Roedszen

Roedszen/Roeden

Roedszen war ein typisches ostpreußisches Dorf, wie es unzählige andere gegeben hat, gegründet vornehmlich von Zuwanderern aus der Schweiz. Das Dorf auf der Höhe mit schönem Blick ins Umland existiert nicht mehr, hat seinen Namen verloren und ist auf keiner neuen Karte mehr zu finden. Dennoch wurde von ehemaligen Einwohnern der Friedhof inmitten der Wildnis identifiziert, vom Wildwuchs befreit und aufgeräumt, die Reste vorhandener Gräber geordnet. Und dann haben sie 1998 auf dem Friedhof in heute wegeloser, wildwiesengeprägter Landschaft einen großen Findling als Gedenkstein mit folgender Inschrift auf Russisch und in Deutsch aufgestellt:

DER KRIEG IST DAS GRÖSSTE UNGLÜCK DER MENSCHHEIT.
HIER LAG DAS DORF ROEDSZEN, DAS ÜBER 300 JAHRE HEIMAT WAR
FÜR MENSCHEN AUS DEUTSCHLAND, FRANKREICH, LITAUEN, POLEN,
OESTERREICH UND DER SCHWEIZ. GEMEINSAM GESTALTETEN SIE EIN
BLUEHENDES BAUERNLAND, DAS DER KRIEG 1944 VERNICHTETE.
MÖGEN DIE MENSCHEN IM FREIEN EUROPA KÜNFTIG
IN FRIEDEN ZUSAMMENLEBEN KÖNNEN.

Der Erinnerungsstein wurde am 2. August 1998 in Anwesenheit von Pfarrer Heye Osterwald aus Gumbinnen, Bürgermeister Alexander Alevskii und vielen russischen und deutschen Gästen feierlich eingeweiht..

Dorf und Friedhof liegen jetzt unzugänglich auf dem etwa 50.000 ha großen Weidegebiet der Rinderfarm der amerikanisch-russischen Gesellschaft Miratorg, an der offenbar Brüder der Ehefrau von Dmitri Anatoljewitsch Medwedew, Präsident und Ministerpräsident Russlands, beteiligt sind. Das Unternehmen achtet jedoch darauf, dass die Rinder vom Friedhof ferngehalten werden und die Pietät des Ortes dadurch gewahrt bleibt.[2]

Die Holdinggesellschaft Miratorg mit ihrem Produktionsbetrieb Kaliningradskaja Mjasnaja Kompanija (KMK) importierte im Jahr 2012 etwa 12.000 Rinder der Rasse Aberdeen-Angus aus den USA für Rindermast und Schlachtung. Daraus sind bis 2017 etwa 50.000 Tiere geworden, und das bedeutet noch nicht das Ende des Aufbaus.[1]

Peter Ritter, der seine Schwester Karin Banse bei der Aufstellung des Gedenksteins nach Kräften unterstützte, erinnert sich an die aufregende Zeit, die der Aufstellung vorausging:

Also – es ist eine sehr schöne Geschichte, die dabei entstand, als 1996 beim Besuch unseres verwucherten Friedhofs im verschwundenen Rödszen, meine Schwester Karin zu mir sagte, in 2 Jahren werde ich 60. Was hälts Du davon, wenn wir versuchen hier etwas sauber zu machen und ein Merkmal hin zu bauen, das zeigt, daß hier schon mal Menschen lebten. Ich war sofort ihrer Meinung, gleich begeistert, doch im Laufe unserer Phantastereien darüber wurden wir mehr und mehr skeptisch, ob und wie uns das wohl gelingen werde.

Jedes, aber auch jedes Teil, vom “Spaten bis zum Farbstift” müßtest Du zu Fuß über mindestens 7 Kilometer rantragen. Da fuhr nichts, auch kein Traktor, was bestimmt geholfen hätte. Aber die Idee und der Plan sollten verwirklicht werden. Es war eben Karin´s Wunsch.

Du mußt Dir vorstellen, daß wir mit unseren russischen Freunden richtig Ärger hatten, wenn wir erzählten, daß wir da gewohnt haben, sogar geboren sind, es war für sie unmöglich das zu verstehen, da sie das ganze Land nur als militärischen Aufmarschgebiet kannten, wie in der Schule eingeübt. Dort hatte ihrer Überzeugung nach, noch kein Mensch gelebt. Bei diesem Prozeß von 1992 an, uns als dort Geborene zu akzeptieren, gab es große Überraschungen auf beiden Seiten. Aber auch gute Verbindungen und Freundschaften bis heute.

Wir hatten keine Ahnung, wie es gehen würde, ein Denkmal dort hin zu stellen, nicht nur technisch, sondern auch politisch. Ist doch unsere Gegend nicht mehr von Gusew, sondern Osersk verwaltet. Und da kannten wir überhaupt niemand.

