Bericht der Verlegerin und Schriftstellerin Dr. Tilly Boesche-Zacharow, Autorin des Buches “AWEYDEN – Chronik eines masurischen Dorfes“
In Masuren, an der Grenze Ostpreußens – 18 km von der Kreisstadt Sensburg entfernt – liegt das Pfarrdorf Aweyden. Es wurde 1397 vom Komtur zu Rhein Johann Schönfeldt gegründet. Ehe die reale Geschichtsforschung einsetzte, berichtete eine alte Sage lange, in Bezug auf Namensgebung, dass der Komtur in Begleitung seiner Ordensherren durch das Gebiet ritt und – überwältigt von der unberührten, reizvollen natur – entzückt ausrief: „Ah-h-, Weiden!“.
Inzwischen ist belegt, dass der Ursprung des Namens doch wohl eher durch die Herkunft des „Johann von Schoenfeld“ (wie er im Komturenverzeichnis enthalten ist) aus dem oberpfälzischen Weyden erklärbar wird.
60 Hufen zählte das Beutnerdorf, für das nicht Geld, sondern Honigzins geleistet werden sollte.
Im 15. Jahrhundert, immer noch in der Ordenszeit, wurde die Kirche erbaut. Der zweigeschossige Unterbau des Turmes weist gotische Formen auf, der obere Teil ist verbrettertes Fachwerk mit zeltförmigem Pfannendach. Innerhalb des Turmmauerwerkes führt eine gemauerte Wendeltreppe zum Glockenstuhl mit den Glocken Maria und Josef (Letztere wurde im 2. Weltkrieg im Zuge der Rüstung eingeschmolzen). Die Giebel des ansonsten aus Feldsteinen errichteten Kirchenschiffes bestehen aus Ziegelmauerwerk. Sie haben eine Teilung aus übereckgestellten Pfeilern und die an der Ostseite angebaute Sakristei besitzt einen reizvollen Volutengiebel.
Pfarrer Gustav Will (1906 bis 1934 im Amt) war es zu danken, dass die Reste des seit langen Jahren auf dem Turmboden befindlichen Kanzelaltars in den 1930er Jahren heruntergeholt wurden. Man stellte ihn wieder her und nun nahm er den ihm gebührenden Platz im Kirchenschiff wieder ein. Äußerst befremdend muteten den Betrachter die zwei Frauengestalten mit verzerrten Gesichtszügen unterhalb der Kanzel an. Auf dem Altar selbst standen die vergoldeten Figuren Gottvaters mit der Weltkugel und die des Gottessohnes Jesus. Die Farbe des hölzernen Kirchengestühles war in einem dunklen Rotbraun gehalten.
Im Jahr 1937 feierte das Dorf Aweyden mit seinem jungen Seelsorger Benno Heinze den 500. Geburtstag der Kirche.
Pfarrer Heinze fiel 1942 als Soldat auf einem der nationalsozialistischen Kriegsschauplätze. Schon zu seiner Militärzeit wurde er vertreten vom Prädikanten Helmut Dulde, der nach seiner letzten Seelsorgerprüfung die verwaiste Gemeinde als Pfarrstelle erhielt. Auch er wurde trotz starker gesundheitlicher Beschwerden vor Kriegsende zum Militär gezogen und gilt als verschollen.
1913 erhielt Aweyden ein dreiklassiges Schulgebäude, welches über alle Wechselfälle des Schicksals bis heute in gleicher Funktion genutzt wird. Das einstöckige Gebäude umfasste seit Beginn unten die Schulräume und darüber die Wohnräume für den Lehrkörper der 2. und 3. Klasse. Die Hauptlehrerwohnung hingegen befand sich in dem im Südosten gelegenen Vorbau, an den sich ein riesiger, von Bäumen und Hecken beschatteter Garten anschloss. Auf einem ungewöhnlich großen Schulhof hatte die Jugend genügend Platz, sich während der Pausen nach Herzenslust auszutoben.
Gegenüber der Schule stand, etwas unterhalb der Dorfstrasse, die hier in die Chaussee nach Peitschendorf mündete, das freundliche, geradezu modern anmutende neue Wohnhaus des Schmiedemeisters Johann Chudziak. Er besaß einen langgestreckten, schmalgitterigen Balkon in der ersten Etage über der Veranda zu ebener Erde. Die Schmiedewerkstatt befand sich genau auf der gegenüberliegenden Seite der Chaussee.
