfsarbeiter, Handlanger. Immerhin bekam ich Lohn. Mit Muttis Lohn zusammen reichte es für den Einkauf der Lebensmittel . Es blieb Geld übrig. Wie Tante Eva das mit ihren fünf Kindern gemacht hat, ist mir heute, wenn ich so nachdenke, ein Rätsel. Rudi wird es nicht wissen und Tante Evas Kinder auch nicht. Alle sind durchgekommen. Wir bekamen, wie die Kriegsgefangenen und auch wie die Russen, 600 Gramm Brot am Tag. Das Brot hatte eine schmackhafte feste Kruste, innen war es ziemlich feucht.

Anfang April hatte ich plötzlich Schmerzen in der rechten Hand. Ich meldete mich krank und ging nach Hause. Die Hand schwoll an und die Schmerzen wurden unerträglich. Wenn ich die rechte Hand in Kopfhöhe hielt, war es nicht ganz so schlimm. Die rechte Hand hochhaltend ging ich zum Landambulatorium in der Elisabethstraße. Die meldeten mich gleich im russischen Lazarett an. Ich mußte also zurück in die Wilhelmstraße bis gegenüber der Post. Der Gang dorthin war eine Qual. Inzwischen war die Hand ganz blank und der Arm bis zum Ellenbogen so dick wie der Oberschenkel. Noch am Abend wurde ich operiert. Ich kam in ein 8-Bett-Zimmer, 7 Russen und ich. Vier lagen an der Fensterseite mit Blick ins Zimmer, vier blickten zum Fenster.

Die Soldaten waren im April 1945 im Kampf um Königsberg verwundet worden. Mir gegenüber, ich lag in einem Bett mit Blick zu den drei Fenstern, hatte der Soldat weder Hände noch Beine, allerdings waren von den Händen ca zwei cm lange Stummel von den Daumen übrig geblieben. Ein Oberschenkel ging bis zum Knie, der andere war etwas kürzer. Er erzählte mir, daß er gesund sei und seit Ende 45 auf eine Prothese warte. Es wären zu viele, die eine bräuchten. Verwundet worden wäre er durch eine Mine. Obwohl alle bettlägerig waren, war es im Zimmer recht lustig.

Meine Operation hatte keine richtige Linderung gebracht. Beim Verbinden sah ich , daß zwei tiefe Wunden auf dem Handrücken waren, die mit Mull vollgestopft waren.

Die Ärzte sahen sich nun die offenen Wunden an und berieten. Als am nächsten Tag das Geschwollene nicht zurückgegangen war, teilte mir der Chefarzt mit, daß die Hand amputiert werden müsse. Ob ich einverstanden wäre? Ich war es nicht, wenn sie mich schon fragten. Gut, sagte er, dann müßte er ohne Narkose operieren. Falls die zweite Operation auch nicht gelänge, müßte die Hand auch ohne meine Einwilligung amputiert werden. Drei Narkosen würde ich kurz hintereinander nicht überleben. Ich wurde im Operationsraum auf einem großen, schweren Stuhl, der am Boden befestigt war, angeschnallt. Der rechte Arm wurde auf einem Gestell befestigt, so daß ich ihn nicht bewegen konnte. alle Schwestern, Pfleger und Ärzte waren anwesend.

Sie stellten oder setzten sich rund um mich hin . Als der Chefarzt mit der Operation begann, rissen alle an meinem Körper, was sie zu fassen kriegten, so daß es richtig weh tat. Besonders die Schwester, die meinen Kopf gefaßt hatte, gab sich alle Mühe, mir Schmerzen zu bereiten. Wie lange die Operation gedauert hat und ob ich immer bei Bewußtsein war, weiß ich heute nicht mehr. Jedenfalls ist diese Operation gelungen und ich behielt meine Hand. Nach einigen Tagen konnte ich aufstehen und mir andere Räume des Lazaretts ansehen. Neben unserem Zimmer war ein ganz kleiner Raum. In diesem lag ein ungefähr 15 jähriger Junge, der mit Handgranaten gefischt haben soll. Das war auch bei den Russen sehr beliebt. Alle Fische in der Nähe des Handgranateneinsatzes schwammen dann oben, man brauchte sie von einem Boot aus nur einzusammeln. Nur wurden auch die kleinen Fischchen getötet. Dieser deutsche Junge war völlig verstümmelt. Ich glaube, er ist nach einigen Tagen verstorben. Zum Lazarett gehörten ungefähr 8 Räume im ersten Stock. Besuch bekam ich nicht. Auch Mutti wußte nicht, wo ich geblieben war. Ich sah keine Möglichkeit, ihr das mitzuteilen.

Einen Tag, bevor ich entlassen werden sollte, bekam ich hohes Fieber, 41 Grad! Wenn ich die Augen zumachte, sah ich Gespenster oben an der Gardine. Wenn ich doch eingeschlafen war, soll ich geschrieen haben. Am Nachmittag gegen 17 Uhr bekam ich Schüttelfrost und danach fror ich fürchterlich. Danach schwitzte ich. Sehr schnell diagnostizierten die Ärzte, daß ich Malaria hätte. Es fehlte wirksame Medizin, Chinin. Nach drei Tagen bekam ich Chinin. Über das Rote Kreuz hatten sie es aus Schweden bekommen.

Ende April wurde ich auf eigenen Wunsch entlassen. Wie der verlorene Sohn kam ich zu Hause an. Ich hatte noch Wochen Malariaanfälle. Nachmittags gegen 5 Uhr mußte ich unbedingt zu Hause sein. Wenn Mutti von der Arbeit zurück war, packte sie mich mit allem, was wir an Betten und Decken hatten, zu. Trotzdem fror ich. Ungefähr eine Stunde später begann ich zu schwitzen. Von Tag zu Tag wurde es besser, bis die Anfälle nach Wochen ganz aufhörten.

Ich war krankgeschrieben und konnte faulenzen. Ich ging spazieren, besuchte die Kriegsgefangenen in der Tischlerei oder ging auf den Basar. Ende Mai fing die Hand wieder an zu schmerzen und wurde dick. Im Landambulatorium wurde die Hand geröntgt. Der Arzt stellte fest, daß der Mittelhandknochen sich durch die Operation verändert hatte. Es hatte sich durch die Beschädigung der Knochenhaut Knochen gebildet, dadurch war der Knochen in der Mitte dicker. Von diesem neuen Knochen hätte sich ein Splitter gelöst, den müßte er entfernen. Das wurde ambulant gemacht, die Hand an der Innenseite nicht weit vom Daumen aufgeschnitten und der Splitter entfernt. Dieses Problem mit den Knochensplittern hatte ich bis 1954.

Mit einem Verband und der Hand in der Schlinge konnte ich nach Hause gehen. Ich war nun weiterhin krankgeschrieben. Als ich mich besser fühlte, ging ich des Öfteren auf den Basar. Dort war es hochinteressant und spannend. Mich interessierte nicht, was es zu kaufen gab, denn ich hatte kein Geld, um was zu kaufen. Nein, die Diebe interessierten mich. Meist waren es drei Mann. Einer hielt außerhalb des Basars Wache. Zwei, ich erkannte mit der Zeit solche Typen sofort, suchten sich ein Opfer aus. Sie gingen sogar so weit, daß sie einen mit einem Mantel bekleideten, wenn er seine Geldbörse in die hintere Hosentasche einsteckte, den Mantel mit einem Rasiermesser aufschnitten und die Geldbörse entnahmen. Nur der eine mit der Geldbörse entfernte sich, der andere schirmte den Dieb ab, indem er den Bestohlenen noch ablenkte.

