Rusné – Ruß
Der Ort Ruß entstand an der Stelle, wo der Memel-Abzweig Ruß sich in die Flüsse Atmath und Skirwieth aufteilt, hatte also immer schon eine strategische Bedeutung für die Kontrolle der Memelschifffahrt ins Kurische Haff und umgekehrt. Vermutlich befand sich hier bereits in vorgeschichtlicher Zeit ein Stützpunkt der Schalauer. Auch der Orden erkannte die Vorzüge von Ruß und legte hier eine Befestigung an.
1480 – 1498 wird ein Michel von Schwaben als Pfleger in Ruß genannt, der aber wohl länger im Amt war, wie verschiedene Rechtsakte nahe legen. Der Sitz des Pflegers befand sich vorher in Windenburg, der wegen Verfall des Ordenssitzes aufgegeben wurde. Schon in dieser Zeit um 1500 war Ruß nicht nur Verwaltungssitz, sondern auch Kirchort und durch den Krug, den es vermutlich bereits seit 1448 gab und der neben dem evangelischen Pfarrhaus stand,[1] ein Handelszentrum.
Zwischen 1674 und 1683 wurde für Ruß ein Burggraf benannt. Erster Burggraf war der Memeler Amtsschreiber Johann Pörner. Der Burggraf war hinfort für das Einziehen der Steuern verantwortlich, verfügte über die Polizeigewalt, musste die Bürger zu einem sittsamen Lebenswandel und zum Besuch der Kirche anhalten, Verträge beurkunden, Vergleiche herbeiführen, wüste Hufen besetzen, die Heugewinnung beaufsichtigen, die Wirtschaftsweise seiner Bauern fördernd begleiten und selbst auch noch Landwirtschaft und Fischerei betreiben, sich um die neue Milchbude und die Brauerei kümmern und Baumaterial und Brennstoffe für die Festung Memel liefern. Sein Tag könnte ziemlich ausgefüllt gewesen sein.[2]
Ab 1724 wurden die Domänen von Generalpächtern bewirtschaftet, die gleichzeitig die Steuern einzuziehen hatten, denen die Rechtsprechung über Zivilsachen in ihrem Wirkungsbereich oblag und denen für die Ausübung der Polizeigewalt Heyducken zur Verfügung standen. Erster Generalpächter und Amtmann in Ruß 1724 war der bisherige Burggraf Johann Bernhard Clemm.[3] Nach dem Bericht über Ruß in GenWiki war erster Generalpächter ein Amtsrat Patschker, dessen Tochter den Johann Gottfried Kuwert, Wachtmeister bei der Kavallerie, heiratete. Wie dem auch sei, nachfolgend wechselten öfter die Pächter und hatten generell Mühe, den vereinbarten Pachtzins zu entrichten.[4]
Ruß besitzt die älteste Kirche des Kirchenkreises Heydekrug, vermutlich 1419 gebaut. 1739 brannte des Pfarrhaus in Ruß nieder und 1774 vernichtete am zweiten Pfingstfeiertag ein Brand die Kirche, das Pfarrhaus samt Wirtschaftsgebäuden, dazu das erst 1773 erbaute neue Amtshaus, auch das alte Amtshaus und weitere Anwesen. Dabei zerstörten die Flammen auch die Akten und Urkunden der Kirche und alle Unterlagen des Domänenamtes.[5] In den nächsten Jahren fand der Gottesdienst in einer Notkirche statt, die aber auch 1789 ein Opfer des Feuers wurde. Die Kirche wurde dann endlich 1809 massiv in Ziegel- und Feldsteinmauerwerk wieder aufgebaut.
Die Kirche kam gut über den letzten Krieg und wurde auch danach noch einige Zeit für Gottesdienste benutzt. Dann jedoch verfügten die Sowjets die Schließung der Kirche, die danach verfiel. Das Kirchenschiff übergab man der alten Taubstummenanstalt, die von den Russen weitergeführt wurde, als Turnhalle.[6] Der starke Unterbau des Turms, der noch existiert, stammt mitsamt dem gewölbten Eingang zweifelsfrei noch von der ersten Ordenskirche her.[7] Die nach dem 2.Weltkrieg wieder aufgebaute Kirche wurde am 21. August 1994 eingeweiht.