Die Länge des Ortes, gemessen von der Schmiede im Westen bis zur Mühle des August Schwark im Osten, Richtung Moythienen, betrug rund einen Kilometer.
Zwei parallel laufende Straßen waren durch die Ortschaft angelegt. An der breiteren, südlich gelegenen Hauptstraße gab es die drei Gast- bzw. Kaufhäuser: Platau, Pallasch und Lumma, die Post, betrieben vom „Postfäulein“ Irmgard Sayk, das kleine Stoffkaufhaus Emil (Kodder- zur Unterscheidung vom Lehrer -) Schmidt, die Fleischereien Bieber und Tuttas sowie etliche gut renommierte, alteingesessene Bauernhäuser.
An der oberen, etwas schmaleren Dorfstraße standen fast ausschließlich Bauernhäuser, dazwischen der Tischler Glaß, einige einfache Bauten zur Unterbringung von Instleuten und als einziges Handelsunternehmen – kurz vor dem kleineren Dorfteich – der dritte Fleischer im Ort – Koppreck.
Anstelle der alten, verfallenden Flügelmühle war es der Tüchtigkeit des Müllers Schwark gelungen, einen festen, modernen Mühlbetrieb aufzubauen. Die Mühle war das einzige Gebäude in der Ortschaft, das Elektrizität besaß. Das Mahlwerk und natürlich auch die Privatsphäre des Müller-Wohnhauses bezogen ihre eigene Stromzufuhr aus im Keller installierten Akkumulatoren.
Alle übrigen Dorfbewohner saßen abends im Schein von Petroleumlampen. Diejenigen, die sich bereits den Fortschritt einer Spirituslampe leisteten, wurden ehrfürchtig bestaunt.
Aweyden war durch keine eigene Station direkt mit dem Eisenbahnnetz verbunden. Wer einen Zug zu nutzen wünschte (z. B., um in das von dort nur 12 km entfernte Sensburg zu „reisen“), musste sich zuerst in das 6 Kilometer entfernte Peitschendorf zum dortigen Bahnhof begeben.
Noch innerhalb der Dorfgemarkung, aber außerhalb des Dorfkerns, siedelten etliche Aweyder am Rand der Chausseen, die zu Nachbarorten führten. Das war der sogenannte “Abbau“. Nach Peitschendorf zu wies linkerhand einer dieser Siedlungsbauten das Schild „Standesamt“ auf. Die Eigentümerin des kleinen Anwesens Lydia Broselat geborene Morenz hatte es an die amtierende Standesbeamtin Hedwig Marenski verpachtet, welche 1933 die Amtsnachfolgerin ihres Stiefvaters Fritz Zywietz geworden war, und zwar als eine der ersten Beamtinnen öffentlichen Dienstes im „Deutschen Reich“. Sie übte ihr Amt bis zur Flucht im Januar 1945 aus.
Nachdem 1874 die staatlichen allgemeinen Standesämter die Eintragungen in den Kirchenbüchern ergänzten und schließlich vorrangige Bedeutung erhielten, wurden die Bücher, die in den einzelnen Ortschaften wie Kelbonken, Babienten, Gollingen, Zollernhöhe (ganz früher Czirspienten), Broedienen geführt wurden, nach Aweyden verbracht. Nun wurde von hier aus ein gemeinsames Register für den ganzen Bezirk geführt. Er reichte im Norden bis einschließlich Broedienen, im Süden bis Kaddig (ganz früher Krawno), im Westen bis Langendorf und im Osten gehörten Erpmühle (ganz früher Uklanken) und Kelbonken dazu. Ein Standesbeamter bezog kein Gehalt im Sinn einer öffentlichen Entlohnung, die von Staats wegen festgesetzt wird. Alljährlich erhielt er eine Art Seelengeld je nach Personenanzahl seines Amtsbezirks. Des Weiteren gehörten ihm die Einnahmen aus Urkunden und amtlichen Bestätigungen (z. B. Trauungszeremonien). Alle Akten und sämtliches Dokumentenmaterial des Aweyder Standesamtes wurden Anfang 1945 innerhalb der letzten Kriegshandlungen total vernichtet.