Am nächsten Tag waren neue Diebe da. Nach Tagen tauchten auch mal mir schon bekannte Diebe auf. Ich mußte aufpassen, daß sie nicht merkten, daß ich sie beobachtete. Sobald ich den Posten ausgemacht hatte, stellte ich mich so hin, daß er mich nicht sehen konnte. Von den Dieben war ich auch immer ziemlich weit weg, damit sie nicht merkten, daß ich sie beobachte. Das war interessant wie in einem spannenden Film. Eines Tages bemerkte ich, daß die Diebe es auf eine mir bekannte deutsche Frau abgesehen hatten. Auf einer Anhöhe vor dem Basar stand ein Milizionär. Ich stellte mich ungefähr zwei Meter von ihm entfernt scheinbar zufällig hin, ohne ihn anzusehen und beobachtete weiter die Diebe. Auf beiden Seiten der Frau stand einer. Ich machte den Milizionär auf die Szene aufmerksam, indem ich ihm sagte, daß am ersten Tisch Diebe wären. Als er da hinsah, hielt der eine Dieb gerade seinen Hut zwischen der Frau und deren Handtasche und wollte mit der Handtasche sich gerade entfernen. Der Milizionär lief schnell auf den Dieb zu und erwischte ihn. Das Pfeifsignal des Postens kam zu spät. Ich machte, daß ich wegkam und war froh, daß die Diebe mich offensichtlich nicht gesehen hatten, als ich den Milizionär informierte. Es war das einzige Mal, daß ich mich eingemischt habe. Das war sehr gefährlich.

Alle 14 Tage mußte ich meinen Krankenschein verlängern lassen.

Inzwischen war es Juni geworden. Ich besuchte wieder die Kollegen im Hafengelände. Die mir bekannten Kriegsgefangenen machten mir den Vorschlag, nach Litauen zu fahren und für sie von ihnen angefertigte Kunstgegenstände zu verkaufen. Ich war nicht abgeneigt. Mutti war auch einverstanden. Ich ließ mir Holzfiguren, Aschenbecher, Zigarettenetuis, Kerzenhalter usw. aushändigen und fuhr mit dem Zug über Gumbinnen bis an die Grenze, bis Kybartai.

Wohin sollte ich mich wenden? Ich ging vom Bahnhof erst einmal nach rechts weg. Irgendwo bog ein Weg nach links ab. Als ich den Ort verlassen hatte, sah ich weiter vorne Einzelgehöfte. Das war schon mal richtig, denn ich wollte zu Bauern. Ich steuerte auf ein Gehöft auf der rechten Seite des Weges zu. Ein Hund an einer langen Kette, die an einem Seil , das über den ganzen Hof gespannt war, lief, konnte jeden Punkt des Hofes erreichen. Der Hund bellte mich laut an, an ihm war nicht vorbeizukommen. Der Bauer ließ sich sehen und fragte nach meinem Anliegen. Er sprach wie ein Deutscher. Als ich ihm sagte, woher ich käme, ließ er mich auf den Hof und ins Haus. Ich kam bald zur Sache und zeigte ihm und seiner Frau die mitgebrachten Sachen der deutschen Kriegsgefangenen, und daß ich sie verkaufen sollte und auch wollte. Seine Frau und er versprachen mir sofort, daß sie mir einiges abkaufen würden.

Wenn ich Zeit hätte, könnte ich über Nacht bleiben. Besseres konnte mir nicht passieren. Wer weiß, sagte ich mir, ob ich noch einmal solche netten Leute finden würde. Ich konnte ihm nun bei seiner Arbeit zusehen. Wenn es möglich war, faßte ich auch mit an. Kaffeezeit gab es Kaffee und Kuchen. Wann hatte ich zum letzten Mal Kuchen gegessen? Im Januar 1945 bei Oma, erzählte ich meinen Gastgebern. Dann wurden die Tiere versorgt. Darüber wurde es Abend. Zum Abendessen lernte ich dann eine Oma kennen. Kinder waren nicht im Haus. Es war eine große Stube, in der Mitte stand ein niedriger Ofen mit einer Ofenbank rundherum. An der Nordseite des Zimmers stand ein Webstuhl. Links von der Eingangstür, es gab keinen Flur oder Vorbau, war ein größerer Drahtkäfig, in dem waren kleine Entchen, ob auch Gänschen, weiß ich nicht mehr.

Der lange Eßtisch stand, wenn man von draußen reinkam, in der rechten Ecke des Zimmers. An den Wänden war eine Eckbank. Auf der Eckbank nahmen Oma, die Hausfrau und ihr Mann Platz. Ich bekam einen bequemen Stuhl an der langen Seite des Tisches, wo noch mindestens drei Personen Platz gehabt hätten. An der Wand zwischen Tisch und Webstuhl stand ein großer Stuhl, auf dem ein rundes Etwas mit einem weißen Tuch zugedeckt lag. Ich weiß das deshalb alles so genau, weil das für mich ein ganz außergewöhnlicher Tag war. Fremde Leute, dazu Litauer, hatten mich freundlich aufgenommen, bewirteten mich, und ich durfte bei ihnen übernachten. Nicht zu glauben, aber wahr. Und nun erst das Abendessen!! Speck, Wurst, Butter, Käse und was weiß ich, wurden aufgetischt. Dann nahm der Hausherr das Tuch von dem runden Etwas und zum Vorschein kam ein großes rundes Brot, vielleicht über 50 cm im Durchmesser und 15 bis 20 cm dick. Ein solches Brot hatte ich noch nicht gesehen. Mein Gastgeber stellte das Brot aufrecht hin und fing an zu schneiden. Aber nicht etwa Scheiben! Eine große Ecke für Mama, eine große Ecke für Papa, aus der Mitte ein Stück mit wenig Kruste für Oma, nun ein großes Stück vom Ende für mich. Vom Brot brach sich jeder passende Stücke ab. In die linke Hand nahm ich nun ein großes Stück Speck, von dem ich mir wie alle außer Oma immer einen Happen abschnitt, dazu nahm ich ein Stückchen Brot. Was ich noch gegessen habe, ist mir entfallen. Aber, was ich getrunken habe, weiß ich ganz genau. Es war selbst gebrannter Schnaps! Zwei fast volle Wassergläser habe ich auf die Gesundheit und auf eine bessere Zukunft getrunken. Ich hatte in meinem Leben noch keinen Schnaps getrunken und kannte die Wirkung nicht. Papa und seinen Freund Wohlgemut hatte ich schon mal betrunken und lallen gesehen und gehört. Nun fing sich um mich alles zu drehen an. Die Frau merkte, daß mit mir etwas nicht in Ordnung war und führte mich in die Küche. Dort war für mich auf einer Liege ein Lager vorbereitet.

Vorsorglich bekam ich eine Schüssel, die ich bald auch benutzte. Ich habe mich mal wieder weder ausgezogen noch gewaschen. Fast die ganze Nacht konnte ich nicht schlafen, alles drehte sich.