Der Ort Ruß an der Memel, zweitgrößter Ort im Kreis Heydekrug und ab 1792[8] Marktflecken, lebte sehr stark vom Holzhandel mit Russland und dieser fing mit der russischen Besetzung Ostpreußens im Siebenjährigen Krieg an. Schon 1759 baute man in Ruß die erste Schneidemühle für Holz. Einen Höhepunkt im memelländischen Handel stellte der englisch-amerikanische Krieg 1776 – 1783 dar, als jede Menge Masten, Holz, Flachs, Hanf nachgefragt wurde.[9] Am Anfang des 19. Jhs. befand sich in Ruß die größte Einwohnerzahl einer Gemeinde entlang der Memel und zusammen mit den unmittelbar umliegenden Dörfern gab es hier die größte Bevölkerungskonzentration im Memeldelta.
Während einer Hochwasserkatastrophe entlang der Memel im April 1829 wurde Ruß fast völlig zerstört. An Memel, Rußstrom und Gilge wurden die Deiche an 23 Stellen durchbrochen. In Ruß ragten nur noch die Schornsteine aus dem Wasser. Entlang der Memel in den vier angrenzenden Kreisen ertranken 659 Pferde, 2019 Rinder, 2695 Schweine, 2400 Schafe. 255 Wohnhäuser und 271 Wirtschaftsgebäude wurden zerstört.[10]
Das Oberfischmeisteramt, das für die Kontrolle der Fischerei auf dem Kurischen Haff zuständig war, wurde 1881 provisorisch und 1919 endgültig nach Ruß verlegt.[11]
Insgesamt war Ruß durch den internationalen Holzhandel ein buntes Völkergemisch. Neben dem Handel gab es Sägewerke und etliche Gastwirte. Das Dorf wurde wohlhabend und war 1869 mit 2.200 Einwohnern der größte Ort im Kreis Heydekrug.[12] Solange der Holztransport durch Flöße dominierte, war Ruß ein erfolgreicher Umschlagplatz. Als jedoch in der 2. Hälfte des 19. Jhs. die ländliche Infrastruktur ausgebaut wurde und die Eisenbahn ihren Siegeszug antrat, ging die Bedeutung von Ruß immer mehr zurück. Die Eisenbahnlinie von Tilsit nach Memel ging in ziemlichem Abstand an Ruß vorbei. Als nach dem 1. Weltkrieg der Holzhandel mit Russland zum Erliegen kam, war die prosperierende Zeit für Ruß endgültig vorbei.
Die wichtige Petersbrücke über die Atmath als Verbindung zum rechten Memelufer kam spät und wurde im Oktober 1914 eingeweiht. Im Oktober 1944 wurde sie als strategische Maßnahme des Krieges gesprengt – viel zu früh für die vielen Flüchtlingstrecks, die nicht mehr über den Fluß kamen und der Roten Armee in die Hände fielen[13]
Ruß war der memelländische Ort mit den meisten jüdischen Einwohnern. Sie waren vornehmlich Holzhändler und kauften staatliche und private Waldungen auf, ließen die im Winter geschlagenen Holzstämme zu Flößen zusammenbinden und nach Memel transportieren. Es gab aber auch jüdische Kleinhändler und Handwerker und einige besaßen Gasthäuser und Handelsunternehmen. Sie machten gute Geschäfte, seit die Floßschiffahrt auf der Memel aufgenommen worden war. Im Jahre 1855 wohnten in Ruß 33 oder 36 Juden und im Jahre 1880 sogar 133 Juden. 1857 wurden in Ruß eine Synagoge und ein Badehaus eingerichtet.[14]
Als nach dem 1. Weltkrieg die Flößerei auf dem Memel aufhörte und die Zeit der Prosperität in Ruß vorbei war, sank die Einwohnerzahl von 3.000 auf 1.500 und die Zahl der Juden nahm ebenfalls stark ab. Vier Sägewerke und zwei Holzspeditionsunternehmen mussten stillgelegt werden und Arbeitslosigkeit machte sich breit. Man schätzt, dass nur noch 17 jüdische Familien in Ruß verblieben. Sie betrieben Textil- und Kolonialwarenläden und es gab u. a. einen Bäcker, einen Schuster und einen Schlosser. Als sich 1939 die Rückgabe des Memelgebietes an Deutschland abzeichnete, verließen viele Juden das Memelland und zogen in die Orte von emaitija (Niederlitauen) – nach Palanga. Kretinga, Jurbarkas, Taurag und auch nach Kaunas. Ihr Schicksal im 2. Weltkrieg ist unbekannt, aber vermutlich wurden die meisten Juden aus Ruß bei Massenerschießungen oder in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern ermordet, soweit sie sich nicht ins Ausland retten konnten.
