Oberländischer Kanal

Die Geneigten Ebenen

Ostpreußen war und blieb ein Agrarland. Die lukrativen Absatzgebiete der landwirtschaftliche Produkte lagen jedoch weit westlich von Ostpreußen und konnten in den zurückliegenden Jahrhunderten nur über See erreicht werden. Frischeprodukte waren dabei grundsätzlich vom Export ausgeschlossen, während die transportfähigen Güter auf Pferdefuhrwerken über Sandwege in die Seehäfen befördert werden mussten und die waren nach Regenfällen oft grundlos. Das war dann eine Plackerei, aufwendig und wenig attraktiv.

Erst der technische Fortschritt des 19. Jhs. brachte Chancen für die Lösung des Problems. Man dachte jetzt über ein Kanalsystem nach. Das konnte man für den Transport jedoch nur dann einsetzen, wenn es gelang, den beachtlichen Höhenunterschied von 99 Metern auf einer Distanz von 9 Kilometern zwischen den Seehäfen und den Hauptanbauflächen im Oberland mit wirtschaftlich vertretbarem Aufwand zu überwinden. Bei dem damaligen Schleusensystem hätte man dafür 32 Schleusenkammern benötigt, also alle 300 Meter eine Schleuse. Das war zu teuer und zu umständlich.

Der ostpreußische Baurat Georg Jakob Steenke (1801 – 1884) fand eine passende, dabei einfache, zweckmäßige und originelle Lösung. Angeregt durch Vorbilder in den USA und in Holland, wohin er eine Dienstreise unternommen hatte, setzte er durch, dass eine Höhendifferenz von jeweils 20 Metern durch eine geneigte Ebene überwunden wird. Auf jeder Geneigten Ebene laufen zwei Eisenbahngleise nebeneinander, auf denen Gitterwagen zur Beförderung der Schiffe zugleich bergauf und bergab aneinander vorbeifahren. Beide Gitterwagen stehen durch starke Drahtseile, die über mächtige, sich drehende Scheiben laufen und eigentlich ein Seil ohne Ende darstellen, so in Verbindung, dass der Schwung des hinabfahrenden Wagens auf den hinauffahrenden übertragen wird. Das sparte Energie. Außerdem gewann man die Antriebsenergie teilweise aus der Höhendifferenz des Wassers, sodass insgesamt nur geringe Mengen zusätzlicher Energie ins System eingespeist werden mussten. Zunächst realisierte man 4 Geneigte Ebenen, die durch 5 Kammerschleusen ergänzt wurden. Letztere ersetzte man später durch die fünfte Geneigte Ebene. Die Gitterwagen waren 20 Meter lang und 3 Meter breit. Die Spurweite der Schienen betrug 3,14 Meter. Die Fahrt über eine Geneigte Ebene dauerte etwa eine Viertelstunde. Der Bau der geneigten Ebenen kostete damals 5,5 Mio Reichsmark. Die parallel dazu vorgenommene Entwässerung erbrachte die Gewinnung von 1.600 ha fruchtbarer landwirtschaftlicher Flächen und kompensierte so einen Teil der Kosten.

Wie der Auf- und Abtransport technisch funktioniert, kann man auch heute noch bei einer Dampferfahrt von Osterode nach Elbing an 5 verschiedenen Stellen erleben oder sich mindestens anschauen: in Buczyniec – Buchwalde, Katy – Kanthen, Olesnica – Schönfeld, Jelonki – Hirschfeld, Kusy – Kussfeld. Bei Buchwalde werden 20 Höhenmeter überwunden. Nach 375 Metern folgt Kanthen mit einer Differenz von 19 Metern, nach weiteren 2,6 km Schönfeld mit 24 Metern. Im Abstand von 1,9 km beträgt in Hirschfeld der Höhenunterschied 22 Meter und die restlichen 14 Meter werden bei Neu-Kußfeld genommen.

Nachdem das Prinzip der Geneigten Ebenen akzeptiert war, konnte man das Kanalsystem realisieren.

Aber auch in unserer heutigen Zeit sind Überlegungen zum Bau von Geneigten Ebenen noch nicht aus der Welt. Ein solches System im Kanalbau ist im Vergleich zur Schleusentechnik in bestimmten Fällen erheblich billiger. Es macht z. B. kostspielige Schiffshebewerke überflüssig. Auf der Binnenschifffahrtsstrecke Brüssel–Charleroi ist bei Ronquière ein 70 Meter hoher Geländeanstieg zu überwinden. Man plante zur Lösung das System der ostpreußischen Geneigten Ebenen. Allerdings berücksichtigte man den Fortschritt der Technik, indem man statt der Gitterwagen große Schiffströge von 80 Metern Länge vorsah und die bis zu 5.000 Tonnen schweren Gewichte über eine Strecke von 1,5 km zu bewegen gehabt hätte, um die 70 Höhenmeter zu überwinden, was. rd. 20 Minuten gedauert hätte.

Auch bei der Verlängerung des Neckarkanals über die Schwäbische Alb zur Donau beziehungsweise zum Bodensee waren Geneigte Ebenen im Gespräch. Die Linienführung von Plochingen über oder unter dem Kamm der Alb von Ulm nach Friedrichshafen lag bereits fest. Es wären zwei Mal 100 Meter Höhendifferenz auf einer Länge von rd. 2 km zu überwinden gewesen. Schließlich hat man in der Sowjetunion bei Krasnojarsk in den 1960er Jahren mit dem Bau einer Geneigten Ebene begonnen. Dort ging es darum, 120 Meter Höhenunterschied im Gelände zu überwinden. Irgendein Beweggrund hat aber letztendlich eine Realisierung in den genannten Fällen verhindert. So bleiben die Geneigten Ebenen in Ostpreußen ein interessantes, aber einmaliges Ereignis.