Ich glaube, ich hatte mir vorgenommen, keinen Schnaps mehr anzurühren, vielleicht auch nur keinen Selbstgebrannten. Am Morgen kauften mir die netten Litauer fast alles ab, was ich mitgebracht hatte. Sie akzeptierten auch die Preise, die ich im Auftrag der deutschen Kriegsgefangenen nannte. Für die Deutschen täten sie alles, für die Russen nichts. Die Litauer müssen also während des Krieges gute Erfahrungen mit den deutschen Soldaten gemacht haben. Meine Gastgeber sagten mir auch, zu welchen Litauern ich gehen sollte, um den Rest zu verkaufen. Anschließend könnte ich zurückkommen und wieder bei ihnen übernachten. Sie wollten mir noch Lebensmittel mitgeben. So habe ich das dann auch gemacht. Bei zwei Bauern wurde ich alles los. Zu dem letzten Bauern sollte ich bald wiederkommen, er bräuchte Geschenke. Da könnte ich auch übernachten. Ich hatte also schon eine zweite Schlafstelle in Litauen. Besser konnte es nicht gehen. Ich kehrte zur ersten Familie zurück. Vieles war wie am ersten Tag. Am Abend gingen wir an einen Bach. Der Bauer stieg ins Wasser, zog seinen Jackenärmel über die rechte Hand und steckte sie ins Wasser. Ich machte mir so meine Gedanken, was das wohl werden sollte. Als er die Hand nach kurzer Zeit herauszog, hingen an seinem Jackenärmel mehrere Krebse mit ihren Scheren fest am Ärmel. Er warf sie in den mitgebrachten Eimer und wiederholte den Vorgang. Es klappte wieder. Es grenzte an Zauberei. Er muß etwas in der Hand gehabt haben, daß die Krebse anzog. Als der Eimer halb voll war, machten wir uns auf den Rückweg. Die Hausfrau überbrühte die Krebse. Sie sahen nun rot aus. Zum Abendbrot kamen die Scheren auf den Tisch.

Wie die Frau die Krebse weiter bearbeitet hat, ob sie gekocht worden sind, weiß ich nicht, habe ich nicht gesehen. Die Scheren jedenfalls, die schmecke ich heute noch, die haben vorzüglich geschmeckt. Getrunken habe ich nur Tee und Wasser.

Am nächsten Morgen bekam ich Brot, Speck, Butter, Mehl und Eier mit. Ich dürfte jederzeit wiederkommen. So beschenkt ging ich zum Bahnhof. Mit einem Güterzug gelangte ich nach Insterburg, wo ich noch früh am Tage ankam. Die Freude bei Mutti und Rudi war groß. Eine angemessene Summe vom Geld konnte ich für mich behalten. Den Soldaten teilte ich nun den Verkaufserfolg mit. Ich sollte für das Geld Tabak kaufen.

Für die nächste Woche vereinbarten wir wieder ein Treffen. Ich brachte Tabak.

Wieder hatten die Soldaten des Gefangenenlagers wunderschöne Kunstgegenstände hergestellt, sowohl aus Holz als auch aus Metall. Zusätzlich sollte ich zwei Wolldecken mitnehmen. Die hatten sie bestimmt abgezweigt, um nicht zu sagen, geklaut. Wir vereinbarten für alles einen Preis, der meiner Meinung nach nicht zu hoch war. Am nächsten Tag fuhr ich wieder nach Litauen. Ohne zu bezahlen! Wie machte ich das? An den Personenzug nach Kybartai wurden Güterwagen angehängt. Ich wartete, bis ich sah, wo der Schaffner einsteigen wollte. Zunächst stieg er in einen Personenwagen ein, ich in einen Güterwagen. In Gumbinnen stieg ich sicherheitshalber aus. Wenn er durch außen auf den Trittbrettern herumturnen alle Personenwagen kontrolliert hatte, stieg er in einen Güterwagen. Ich konnte dann in einen Personenwagen steigen, weil er aus einem Güterwagen vor dem nächsten Bahnhof nicht heraus konnte. So ging das Spielchen bis Kybartai weiter, wo ich aussteigen wollte und mußte. Ich hatte 10 Rubel gespart, das waren gut drei Kilogramm Salz.

Ich suchte die mir schon bekannten Bauern auf und wurde einiges los. Ich ging nun den Weg weiter. Ungefähr zwei Kilometer von Kybartai entfernt stand ein größeres Gehöft auf der rechten Seite des Weges. Ich ging also darauf zu, es war kein Hund und kein Schwein zu sehen. Die Haustür war auf und ich ging hinein. Ich wußte nicht wohin. Es waren mehrere Türen , und links führte eine Treppe nach oben. Ich klopfte von innen an die Tür und rief etwas, wahrscheinlich hallo. Oben wurde eine Tür geöffnet und zwei Männer kamen heraus. Sie sahen mich wie überrascht an und schauten nur. Hinter mir ging die Tür von draußen auf, und ein junger Mann kam herein. Die von oben schimpften ihn lautstark aus.

Ich verstand von dem kein Wort, nur begriff ich, daß der von draußen Gekommene etwas falsch gemacht haben mußte. Später erfuhr ich, daß er entgegen der Anweisung der Hausbewohner die Tür aufgelassen hatte, als er mal kurz nach draußen gegangen war, wo auch der Kaiser zu Fuß hingeht. Nur durch Zufall war ich also ins Haus gekommen. Ich mußte nun nach oben. Dort wurde ich von mehreren Männern umringt, denn aus der offenen Tür waren noch zwei oder drei herausgekommen. Mit einem flüchtigen Blick sah ich, daß der Raum voller Destillierapparate war. Nun wurde mir doch etwas mulmig. Ich begriff, daß ich in eine illegale Schnapsbrennerei geraten war. Na, heiliger Strohsack! Wie das wohl ausgehen wird, schoß es mir durch den Kopf.

Die jungen Männer, alle so um die Dreißig, nahmen mich nun ins Kreuzverhör. Sie müssen dann begriffen haben, daß ich harmlos war. Sie gaben die Umzingelung auf und wohl auch ein bißchen stolz erklärte mir einer, wohl der Boß, wo ich mich befände und was sie hier täten. Er teilte mir mit, daß ich hierbleiben müßte, bis sie mich nach ihrer Meinung gehen lassen könnten. Das könnte einige Tage dauern. Ich war mit allem einverstanden, ich hatte ja Zeit. Es war sogar alles ein bißchen spannend, wie in einem schlechten Kriminalfilm. Ich konnte mir nun alles ansehen, wie es zischte und dampfte, wie es überall tropfte. Einer war beim Abfüllen von Hochprozentigem in Halbliterflaschen. Ich bekam wie die anderen zu essen und zu trinken. Das Abendbrot war einfacher als bei den Bauern. Auch hier gab es Alkohol, davon hatten sie reichlich.

Ich erzählte ihnen von meinem ersten Abend in Litauen und den Folgen der Trinkerei. Sie amüsierten sich köstlich. Am liebsten hätten sie mich auch besoffen gemacht. Ich war natürlich vorsichtig und verdünnte mein Getränk mit Wasser. Sie fanden das nicht richtig, mit von ihnen Produziertem so umzugehen, akzeptierten aber mein Tun. Ich mußte ihnen nun von unserem Leben unter den Russen erzählen. Da ich schon gemerkt hatte, wie verhaßt die Russen hier waren, kam in meinem Bericht hauptsächlich das Negative vor.

Ich habe mich damals gewundert, daß fast alle Litauer so gut deutsch sprachen. Heute weiß ich, daß das Gebiet zwischen Kaunas und bis südlich von Bialystock als Neu-Ostpreußen noch Ende des 18. Jahrhunderts zu Ostpreußen gehört hat. Vielleicht haben sie sich früher als Deutsche gefühlt. Jedenfalls Junge und Alte konnten Deutsch, davon konnte ich mich auch später bei anderen Litauern überzeugen. Wahrscheinlich spielte hier auch die nahe Grenze eine Rolle. Im kleinen Grenzverkehr wurden früher, das erzählten mir Bauern, viele Waren in Ostpreußen verkauft, z.B. Hühner, Gänse, Enten, Butter und Eier.