Der rückwärtigen Seite des Schulhauses gegenüber lag der große gepflegte Friedhof, genutzt seit mindestens 1790 (lt. Inschrift eines Grabsteins). Ein anderer – früherer – Beerdigungsort soll sich an der Peitschendorfer Chaussee befunden haben, der aber seit langem für weitere Nutzungen geschlossen worden war. Auf dem nun im Dorf befindlichen Friedhof gab es nur eine einzige Tanne, an deren Fuß 1933 der schon erwähnte Standesbeamte Zywietz seine letzte Ruhe gefunden hatte. Inzwischen ist 1999 seine einzige Tochter – 66 Jahre später – zu ihm zurückgekehrt und liegt heute an seiner Seite.
Masuren, Land der Wälder und Seen …! Aweyden selber besaß keinen Wald, aber außer seinen beiden kleinen Dorfteichen, in denen Fischer alljährlich reichhaltige Fischernte hielten, gab es den großen Aweyder See, an dessen verschiedenen Uferrändern sich drei Bauern mit ihren Gehöften niedergelassen hatten: Meya’s am See, Nadolny’s am See und Kowallik’s am See.
Der See, voller Krebse und Fische, liegt an der südlichen Seite des Ortes. Er ist 261,2 ha groß. Die Höhe des Seespiegels über NN beträgt 132,8 Meter, seine tiefste Stelle 31,1 Meter; er hat eine Sichttiefe von 4,6 bis 5,9 Metern. Bei günstigen Lichtverhältnissen schimmern seine Wasser blaugrün.
Aweyden besaß auch einen Sportplatz, dem Friedhof benachbart. Hier wurden während der Nazizeit Sonnenwendfeiern abgehalten. Es brannten Holzstöße, und die Jugend sang beim Feuerschein ihre damaligen Lieder: „Flamme empor…!“
Zweimal jährlich wurde in Aweyden ein Tier- und Krammarkt abgehalten. Vor allem kamen Händler aus Schlesien. Vielfach waren es tagelang über Land wandernde Frauen mit Kiepen auf dem Rücken, die nun hier ihre Ware anboten. Die Bezeichnung „Schlesier“ bewirkte fast eine gedankliche Verbindung zu zigeunerhafter Identifikation. Während des Krieges fanden rund um die Kirche herum die obligaten Pferdemusterungen statt.
Der einzige Ziehbrunnen im Dorf war in den letzten Vorkriegsjahren so morsch geworden, dass er nicht mehr benutzt werden durfte. Die neuen Anwohner des Ortes beseitigten ihn nach dem Krieg vollständig.
Es gab auch einmal ein Aweyder Gut. Der letzte Besitzer Borkmann verkaufte es unmittelbar vor dem 1. Weltkrieg. Es wurde aufgeteilt. Das Gutshaus und einen Teil des Landes, das so genannte Restgut, erstand der mit anderen nach dem ersten Weltkrieg vom Schwarzmeer zugezogene Bauer Becker. Links und rechts des Weges nach Zatzkowen siedelten die meisten dieser Schwarzmeer-Einwanderer: z. B. Schaal, Kessler, Jeromin.
Viele Einwohner Aweydens waren miteinander versippt, und die meisten von ihnen hatten Verwandtschaft in den Nachbardörfern.
Bis zum Kriegsende 1945 gab es immer noch einige alte Leute, die nur sehr gebrochen Deutsch sprachen und sich lieber des ursprünglichen Masurisch bedienten (keinesfalls zu verwechseln mit Polnisch). Masurische Begriffe waren teilweise längst in die deutsche Sprache übernommen worden. So redete man z. B. von „Pan Bretscher“, wenn man den Schmied meinte, weil der sich gern mit dem jeweiligen Gegenüber verbrüderte und ihn dementsprechend mit „Brace“ = Brüderchen betitelte.
In der Kreisstadt Sensburg stand an einem Lokal der überaus sinnige Spruch: „Wer uns Preußen hält für Polen, psiakrew, den soll der Teufel holen!“
Aweyden war ein „grünes“ Dorf. Trotz fehlender Elektrizität, Wasserhähnen in Küche und Bad machte es bis 1945 einen gut situierten Eindruck. Heute gibt es statt „Herzhäuschen“ auf dem Hof Strom, Wasserleitung im Haus, die Fernsehantenne auf dem Dach. Dennoch wirkt der Ort kahl, kalt, nüchtern und sonderbar armselig bis primitiv. Der ehemals reichhaltige Baumbestand wurde rapide vermindert. Das Holz war und ist begehrtes Heizmaterial.