Vogelforschung auf der Nehrung

Bereits der Deutsche Orden fing seine Balzvögel auf der vogelreichen Kurischen Nehrung. Aber erst an der Wende zum 20. Jh. begann man damit, systematische Vogelforschung zu betreiben. Mit Geld der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gründete am 1. 1. 1901 der Pfarrer Johannes Thienemann (12. 11. 1863 – 12. 4. 1938) die erste Vogelwarte der Welt in Rossitten auf der Kurischen Nehrung als private Einrichtung mit dem Ziel, empirische Feldforschung auf diesem Sektor zu betreiben. 1923 wurde die Anstalt von der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft übernommen. Indem er Vögel in großer Anzahl beringte, was bahnbrechend war, konnte er nachweisen, dass einige von ihnen über 10.000 km auf ihren Vogelflügen zurücklegen. 1903 wurde gerade 100 Zugvögel beringt, aber 1912 waren es bereits 41.226 und 1936 über 140.000. Übrigens blieb der Sohn von Prof. Thienemann, Dr. Hans-Georg Thienemann (1909 – 24. 10. 1965), der „Sektion Tierreich“ treu: er wurde 1939 Direktor des Königsberge Tiergartens und nach dem Krieg des Zoos in Duisburg.[1]

Bis zum Ende der deutschen Zeit arbeiteten namhafte Wissenschaftler in Rossitten, so z. B. auch Konrad Lorenz, und Heinz Sielmann hatte während seiner Königsberger Schulzeit in Rossitten gearbeitet.

Johannes Thienemann stammte aus Gangloffsömmern in Thüringen. Schon sein Vater und sein Großvater waren ornithologisch interessiert. Er studierte in Leipzig und Halle Theologie und kam 1896 erstmals auf die Kurische Nehrung und nach Rossitten. Hier fand er seine Lebensaufgabe. 1929 ging Prof. Thienemann in den Ruhestand. Sein Werk wurde fortgeführt von Oskar Heinroth und Prof. Ernst Schüz; der 1936 die verantwortliche Leitung der Vogelwarte von Heinroth übernahm und der nach der Flucht 1944 die Arbeit in der Vogelwarte im Schloss Möggingen in Radolfzell am Bodensee wieder aufnahm. 1959 wurde die Vogelwarte in das Max-Planck-Institut eingegliedert, erhielt aber 1962 ihre rechtliche Selbständigkeit zurück. Seit 1991 arbeitet Radolfzell eng mit der Vogelwarte in Rybatschij/Rossitten zusammen.[2]

Radolfzell am Bodensee als Standort für die Vogelforschung hat eine Vorgeschichte. 1919 wurde dort der „Förderverein Süddeutsche Vogelwarte e. V.“ gegründet, aus dem 1928 die „Süddeutsche Vogelwarte“ hervorging. Mitbegründer und Vorsitzender ab 1931 war Nikolaus von Bodman. 1938 musste die Süddeutsche Vogelwarte ihre Tätigkeit abbrechen, weil der Staat die weitere Finanzierung einstellte. Daraufhin gründete von Bodman die „Beringungszentrale von Baden und Württemberg“ als Zweigstelle der Vogelwarte Rossitten und stellte Arbeitsräume in dem von ihm geerbten Wasserschloss in Möggingen zur Verfügung. Dort kam 1946 die heimatlos gewordene Vogelwarte Rossitten in der nunmehr neu gegründeten „Vogelwarte Radolfzell“ unter, die bis 2011 im Wasserschloß arbeiten konnte. Der Standort Radolfzell ist seit 2019 Teil des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie in Konstanz und ist nun eingebunden in ein internationales satellitengestütztes Beobachtungssystem.[3]

Ernst Schüz  (24. 10. 1901 – 8. 3. 1991) wurde in Markgröningen nahe Stuttgart geboren. Er studierte Zoologie, Botanik, Chemie, Geologie und Geographie in Tübingen und promovierte 1927 in Berlin.

Die Institutsräume in Rossitten standen bis 1956 leer. Dann baute Prof. Lew Belopolski (1907 – 1990), gerade aus einem sibirischen Gulag entlassen, erneut eine Vogelwarte auf, die auch bald einen weltweit guten Ruf genoss. 1957 konstruierte Jan Jakschis die “Große Rybatschij-Reuse“, die einem großen Schleppnetz ähnelt und gegen die Zugvögelrichtung zeigt. Die Öffnung ist so groß, dass die Vögel sie nicht als Gefahr empfinden und fliegen durch bis in die Schlusskammer, wo sie von Mitarbeitern mit der Hand eingesammelt werden können. Die Mannschaft von meist 30 Mitarbeitern kommt hauptsächlich vom Zoologischen Institut der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg. Seit der russischen Wende sind die Mittel sehr knapp geworden. Deshalb sammelt die Heinz-Sielmann-Stiftung Geld zur Unterstützung der Arbeit in der Vogel-Forschungsstation.

Im Frühjahr und Herbst überqueren mehr als 200 Vogelarten mit über einer Million Vögeln die Vogelwarte. Die Vögel werden gezählt – besonders hochfliegende vom Dach der Warte aus und nachts mit Hilfe von Scheinwerfern. Rossitten ist deshalb besonders günstig, weil die Wald- und Feldvögel das Meer meiden und die Nehrung entlang fliegen, während die die See bevorzugenden Wasservögel auf der schmalen Landzunge Schilf und Gesträuch für eine Rast finden.

In 200 Netzen und 18 m hohen Vogelreusen werden jedes Jahr bis zu 140.000 Vögel eingefangen und beringt. Im Durchschnitt von 35 Jahren von 1956 – 1991 waren es knapp 50.000 Vögel pro Jahr. Von dieser Arbeit her weiß man z. B., dass Zaunkönige nach England und Spanien, Buchfinken, Meisen, Amseln und Würger nach Mitteleuropa, Sumpfrohrsänger nach Afrika und Rotkehlchen nach Süddeutschland ziehen. Grasmücken und Störche fliegen in östliche Richtung in die Türkei, Karmingimpel bis nach Indien. Auf der Kurischen Nehrung konnten insgesamt 306 Vogelarten beobachtet werden. Sie wurden in der Monographie „Die Vögel von Ostpreußen“ von Friedrich Tischler zusammengefasst.

Zwischen Sarkau und Rossitten stößt man auf das Holzgebäude der russischen Vogelwarte, die Feldstation Fringilla. Das freundliche Personal demonstriert auf Wunsch die Beringung von Vögeln. In der Nähe wurden Netze zum Einfangen der Vögel aufgebaut.

Die ehemalige deutsche Vogelwarte 4 km weiter nördlich und 150 m westlich der Nehrungsstraße, das sog. Jagdhaus Ulmenhorst von Prof. Thienemann, ist nicht mehr vorhanden. Es gibt nur noch einige Fundamentreste. Das Haus war bereits nach dem 1. Weltkrieg zerstört worden, wurde aber 1926 wieder aufgebaut und überlebte somit fast zwanzig Jahre.



[1] Lorenz Grimoni, Dr. Hans-Georg Thienemann: Zoodirektor in Königsberg und Duisburg, Königsberger Bürgerbrief Sommer 2012, S. 15
[2] Des „Vogelprofessors“ Erbe, Oprbl. Nr. 43/2005, S. 13
[3] Mechtild Stoye-Herzog, Rossitten am Bodensee, Land an der Memel, Pfingsten 2024, S. 154 f