Ich bekam auf einer Liege ein Nachtlager. In der Nacht wurde ich von einer Schießerei nicht weit vom Haus wach. Bald war wieder alles ruhig. Am Morgen erfuhr ich, daß ganz in der Nähe ein Überfall von Partisanen stattgefunden hätte. In den Wäldern würden Menschen leben, die von den Russen gesucht würden. Darunter solche, die mit den Deutschen zusammengearbeitet hätten und deutsche Soldaten und SS-Angehörige.

Vielleicht hatten diese jungen Männer auch Kontakt zu den Waldbewohnern oder gehörten sogar dazu. Sie wußten mir zu gut Bescheid. Viel später habe ich erfahren, daß die Waldbewohner in Litauen noch in den fünfziger Jahren gesucht und bekämpft wurden. Am nächsten Vormittag kauften diese Litauer mir alles ab, was ich bei mir hatte. Ich hatte schon einen höheren Preis, als ich sollte, gefordert, trotzdem zahlten sie mir fast das Doppelte von dem Verlangten. Ich war also an sehr reiche Litauer geraten. Sie müssen der Meinung gewesen sein, daß von mir keine Gefahr mehr ausgehen würde und ließen mich gehen.

Aber sie wiesen eindringlich darauf hin, daß ich mit niemand darüber sprechen sollte, was ich gesehen hätte. Ich ging nun zügig zum Bahnhof, ohne bei dem ersten Bauern einzukehren. Ich wollte auch der Familie nicht erzählen, was ich erlebt hatte.

Personenzug nach Insterburg war weg. Ein Güterzug stand nicht. Aber ein Schnellzug aus Moskau in Weiterfahrt nach Königsberg war angekündigt. Es dauerte gar nicht lange, da traf der “Blaue Expreß”, so wurde der Schlafwagenzug genannt, ein. Ich versuchte, in einen Wagen einzusteigen, wurde aber von einer Deschurnaja zurückgewiesen. Ich versuchte es in einem anderen Schlafwagen, auch da hinderte mich der Schaffner am Einsteigen. Nun sah ich, daß in jedem Schlafwagen ein Schaffner oder eine Schaffnerin war. Was also machen? Ich ging auf die andere Seite des Zuges und beobachtete einen Schaffner. Er ging in dem Schlafwagen, wo er verantwortlich war, hin und her, von einer Tür zur anderen. Als das Pfeifsignal für die Abfahrt ertönte, und der Zug sich in Bewegung setzte, stieg ich an der unbewachten Tür schnell ein.

Der Schaffner kam und fragte nach dem Billett. Daway biljet! Ich hatte keinen Fahrschein. Dann müßte ich auf der nächsten Station aussteigen, sagte er barsch. Ich versuchte noch zu handeln, damit er nicht merkt, daß er mich gar nicht bestraft. Die nächste Station war Insterburg, dort wollte ich hin. Besser war ich noch nie gefahren. Auf einem Notsitz fand ich einen guten Platz.

Ich war sehr früh zu Hause, einmal ohne Lebensmittel. Dafür hatte ich etwas Geld, um auf dem Basar etwas zusätzlich zu kaufen. Ich brachte meinen Auftraggebern ihren mit mir vereinbarten Tabak. Ich erfuhr, daß es diesmal mit den Gegenständen etwas länger dauern würde, bis es sich lohnen würde, nach Litauen zu fahren. Ab August 1947 konnten oder mußten auch die deutschen Kinder die Schule wieder besuchen. Rudi kam, obwohl er 10 Jahre alt war, in die erste Klasse und lernte Russisch, Deutsch, Rechnen und Schreiben. Rudi war schon Ostern 1943 eingeschult worden. Mutti und ich brachten ihn morgens hin. Die Einschulung wurde mit einem Fahnenappell eröffnet. Es wurde das Horst – Wessel- Lied gesungen. der rechte Arm mußte von allen, auch von den Kleinsten, zum Hitlergruß erhoben werden. Als anschließend noch das Deutschlandlied gesungen wurde, der Arm immer noch oben bleiben mußte, drehte Rudi sich Hilfe suchend zu Mutti um und sagte leise :” Mutti, ich kann nicht mehr.” Von denen, die es gehört hatten, amüsierten sich einige, es gab aber auch Kopfschütteln. Mutti, die hinter Rudi stand, sagte ihm leise, er solle die linke Hand zu Hilfe nehmen.

Ich wollte schon lange den Schulkameraden aus Nettienen in Litauen besuchen. Ich packte einige Gegenstände, die ich für mich behalten und aufgehoben hatte, ein und fuhr wie üblich nach Kybartai. Ich wollte eigentlich nach Wilkowischken, aber die Bahner sagten mir, daß dorthin heute kein Zug führe. Also lief ich die 20 km zu Fuß. In Wilkowischken kannte ich mich aus, denn ich hatte1944 beim Spatendienst einige Lebensmitteltransporte mit einem litauischen Bauernwagen von Wilkowischken in das Dorf, wo ich hinwollte, begleitet, sogar mit einem Kleinkalibergewehr bewaffnet. Was wir mit dem Ding wohl sollten? Die Litauer in Schach halten? Partisanen in die Flucht schlagen? Ich trug mein Gewehr mit einem gewissen Stolz und einem Gefühl der Überlegenheit. Ich erkannte den Weg dorthin sofort. Die letzten 20 km von insgesamt 40 km legte ich teils zu Fuß teils per Anhalter auf Pferdewagen zurück, denn ein Auto verirrte sich hierher bestimmt nicht, dafür gab es zu wenige Autos, und wenn, dann Militärfahrzeuge. Was sollten die in diesem abgelegenen Ort?

Am Abend erreichte ich das Dörfchen völlig kaputt. Oh Schreck, das Gehöft, in dem wir 1944 untergebracht waren, existierte nicht mehr, war abgebrannt. Wo war mein Schulkamerad? Wo sollte ich ihn suchen? Erst einmal mußte ich mich um ein Nachtquartier kümmern. Ich ging zum nächsten Gehöft, erzählte dem Bauern von 1944, daß mein Schulkamerad hier gute Menschen kennen gelernt hätte, und daß er 1945 im Sommer hierher zu der Familie wollte, die ihn 1944 so gut aufgenommen und betreut hätte. Ich wollte ihn hier besuchen, nun wäre das Gehöft nicht mehr da. Vielleicht könnte ich hier übernachten? Es wäre kein Problem, aber ich sollte erst einmal in der nächsten Häuserreihe nachfragen, da wäre 1945 ein deutscher Junge aufgenommen worden.

Ich nichts wie hin! Ich fragte dort nach einem deutschen Jungen in meinem Alter. Damals wußte ich auch seinen Namen. Als er seinen Namen hörte, kam er neugierig um die Ecke. Wir haben uns sofort erkannt und entsprechend begrüßt. Ich konnte natürlich bleiben und wurde herzlich von der ganzen Familie hinein gebeten. Sie hatten schon gegessen, denn es war schon reichlich spät. Ob ich viel gegessen habe, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß ich froh war, ihn gefunden zu haben, und daß sich der weite Weg gelohnt hatte. Ich mußte erzählen, er mußte erzählen. Es wurde sehr, sehr spät. In seinem Zimmer hatten die netten Litauer mir ein Nachtlager aufgeschlagen, so daß wir noch lange nicht zur Ruhe kamen.