Am 1. Januar 1863 gründeten die Juden in Ruß ihre eigene Synagogengemeinde. Das Friedhofsgelände, dass sie 1837 erwarben, konnte wegen häufiger Überschwemmungen nicht genutzt werden. Juden wurden daher ab 1844 auf dem neu entstandenen jüdischen Friedhof in Szibben (ibai) beigesetzt. 1869-1870 hat die jüdische Gemeinde Ruß-Heydekrug ein Grundstück in Barsduhnen (Barzdnai) für ihren Friedhof erworben, der später der einzige jüdische Friedhof im Kreis war. Die Synagoge in Ruß wurde 1939 von den Nazis zerstört, ebenso wie der jüdische Friedhof in Heydekrug.
Nach dem 2. Weltkrieg hat sich die alte örtliche Struktur von Ruß durchaus erhalten, so das alte Straßennetz, der dreieckige Markt und die restaurierte evangelische Kirche. Auch das Pfarrhaus ist noch vorhanden, ebenso einige Schulgebäude, Hotels und Handelshäuser. Auch das kleine Bauwerk, in dem einst die Markthändler in winzigen Räumen ihre Ware feilboten, existiert noch – einzigartig am Unterlauf der Memel. Daneben gibt es noch viele alte Holzhäuser, die den eigentlichen Charme der Siedlung ausmachen.
Charlotte Keyser (2. 7. 1890 – 23. 9. 1966) wurde in Ruß geboren. Ihre Romane und Erzählungen sind in Ruß angesiedelt. Sie lebte bis zur Flucht aus Ostpreußen als Lehrerin in Tilsit und starb in Oldenburg. Ihre Gedichte und Romane schrieb sie in ostpreußischem Platt und sie gilt neben Hermann Sudermann als bekannteste Heimatdichterin des Memellandes. (Werke u. a.: “Schritte über die Schwelle”(1948) – ein Familienroman aus Alt-Tilsit; “Und immer neue Tage” (1940) – ein Familienroman aus dem Memelland zwischen 1700 und 1900 (1950); “Von Häusern und Höfen daheim klingt es nach” (1962), “Schritte über die Schwelle” (1966)). Ehrungen: Johann-Gottfried-von-Herder-Preis 1943/44; Kulturpreis der Landsmannschaft Ostpreußen.
Sudermanns “Litauische Geschichten” spielen in dieser Gegend des Memellands.