Allerdings versuchte damals gerade ein deutscher Freund, Wilfried Stahl, die ehemalige Domäne seiner Familie Buylien/ Schulzenwalde, heute Dubrava, zu pachten, was ihm auch gelang. Dadurch hatte er Traktoren und Lader, um letztlich einen Stein, den wir beim Gut Marienhöhe gefunden hatten, nach Dubrava zu bringen. Das hört sich ganz einfach an, war aber ein verrücktes Unternehmen, weil das richtige Werkzeug weder für den Tansport noch später für eine gute Beschriftung vorhanden war. Paarmal rollte der Stein vom Wagen.

Juri Hilgenburg, ein Rußlanddeutscher aus Dubrava, empfahl sich als Steinmetz, baute eine Steinmetzbude um den Stein herum und wartete nun darauf, was wie gemacht werden sollte. Du mußt daran denken, daß wir hier in Deutschland und unsere Ansprechperson Wilfried Stahl in Buylien sich verständigen mußten mit den damaligen Kommunikationsmöglichkeiten. Wilfried hatte lange kein Telefon, so wurden jegliche Nachrichten, Notizen, Vorschläge, Gestaltungsvorlagen per Bustransport Kulturreisen Meyer & Keil so geheimnisvoll wie möglich erledigt. Es gelang auch, was dem Busfahrer Adi Weber zu verdanken ist, der gut verstecken konnte, sowohl vor Richard Meyer, als auch vor den Grenzwächtern.

Es ist sogar gelungen, eine alte Zahnarzt- Bohrmaschine dort hin zu kriegen, weil dem Juri nichts Richtiges einfiel, wie er die über 600 Buchstaben in den harten Granit reinkriegen sollte. Mehrere Male wurden neue Werkzeuge dafür nachgeliefert.

Doch was schreibt man denn auf so einen Stein? Da gab es lange Nervereien und endlich einen Entwurf. Als wir den in Gumbinnen unseren russischen Freunden zeigten, eigentlich nur, um niemand zu kompromittieren, zankten die sich um die richtige Übersetzung unseres Konditional 2- Satzes in den russischen. Sie waren ja russische Lehrer und auch die haben es schwer mit der russischen Sprache.

Aber nun war man sich einig und über ein Jahr vergangen und wir machten den Einweihungstermin. Du kannst Dir vorstellen, daß jetzt, da der Zeitpunkt gegeben war, alle ziemlich durchdrehten, auch die, die “immer” an unserer Seite waren, plötzlich auch was am selben Tage dort in Ostpreußen etwas veranstalten mußten. Im wesentlichen Richard Meyer, unser aller langjähriger Reiseveranstalter, stellte seinen Bus in Gumbinnen vor den Kaiserhof, lud die Leute ein und fuhr nicht Richtung Rödszen, sondern zum Vistiter See. So mußten die, die nun trotzdem zur Gedenksteinsetzung wollten, mit MIetwagen zum Wilfried Stahl nach Dubrava, der uns mit seinen Traktoren und Wagen hoch nach dem Rödszer Friedhof brachte, was auch nicht einfach wurde, weil es am Vortage noch gut geregnet hatte. Kannst Dir denken, wie wir da durch die Wildnis rutschten. Die Steinsetzung wurde vom Probst Heye Osterwaldt, der damals die Evangelischen in Gusew betreute, und von dem Duma- Obersten aus Osersk Alexander Alevski dort oben auf unserem alten Rödszer Friedhof sehr feierlich und offiziell eingeweiht. Es waren über 40 Gäste, Deutsche und Russen, dabei und feierten bei Lammbraten und Limo, Bier und Wodka bis abends. Da gab es eine lange Tafel mit Holzsitzen.

Alexander Alevski wollte ein “Big Business” daraus entstehen lassen, angefangen mit einer Bratwurstbude. Das war dann doch ein gelungenes Fest. Ein guter Ausgleich für all die Mühen, die sich alle gemacht hatten, damit der Stein dort endlich steht. Es gab auch eine kleine Schrift, eine Zusammenfassung darüber.

Daß das Ganze auch bezahlt werden konnte, ist meiner Schwester Karin zu verdanken, denn sie hat sich zu ihrem 60sten Geburtstag anstatt all der üblichen Blumen usw. nur Geld für die Errichtung eines Erinnerungsmals auf ihrem alten nun fast verschwundenen Friedhof gewünscht und auch bekommen – und somit konnte das “Unternehmen” tatsächlich gelingen.

Interessant ist vielleicht, daß wir lange vorher alle uns noch bekannten ehemaligen Rödszer Einwohner anschrieben, um sie von unserem Plan zu unterrichten und von ihnen die Genehmigung zu bekommen, es auch in aller Sinne zu errichten. Es kamen nur positive Antworten – und vom alten Pudlat, damals lebte er noch, ein Brief mit 300,— Mark als sein Kostenbeitrag. Karin hat das sofort zurückgeschickt, zumal er war ja Rentner.



[1] Königsberger Express, Nr. 1/2018, abgedruckt im Gumbinner Heimatbrief, Juli 2018, S. 124
[2] Gumbinner Heimatbrief, Juni 2013, S. 94