Am nächsten Tag sollte mein ehemaliger Schulkamerad aus Georgentaler Zeiten ursprünglich Holz sägen. Mir zu Ehren wollten sie ihm freigeben. Ich weiß noch, daß ich darauf bestand, daß wir gemeinsam mit einer Zugsäge sägen, und so wurde es auch gemacht. Vielleicht wollte ich auch, daß ich bei den Gastgebern einen Stein im Brett habe. Bis Mittag waren wir mit der Sägerei fertig, so daß wir am Nachmittag Holz hacken konnten. Es blieb genügend Gelegenheit zum Erzählen. Ich durfte einige Tage, eigentlich sagten sie mir, solange ich wolle, dableiben, aber ich antwortete ihnen, daß meine Mutter und mein Bruder sich sicher Sorgen machen würden, wenn ich länger bliebe. Aber eine Woche würde ich schon gerne bleiben. Ich könnte hier dann Urlaub machen und mir die schöne Landschaft ansehen.

Am nächsten Tag marschierte ich tatsächlich alleine los. Ich kam bis Mariampol und am nächsten Tag bis Kalvaria. Es war eine Bilderbuchlandschaft, mit Mischwäldern, Hügeln und kleinen Seen. Es waren Tagesmärsche. Nach Kalvaria waren es z.B.20 km, Abweichungen nach rechts und links, dann noch zurück,da kamen gut und gerne 50 km zusammen. Am nächsten Tag genau soviel. Die angenehme Woche ging herum. Ich wollte mich früh auf den Weg machen, denn vor mir lagen wieder 40 km. Ich hatte gut trainiert, aber nicht mit schwerem Gepäck.

Was die mir alles eingepackt haben, das ging auf keine Kuhhaut. Ich konnte gar nicht alles mitnehmen, es war zu schwer. Der Rucksack wurde vollgepackt und eine Tasche, mehr ging nicht. Ich hatte von allem, was die Speisekammer hergab. Speck, Wurst, Käse, Schmalz, Butter, Eier und und und. Ich wollte wiederkommen, um den Rest zu holen, daraus ist leider nichts geworden. Ich habe auch nichts mehr von dem Schulkameraden gehört. Ich kann mir denken, daß er in Litauen geblieben ist. Ich marschierte nun wie ein Packesel nach Wilkowischken, die Tasche mal in der einen Hand, mal in der anderen. Wenn ich an den noch weiten Weg bis Kybartei dachte, wurde mir bald schlecht. Insgesamt waren es 40 km, ich kann das gar nicht oft genug wiederholen, ich habe noch öfters daran gedacht.

Gegen Mittag sah ich die Silhouette von Wilkowischken. Als ich nicht mehr weit vom Bahnhof, auf dem wir im Juli 1944 angekommen und wieder abgefahren waren, von dem ich mehrmals Verpflegung für rund tausend Mann abgeholt hatte, entfernt war, sah ich zu meiner Verwunderung einen Güterzug stehen. Ich beschleunigte, soweit ich das noch konnte, meine Schritte. Die Lokomotive war auf der Seite nach Kybartei vorgekoppelt, das war schon mal richtig. Wie lange wird er noch stehen bleiben? schoß es mir durch den Kopf. Wird sich mein schnelles Gehen lohnen? Laufen konnte ich mit dem Gepäck nicht! Als ich noch wenige Meter vom Zug entfernt war, pfiff die Lokomotive, und der Zug setzte sich in Bewegung. Mit letzter Kraft erreichte ich den Zug, warf meine Tasche auf den offenen Waggon und versuchte, mich mit dem Rucksack auf dem Puckel über den Puffer zu werfen. Es gelang, aber der Rucksack zog mich zurück. Ich erfaßte blitzschnell den Rand vom halbhohen Waggon und zog mich mit letzter Kraft und in Todesangst auf den Puffer, so daß ich endlich zum Sitzen kam. Nun konnte mir nichts mehr passieren. Der Rucksack zog mich nach hinten in eine sichere Sitzposition, in der ich mich erst einmal erholen konnte.

Erst jetzt nahm ich die Leute auf der Plattform zum Nachbarwaggon wahr.

Man sah, daß sich die Gesichter der Männer und Frauen entspannten. Sie fingen nun laut zu schnattern an. Sie schienen sich auch über etwas zu freuen. Keiner hatte mir geholfen! Hätten sie mir überhaupt helfen können? muß ich mich fragen. Ich glaube nicht. Alles ging sehr schnell. Helfer hätten über ein Gitter klettern und dann vom Puffer aus zupacken müssen. Lebensgefährlich! Ich nahm nun den Rucksack langsam ab und bugsierte ihn über den Rand des Waggons. Dann kletterte ich dem Rucksack hinterher. Jetzt konnte ich die Fahrt genießen und darüber nachdenken, was ich mal wieder gemacht hatte. Erst jetzt wurde mir bewußt, daß ich genau so gut unter die Räder hätte kommen können. Nicht auszudenken! Die wichtigen Lebensmittel, die ich bei mir hatte, wer hätte sie dann Mutti und Rudi gebracht? Jedenfalls hatte ich 20 km Fußmarsch weniger als gedacht, als eingeplant.

Der Güterzug fuhr nach Insterburg mit Unterbrechungen durch, aber dann weiter nach Königsberg. Abends war ich zu Hause. Ich wurde sehnsüchtig erwartet, meine mitgebrachten Schätze bestaunt. Tante Eva mit ihren fünf Kindern bekam immer etwas ab, diesmal wesentlich mehr.

Nun hatte Tante Eva die Idee, Klaus und Günter auch nach Litauen zu schicken, um nach Lebensmitteln Ausschau zu halten. Erika war schon irgendwo in Litauen in Stellung. Klaus war10 Jahre und Günter 11 Jahre alt. Sie fuhren mit dem Güterzug über Kybartai und Wilkowischken bis Kaunas. Günter hatte Wasser im Körper oder nur in den Beinen, so genau weiß ich das nicht, und kam kaum voran. Auf dem Marktplatz in Kaunas am Springbrunnen kauerten sie sich hin und haben wohl geweint, so daß eine gute Frau auf sie aufmerksam wurde und sie über das Woher und Wohin befragte. Sie nahm beide mit und pflegte sie. Nach einer Woche ungefähr wollten sie nach Hause zu ihrer Mutti, die würde sich doch Sorgen machen. So war es auch. Ich sollte in Litauen nach ihnen Ausschau halten. Ich sollte auf dem Bahnhof oder Basar Klaus und Günter suchen.

Es war die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen.

Nach gut 14 Tagen ging es Günter so gut, daß die Frau die beiden Jungen gehen lassen konnte.

Mit einem Güterzug kamen sie nun auch schwer bepackt in Insterburg wohlbehalten an. Tante Eva war sehr froh und ließ sie bald wieder fahren.

Anfang September bekam ich so viele hergestellte Souvenirs von meinen Georgenburger Freunden, daß sich eine Fahrt lohnte. Ich wurde die Gegenstände wie üblich schnell los, und ging am nächsten Tag vor der Heimfahrt erst einmal auf den Kybartaier Basar. Und wen traf ich da? Zufälle gibt´s! Am zweiten oder dritten Stand vorne links, ich weiß es noch wie heute, kam mir der Russe aus dem Insterburger Lazarett entgegen. Ich traute meinen Augen nicht, aber er konnte fast normal gehen. Kamerad, tie? Sto tie sdes delagesch? kam er mit ausgebreiteten Armen auf mich zu und erdrückte mich fast. Er, den ich in Insterburg ohne Beine gesehen hatte, hatte nun endlich seine Spezialprothesen bekommen. Immerhin mußte er zwei Jahre auf die warten. Ich freute mich sehr, daß er, wie schon in Insterburg, voller Lebensfreude war und von seinen Zukunftsplänen schwärmte.