Paul Brock (21. 2. 1900 – 26. 10. 1986), wurde geboren in Pagulbinnen als Sohn eines Schiffers in 3. Generation auf der Memel. Schon sein Urgroßvater war Schiffer, und zwar auf dem Rhein, und war zum Rußlandfeldzug Napoleons 1812 ins Memelgebiet verschlagen worden. Vater Brock verkaufte 1900 sein kleines Gut in Wischwill und lebte fortan mit seiner Familie auf der “Emma von Wischwill”. Paul Brock wurde zunächst Steuermann bei seinem Vater, machte das Steuermannspatent und erhielt dann seinen eigenen Schoner. Er hat seine Eindrücke vom Bereisen der memelländischen Deltaflüsse in seinen Erzählungen “Der Strom fließt” (1937) und “Der Schiffer Michael Austyn” verarbeitet. Brock kehrte nach der Abtretung des Memellandes nur noch kurz in diesen Teil Ostpreußens zurück, machte sein Kapitänspatent, heuerte auf ausländischen Schiffen an und bereiste so die Welt. 1929 heuerte er ab und landete in Köln, der Heimat seiner Vorfahren, wo er Pädagogik und Psychologie studierte. Durch die Bekanntschaft mit Joachim Ringelnatz, Bert Brecht, Vicki Baum und anderen Schriftstellern begeisterte er sich für die Literatur. 1935 heiratete er nach einer ersten gescheiterten Ehe in Hamburg seine zweite Frau und zog im selben Jahr nach Tilsit um. Im zweiten Weltkrieg wurde er abwechselnd zur Marine eingezogen und als unabkömmlich eingestft, so dass er weiter schreiben konnte. Das Kriegsende erlebte er mit seiner Familie in Flensburg. 1953 zog Brock nach Hamburg, wurde freier Mitarbeiter und ab 1976 Angestellter des Ostpreußenblatts, für das er ein große Anzahl von Artikeln und Rezensionen schrieb. Drei Romane erschienen als Fortsetzungen nur im Ostpreußenblatt: “Die Heimkehr des Florian Moen” (1961), “Jenseits des Stromes” (1975) und “Durststrecke” (1977). Unveröffentlicht blieben “Es klopft an unsere Tür” (1956) und “Auch Frauen haben ein Gewissen” (1957). Weitere Werke: “Der achte Schöpfungstag”; “Alles Lebendige muss reifen”; “Das Glück auf Erden”; “Die Gefangene”; “Berufung der Herzen”, “Die auf den Morgen warten”. Brock starb in Bad Segeberg, ohne Ostpreußen je wiedergesehen zu haben.[16]
Der Schulrat und Dichter des Memellandes Erich Karschies, geboren 1909 in Langbargen und etwa 1944 in Russland gefallen, hat in seinem Roman “Der Fischmeister” das Delta und seine Menschen eindrucksvoll geschildert.[17] Er erhielt 1943/44 den Johann-Gottfried-von-Herder-Preis.
Eine detaillierte Beschreibung von Ruß mit vielen Bildern und Übersichtskarten findet sich bei GenWiki unter http://wiki-de.genealogy.net/Ru%C3%9F
[1] Heinrich A. Kurschat, Das Buch vom Memelland, 2. Aufl. 1990, S. 366
[2] Heinrich A. Kurschat, Das Buch vom Memelland, 2. Aufl. 1990, S. 368
[3] Heinrich A. Kurschat, Das Buch vom Memelland, 2. Aufl. 1990, S. 376
[4] GenWiki für Ruß – http://wiki-de.genealogy.net/Rusn%C4%97
[5] Heinrich A. Kurschat, Das Buch vom Memelland, 2. Aufl. 1990, S. 382
[6] Heinrich A. Kurschat, Das Buch vom Memelland, 2. Aufl. 1990, S. 466
[7] Heinrich A. Kurschat, Das Buch vom Memelland, 2. Aufl. 1990, S. 366
[8] Heinrich A. Kurschat, Das Buch vom Memelland, 2. Aufl. 1990, S. 381
[9] Heinrich A. Kurschat, Das Buch vom Memelland, 2. Aufl. 1990, S. 380
[10] Heinrich A. Kurschat, Das Buch vom Memelland, 2. Aufl. 1990, S. 425
[11] Heinrich A. Kurschat, Das Buch vom Memelland, 2. Aufl. 1990, S. 390
[12] Wolf v. Lojewski, Meine Heimat, deine Heimat, S. 31 f
[13] Heinrich A. Kurschat, Das Buch vom Memelland, 2. Aufl. 1990, S. 76
[14] Heinrich A. Kurschat, Das Buch vom Memelland, 2. Aufl. 1990, S. 387
[16] Wikipedia über Paul Brock
[17] Heinrich A. Kurschat, Das Buch vom Memelland, 2. Aufl. 1990, S. 93 + S. 493 ff