Lesnoe – Groß Lenkeningken/Großlenkenau
Die Entstehung des Dorfes Groß Lenkeningken ist nicht genau dokumentiert. Auf dem höchsten Berg des Ortes, dem Palletschkallnis, hatte man eine prußische Kultstätte nachgewiesen, was auf eine sehr frühe Besiedlung hinweist. Das Alter der deutschen Siedlung schätzte man auf 200 bis 300 Jahre bis zum Ende der deutschen Zeit.[3] Die Kirche in Groß Lenkeningken errichtete man 1902 – 1904, wobei der Ort bereits 1895 Zentrum des gleichnamigen Kirchspiels wurde, weil er geographisch zentral gelegen war. Bis zum Bau der Kirche fand der Gottesdienst in einem wenig einladenden Gebäude nahe der Chaussee statt. Erster Pastor war ein Herr Sinnhuber, der von Salzburger Einwanderern abstammte. Als die Kirche am 23. 10. 1904 geweiht wurde, war sie die dritte Jubiläumskirche in Ostpreußen. Bei dem Festakt war auch der Landrat des Kreises Ragnit, Dr. Graf von Lambsdorff zugegen. Die Kirche der Muttergemeinde in Ragnit spendete zwei ihrer Kronleuchter, die wegen der Umstellung auf Gasbeleuchtung dort entbehrlich geworden waren und Pfarrer Sinnhuber erhielt vom Kaiser an diesem Tag den Kronenorden 4. Klasse.[4]
Nach dem 1. Weltkrieg hatte dieses Amt Pfarrer Kupsch inne, ein Deutschbalte, der bereitsKultusminister in Lettland war. Letzter Seelsorger war Herr Walther, Mitglied der Bekennenden Kirche. Nach dem Krieg, in dem das Dach bereits beschädigt wurde, wurde die Kirche in den 1950er Jahren oder 1960 gesprengt und ihre Ziegelsteine verwertet. Im Jahr 2012 wurde von der Kirchspielvertreterin Gerda Friz am benachbarten Kindergarten mit Genehmigung der Behörden eine Gedenktafel angebracht, auf der die Geschichte der Kirche auf deutsch und russisch beschrieben wird.[1] Diese Gedenktafel befindet sich jetzt im Stadtgeschichtlichen Museum in Neman – Ragnit.[2]
Größte Arbeitgeber im gewerblichen Bereich des Dorfes waren das Sägewerk Kröhnert und dasKalksandsteinwerk Zerrath. Es gab eine zweiklassige Schule, in der ca. 60 Schüler unterrichtet wurden. Als bekanntester Pädagoge wurde Herr Kasper genannt, von dem eine Tochter den Besitzer des damals bekannten Ausflugslokals Schober in Ober-Eißeln geheiratet hatte. Die Schule hat überlebt und wird heute von russischen Schülern genutzt.
Bei Ausbruch des 2. Weltkriegs lebten in Groß Lenkeningken 715 Personen. Das Dorf musste am 15. 10. 1944 von den Bewohnern geräumt werden, die sich in den Aufnahmekreis Braunsberg zu begeben hatten, und fiel am 19./20. Januar 1945 in die Hände der Roten Armee.
Das unweit entfernte Kustovo – Klein Lenkeningken/Klein Lenkenau wurde erst 1837 als Forstgutkolonie gegründet. Hier siedelte man auf kleinen Parzellen ehemalige Soldaten des York’schen Korps an, die in den Kämpfen gegen die napoleonischen Truppen zum Invaliden geworden waren und auf diese Weise den späten Dank des Vaterlandes erfuhren. Der Boden war leicht, wenig ertragreich und sumpfig und musste erst urbar gemacht werden, was den Soldaten auch nur zum Teil und unter großen Schwierigkeiten gelang. Als die Deutschen ihre Heimat am 12. 10. 1944 verlassen mussten, gab es in Klein Lenkeningken 15 Höfe mit 83 Bewohnern.
Bernhard Waldmann hat sehr spezifische Erinnerungen an seine ostpreußische Familie und an Groß Lenkeningken und damit an das Leben in damaliger Zeit:
Mein Grossvater Georg Radtke stammte aus Uszballen bei Schmalleningken im Memelland. Meine Grossmutter Marie, geb. Gudjons, stammte aus Alt Lubönen an der Memel. Aufgrund von Familientragödien waren beide Habenichtse, konnten aber durch unvorhergesehene glückliche Fügungen noch vor dem Ersten Weltkrieg einen kleinen Bauernhof in Schillenöhlen (Flussfelde) an der Szeszuppe erwerben. Das Dorf Schillenöhlen existiert nicht mehr, es lag an der damaligen russischen (eigentlich litauischen) Grenze. Erneut durch glückliche Fügungen konnte mein Großvater in der Inflationszeit in Ackmenischken (später Vorwerk adl. Gut Juckstein) ein stillgelegtes Sägewerk kaufen. Völlig unerwartet waren meine Großeltern zu bescheidenem Wohlstand gelangt.
Ackmenischken, in der Nähe von Lobellen gelegen, gehörte zum Kirchspiel Gross Lenkeningken. Das Hauptdorf Juckstein gehörte allerdings zum Kirchspiel Wedereitischken (Sandkirchen). Meine fromme Großmutter Marie fühlte sich von einer schrägen evangelischen Sekte angezogen. Deren Zusammenkünfte fanden im Tanzsaal Otto Osterode in Gross Lenkeningken statt. Mein geduldiger Grossvater ertrug den religiösen Wahn seiner Frau mit Gleichmut, und er fuhr sie regelmässig mit dem Pferdefuhrwerk zu den Bibelstunden nach Gross Lenkeningken. Er nahm aber nicht an den Erbauungstunden teil, sondern blieb draussen auf dem Wagen sitzen. Mein Bruder Theo, der manchmal dabei war, wunderte sich, dass der Grossvater draussen alle Kirchelieder lauthals mitsang und fragte später: “Darf der das?” Übrigens, mein Vater und meine Mutter sind 1924 in der Kirche von Gross Lenkeningken getraut worden.
[1] Heimatarbeit im Kreis Tilsit-Ragnit, Oprbl. Nr. 48/2012 (1. Dezember), S. 18
[2] Pfarrer Martin Lipsch, Aus dem Kirchspiel Groß Lenkenau, Land an der Memel, Weihnachten 2013, S. 41
[3] Gerda Friz, Kirchspiel Großlenkenau, Land an der Memel, Pfingsten 2017, S. 72
[4] Hans-Georg Tautorat, Ragniter Kronleuchter als Geschenk, Oprbl. Nr. 31/94, S. 10