Er war zur Zeit Obsthändler und wollte hoch hinaus. Als Schwerverwundeter hatte er Narrenfreiheit. Er konnte beliebige Preise für Obst und Gemüse verlangen, Hauptsache die Leute bezahlten. In der Ukraine, in Weißrußland oder Moldawien kaufte er z.B. billig Äpfel auf und ließ sie in Litauen oder Ostpreußen teuer verkaufen. An seinem Stand in Insterburg, erfuhr ich später, kostete ein Apfel ein Rubel; das war ganz schön teuer. Er wollte mir etwas Gutes tun und lotste mich an einen Stand mit Selbstgebranntem. Seine Brusttaschen quollen von den vielen Rubelchen fast über. Ich mußte entsprechende Scheine zum Bezahlen herausnehmen, das war für ihn einfacher. Er war nämlich nicht mehr ganz alleine. Viel hatte er wohl noch nicht getrunken, aber jetzt merkte ich es ihm an. Ich sollte mehr trinken als er. Kamerad, piet, piet, daway, daway. Was sollte ich machen?

Ich trank und trank, er ließ nicht nach. Er war ein bißchen lauter geworden, so daß ein Milizionär auf ihn aufmerksam wurde.

Der Milizionär faßte ihn an, er riß sich los, der Milizionär nahm ihn mit und ich stand da. Ich konnte mich bei dem Russen nicht bedanken, ich konnte mich nicht von ihm verabschieden. Also trollte ich mich und ging zum Bahnhof. Als ich um die Ecke des Bahnhofsgebäudes kam, standen mir da zwei Lichtmasten im Weg. Mir war aber so, als wenn da nur einer sein durfte. Sonst war da nur ein Mast, nun zwei! Schlimm war nur, daß die Masten , wie ich auch ging, immer vor mir waren. Wenn ich auf sie zuging, war da scheinbar kein Durchkommen. Wenn ich mich von den Masten entfernte, war der Durchgang zwischen den Masten meiner benebelten Meinung nach breit genug. Was also tun? Ich nahm einfach Anlauf und versuchte die Masten zu überlisten. War nix! Ich rannte mit dem Kopf irgendwo gegen. Nun sah ich, daß es wirklich nur ein Mast war. Zum ersten Mal in meinem jungen Leben hatte ich doppelt gesehen. Ich kann mich nicht erinnern, ob das je wieder der Fall war. In dem Zustand konnte ich nicht mit einem Güterzug, oder womit auch immer, bis nach Insterburg fahren.

Ich torkelte zum nächsten mir bekannten Bauernhof und bat um eine Schlafstelle. Die Familie, Vater, Mutter und Tochter, waren bei den Vorbereitungen , um im Nachbarort an einer Hochzeitsfeier teilzunehmen. Ich könnte doch mitkommen. Ich machte sie auf meinen jämmerlichen Zustand aufmerksam, und sie hatten ein Einsehen. Ich konnte mich im Wohnzimmer in ein Bett legen, sie fuhren los. Morgens kamen sie angeheitert zurück und bedauerten mich, daß ich nicht hätte teilnehmen können. So waren die Litauer!

Nach dem Frühstück bedankte ich mich, bekam noch was mit und verabschiedete mich. An diesem Tag war noch kein Zug angekündigt. Kein Güterzug, kein blauer Expreß. Um eine Lokomotive auf einem Nebengleis standen ein paar Russenjungs herum. Ich gesellte mich zu ihnen. Bald hatte ich heraus, daß die Lokomotive mindestens bis Insterburg fahren sollte. Warum nicht. Die Russenjungs stiegen auf den Heizungsvorrat, ich stieg auf den Heizungsvorrat. Da würde ich ganz schön dreckig in Insterburg ankommen, sinnierte ich. Aber, schlecht gefahren ist besser, als gut gelaufen. Als wir durch den Bahnhof Gumbinnen fuhren, sah ich, wie der Mann mit der roten Mütze ganz entsetzt kuckte und schnurstracks im Bahnhofsgebäude verschwand. Unser Lokführer hatte das nicht gesehen, und ich machte ihn darauf aufmerksam. Ich nahm an, daß wir in Insterburg Schwierigkeiten bekommen würden.

So war es auch. Auf dem Güterbahnhof wollte uns der Lokführer absteigen lassen, aber einige Bahnpolizisten waren schon da und nahmen uns fest. Wir wurden erst einmal befragt. Stotakoi, tie nemce? Was ist das, du Deutscher. Als ich meinen Krankenschein zeigte und einen festen Wohnsitz nachweisen konnte, darauf achteten die Bahnpolizisten und die ordentlichen Polizisten sehr, konnte ich gehen. Die Russenjungs nahmen sie mit.

Wenn ich in Insterburg war, ging ich nach wie vor auf den Basar, wenn ich nicht gerade zur Poliklinik zum Arzt mußte, weil mir meine Hand immer wieder Probleme bereitete. Außerdem brauchte ich die Krankschreibung.

Abends ging ich oft ins Kino. Es wurden russische Filme mit deutschen Untertiteln gezeigt. Oft aber auch deutsche Filme mit russischen Untertiteln, dann hatte ich es gut. Ich kann mich an Filme mit Heinz Rühmann, Marika Röck, Hans Albers, Theo Lingen, Hans Moser und Paul Klinger erinnern. Ich habe solche Filme wie “Feuerzangenbowle”, “Quax, der Bruchpilot”, “Wenn der weiße Flieder wieder blüht”, “Dick und Doof” und viele andere gesehen . Das große Kino am Neuen Markt, die “Alhambra”, war abgebrannt. Im Lichtspielhaus in einer Nebenstraße der Hindenburgstraße wurden die Filme gezeigt. Übrigens, russische Buchstaben lernte ich an Straßennamen kennen.

Gleich nach dem Krieg stand auf den Dorfschildern der deutsche Ortsname, darunter die wörtliche Übersetzung. Russische Buchstaben kann ich hier auf dem Computer nicht schreiben, um Beispiele zu nennen. Auf meinem Krankenschein stand mit russischen Buchstaben

Gerxard Xelmstat. Das konnte ich lesen. Manchmal stand mein Name auch etwas anders geschrieben, weil die Buchstaben und Laute etwas anders waren.

Ende September fuhr ich wieder nach Litauen. Mir fiel ein, daß in Insterburg 1 kg Salz 3 Rubel und in Kybartai 10 Rubel kostete. Ich fragte den Bauern, bei dem ich schon oft gewesen war, was er für Salz zahlen würde, wenn ich es ihm brächte. 10 Rubel koste Salz in Litauen, also bekäme ich das auch. Ich müßte immerhin das Salz noch heranschleppen. Zum Schlachten würde viel gebraucht. So wurde ich noch Salzhändler. Hier hatte ich je Kilogramm 7 Rubel Reinverdienst. Ich schleppte nun jedes Mal so 20 kg Salz nach Litauen, denn auch andere, wenn auch nicht alle, die ich kannte, wollten Salz. Auf der Hinfahrt machte ich es nach wie vor so, daß ich in einen Güterwagen stieg, meinen Rucksack in einer Ecke ablegte und dort einstieg, wo der Schaffner während der Fahrt nicht hinkonnte.

Zum Verkauf der Gegenstände mußte ich mich immer weiter von Kybartai entfernen, aber in eine andere Gegend zu fahren, sah ich nicht für notwendig an. Die Schnapsbrennerei existierte meiner Ansicht nicht mehr, jedenfalls kam ich in das Gebäude nicht mehr hinein. Keiner meldete sich auf mein Klopfen. Die Nachbarn schwiegen sich aus. Nach Insterburg fuhr ich mit den gewohnten Zügen. Mit einer Lok nicht mehr, da wurde man zu schmutzig. Anfang November fuhr ich auf einem offenen Güterzug nach Hause. Auf dem Güterwagen waren einige Russen, mit denen ich ins Gespräch kam, denn die Fahrt dauerte um die 2 Stunden, je nachdem, wie oft der Zug halten mußte, wenn Gegenverkehr war, denn die Strecke war teilweise eingleisig in Breitspur. Wir kamen also ins Gespräch, und bald merkten die Russen, vielleicht auch Ukrainer, Weißrussen und was weiß ich für Leute, daß ich Deutscher bin. Tie nemce, karascho! Und aufgeregt teilten sie mir mit, daß Stalin beschlossen hätte, daß die Deutschen aus Ostpreußen ausreisen könnten. Damoi, damoi. Nach Hause, nach Hause. Eigentlich war ja hier unser Zuhause, aber ich verstand schon. Wenn wir mit Vatern und den Verwandten wieder zusammenkommen wollten, mußten wir nach Deutschland in die Ostzone.

Ob die Russen sich wirklich freuten, daß wir ausreisen konnten, oder ob sie nun froh waren, die Deutschen loszuwerden, weiß ich nicht genau.

Jedenfalls kamen am nächsten oder übernächsten Tag von der Kommandantur Offiziere mit Dolmetscher zu allen Deutschen. Die Personalien wurden aufgenommen, und zum Schluß fragten sie uns, ob wir ausreisen oder bleiben möchten. Wenn wir bleiben möchten, wäre das kein Problem, wir müßten allerdings Sowjetbürger werden. Für uns und Tante Eva war das keine Frage, wir wollten ausreisen. Tante Evas Kinder waren auch wieder alle da. Ich wäre aber gerne noch einmal nach Litauen gefahren. Ich hatte mich bei keiner Familie bedankt und mich von keiner Familie verabschiedet. Das machte mir ein bißchen Sorge. Was sollten die von mir denken! Außerdem warteten noch zwei Familien auf Salz. Mußten sie eben wieder selber Salz vom Basar holen. Einen Preisvorteil hatten sie bei mir nicht gehabt. Was solls.

Mitte November sollte es losgehen. Am frühen Morgen sollten wir uns bereithalten. Es wurde genau vorgeschrieben, was wir mitnehmen durften. Viel hatten wir nicht. Die Packerei war bald beendet. Was sollte ich machen? Ich ging über den zerstörten Markt Richtung Bogenbrücke über die Angerapp. Unterwegs traf ich ein Mädchen, etwas jünger als ich. Ich hatte das Mädchen schon manchmal von weitem oder im Kino gesehen, wir waren aber nie ins Gespräch gekommen. Mit Mädchen hatte ich nichts im Sinn. Mit denen wußte ich nichts anzufangen. Außerdem hatte ich eine Knabenmittelschule besucht. Auf den Gütern, wo wir vorher waren, waren keine Mädchen in meinem Alter oder älter. Vielleicht waren die auch in Sibirien, wie meine Schulkameradin Irmtraut Schweinert, die 7 Jahre in Sibirien arbeiten mußte. Heute lebt sie in Bergen-Belsen.

Jedenfalls gingen wir, das Mädchen und ich, Richtung Bogenbrücke und weiter über Wiesen an Gärten vorbei bis zum Stadion. Es war ein warmer Novembertag, die Sonne schien von einem strahlend blauen ostpreußischen Himmel. Wir ließen uns irgendwo ins Gras fallen und plauderten weiter. Dabei erfuhr ich, daß ihre Mutter noch nicht ausreisen wollte, vielleicht erst mit dem nächsten Transport oder überhaupt nicht. Warum das so war, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls standen wir bald auf und gingen einen anderen Weg zurück. Es war nichts passiert. Das Mädchen hatte mich nicht angemacht, bei mir war das genauso. Wir haben uns mit einer flüchtigen Umarmung verabschiedet, das wars.

Wenn ich das Mädchen früher kennengelernt hätte, wer weiß, wer weiß!

Mit dem Jungen, der oben bei uns im Haus wohnte, zog ich am letzten Abend in Insterburg durch die Stadt, von einem Kiosk zum anderen. Wir wollten uns würdig von Insterburg verabschieden. Wir hatten für diesen Abend viel Geld. Wer weiß, ob wir das behalten könnten. In der Hindenburgstraße war unsere erste Station. Wir kippten ein Glas Wodka hinter. Irgendetwas gab es am Kiosk auch zu essen. Dann gingen wir zum Bahnhof. Wieder Wodka. Dann machten wir uns auf den Heimweg über die Wilhelmstraße. In der Nähe der Post wieder ein Kiosk. Wir kamen daran nicht vorbei. Als wir zu Hause ankamen, war mein Kumpel stinkbesoffen. Er kam die Leiter nicht mehr alleine hoch. Die Mutter kam mit einem Strick und zog ihn nach oben, ich schob ihn kräftig von hinten nach. Seine Mutter machte mir Vorwürfe. Ich wäre an allem Schuld, dabei hatte er mich mitgelotst. Mir hatte das Trinken nichts ausgemacht, ich war einiges gewöhnt.

Früh um 5 Uhr mußten wir in der Luisenstraße an der Kommandantur sein. Es standen einige Militärfahrzeuge mit Verdeck bereit. Bald fuhren wir mit unbekanntem Ziel davon. Es ging nach Süden, das sah man an den Ortsschildern. Nach ungefähr 2 Stunden fuhren wir durch Goldap. Damals wußte ich nicht, daß Goldap auf Grund der Verträge der Siegermächte schon zu Polen gehörte. Wir hatten es nur mit Russen zu tun. Die Lkws fuhren auf ein riesiges leerstehendes Fabrikgelände. In den Fabrikhallen wurden wir registriert. Für unsere Rubel erhielten wir meines Wissens deutsches Geld, das einen Querstreifen hatte. Solches Geld hatten mir Russen in Insterburg gezeigt, die manchmal nach Berlin gefahren waren. Sie waren aber auch auf deutsches Geld ohne Streifen scharf. Das Verhältnis sollte 10 zu 1 sein. 10 Mark für einen Rubel. Da habe ich dann an das viele Geld in Kreuzingen gedacht, daß wir für hinterlistige Zwecke sinnlos und mit wenig Erfolg verbraucht hatten. Die Berlinfahrer unter den Russen wußten, was sie in Berlin dafür kaufen könnten. Zurück nach Goldap.

Nach der Aufnahme der Personalien bekamen wir mehrere Scheine. In den Büroräumen der Fabrik erhielten wir dafür Lebensmittel. Ich kann mich noch an Wurst Poltawaer Art mit Fettstückchen erinnern, dann an Brot, Mehl und Teepäckchen. Wir haben bestimmt noch mehr mitbekommen, aber das habe ich vergessen. Es kamen laufend Lkws mit deutschen Frauen, Kindern und alten Männern an. Die Fabrikhallen füllten sich. Dann wurde ein Zug in unmittelbarer Nähe bereitgestellt. Sollte der für uns sein? Dann hieß es aufpassen. Hinter der Lokomotive waren 5 oder 6 D-Zug-Wagen, dann jede Menge Güterwagen. Ich sagte allen unseren Leuten Bescheid. Sie sollten sich am Eingang versuchen aufzustellen. Andere hatten auch mitbekommen, daß es mit dem Zug weitergehen würde.

Es gab einen Kampf um die besten Plätze. Aber auch an einer anderen Tür, die noch geschlossen war, gab es Gedränge. Inzwischen waren es über 1000 Menschen, die auf den Zug verteilt werden sollten. Ich wollte auf keinen Fall in einen Viehwaggon. Wie konnte ich das machen.Wir durften die Fabrikhallen nicht verlassen. Posten achteten streng darauf, trotzdem war ich durch ein Büro nach draußen gelangt und näherte mich dem Zug.

Dann wurde ein Posten doch auf mich aufmerksam und hielt mich auf.

Als ich ihm sagte, was ich eigentlich erreichen wollte, hatte er dafür Verständnis. Da ich leidlich Russisch sprach, kamen wir ins Gespräch über alle möglichen Erlebnisse. Er schien ein Postenführer zu sein, denn er hielt die Posten an den Türen im Auge und gab auch einige Befehle. Da hatte ich echtes Glück gehabt, denn er versprach mir, mir zu helfen, daß ich in einen Personenwagen komme. Er zeigte mir die Tür, an der er sein würde.

Nun war es eine andere Tür, an der Mutti, Rudi, Tante Eva und ihre Kinder relativ günstig standen. Ich teilte allen leise mit, was ich erreicht hatte. Tante Eva wollte ihren günstigen Platz nicht aufgeben. Mutti konnte ich überzeugen, zur anderen Tür zu kommen. Rudi brauchte ich nicht überzeugen, der kam mit. Erst gegen Abend begann die Verladeaktion.

Wir hatten Glück, bei uns ging es los. Wir standen ziemlich weit hinten, waren aber bald eingekeilt, denn viele drängten jetzt auf den Ausgang zu.

Mein Gesprächspartner hielt Wort. Als Mutti, Rudi und ich endlich draußen waren, nahm uns der Postenführer aus der Reihe und führte uns zum zweiten D-Zug-Wagen, denn der erste war schon voll.

Wir waren im ersten Abteil, aber nicht allein. 6 Personen hatten Platz, also mußten wir noch eine Frau mit zwei Kindern reinlassen. Wäre Tante Eva bei uns gewesen, wäre sie im Nachbarabteil untergekommen. Tante Eva landete im zweiten oder dritten Güterwagen. Sie und die Kinder konnten auf Stroh schlafen und hatten einen Kanonenofen in der Nähe der Tür stehen. Es war in der zweiten Novemberhälfte schon recht kalt. Ob da schon Frost war, kann ich gar nicht sagen. Wir richteten uns, so gut es ging, ein. Zum Sitzen hatten wir bequem Platz. Aber wie sollten wir die Nacht verbringen? Wieder wie 1945 in Taplacken im Sitzen? Ich probierte das Gepäcknetz aus. Unmöglich! Sehr kurz. Die Beine waren zu lang.

Und erst die Eisen, die das Gepäcknetz strafften! Ich versuchte, mit den überflüssigen Kleidungsstücken die Vertiefungen zu polstern. Eine sehr gute Idee!

Jedenfalls bekam ich das so hin, daß ich mich da oben hinlegen konnte.

Das Gepäcknetz war aber so schmal, daß ich beim Wenden hinunterfallen konnte. Ich hatte einen Lederriemen und schnallte mich an. Problem gelöst, Nachtlager gesichert. Auch wenn der Zug plötzlich bremste, das kam vor, konnte mir nichts passieren, obwohl ich auf der falschen Seite lag. Mutti saß am Fenster, Rudi auf dem Sitz, den Kopf auf Muttis Schoß. Über Mutti im Gepäcknetz lag ein Sohn von der anderen Frau. Der zweite Sohn lag auf den Sitzen, die Frau auf dem Fußboden. Wenn einer auf die Toilette mußte, wir fuhren in einem “D-Zug”, dann war das ein Problem. Die Frau mußte wohl oder übel aufstehen und so lange stehen, bis derjenige welcher zurückkam. Erst spät nachts fuhr der Zug ab.

Bald kam er wieder zum Stehen. An Schlafen war nicht zu denken, wenigstens konnte man Ruhen. Mal fuhr der Zug, mal stand er. Morgens hielt der Zug in einem Wald. Nun sah ich auch meinen Helfer aus Goldap wieder, auch andere Posten erkannte ich. Sie waren im letzten D-Zug-Wagen untergekommen. Man teilte allen mit, daß der Zug mindestens 2 Stunden halten würde. Die aus den Güterwagen stürmten in den Wald, um ihr Geschäft zu erledigen.

Im Waggon, so habe ich es in Erinnerung oder weiß es von anderen Transporten; hatten sie nur einen Eimer. Zu essen hatten wir, mit dem Trinken war das so eine Sache. In der Nacht und morgens hatten wir nur kaltes Wasser, die in den Waggons konnten sich Wasser heiß machen und Tee kochen. Im Laufe des Tages, bei einem weiteren Halt, kochte uns Tante Eva auch Tee. Wir fuhren in westlicher Richtung über Angerburg, Rastenburg, und nach ungefähr 3 Tagen las ich Allenstein. Wir waren also doch recht weit nach Süden vorangekommen. Hier wurden wir vom Roten Kreuz mit Essen und Trinken versorgt. Es ging wieder in gleichem Trott weiter. Fahren, Stehen, Fahren, Stehen. Wir hatten uns daran gewöhnt. Ich konnte sogar ganz gut schlafen. Wenn der Fußboden frei war, sah ich da auch Mutti schlafen. Am Tage tigerte Rudi umher, dann konnte sie auch auf den Sitzen schlafen. Damit hatte ich kein Problem, ich hatte meinen festen Schlaf- und Liegeplatz. Ich fuhr 1.Klasse! Nach wieder 2 oder 3 Tagen kamen wir in Thorn, heute Torun, an.

Unterwegs hatten wir an einem Tag Gelegenheit, in einem Wald eine Schlunzsuppe, Suppe aus Wasser und Mehl, zu kochen, so lange hielt der Zug. Wir bekamen mit dem nassen Holz sogar ein Feuer an. In den Viehwaggons wurde die Feuerung immer knapper, so daß uns Tante Eva nur heimlich Tee kochen konnte, so als wäre der für sie. Wir waren nun in Thorn und wurden wieder vom Roten Kreuz versorgt. Als wir nach einigen Stunden weiterfuhren, stank es auf dem Bahnhof in der Nähe unseres Zuges fürchterlich. Die Toiletten waren nicht nur von den Reisenden in den Personenwagen benutzt worden, sondern auch von den Frauen und Kindern aus den Viehwaggons. Ich habe da mal ein Auge voll genommen von unter unserem Wagen, ich bin schnell wieder eingestiegen. Was ich sah und roch, war nicht so angenehm. Was sollten die Leute machen? Sollten die sich auf den Bahnsteig setzen? Den Bahnsteig durften wir aus Sicherheitsgründen nicht verlassen. Blieb doch nur die eine Möglichkeit. Dies hatte aber für unseren Zug und die russischen Begleiter Folgen. Am nächsten Tag kamen wir in Bromberg, heute Bydgoszcz, an.