Ragnit

Geschichte von Ragnit

Im Laufe des 13. Jhs. eroberte der Deutsche Orden die prußische Landschaft Schalauen, die sich diesseits und jenseits der unteren Memel erstreckte.

Erst 1275 eroberten die Ordensritter die auf einer Halbinsel stehende Schalauer Burg „Raganita“, eine der stärksten prußischen Befestigungen jener Zeit, und richteten an ihrer Stelle an diesem günstigen Platz an der Memel eine eigene Burg ein, in der ab 1289 ein Komtur residierte. Sie nannten ihre Burg „Landeshut“, doch im Laufe der Zeit setzte sich der aus dem Prußischen abgeleitete Name „Ragnit“ (von raganita = kleine, liebe Hexe oder raga = Ecke, Horn, Spitze) durch. Dem Komtur von Ragnit unterstanden die Burgen von Tilsit und von Labiau.

Die Burg in Holz-Erde-Bauweise wurde 1355 und 1356 sowie erneut 1365 zerstört und jeweils wieder aufgebaut. Sie war ein wichtiger Pfeiler bei Angriffen gegen die heidnischen litauischen Szameiten oder bei der Verteidigung gegen sie. Aber erst als der Orden diese litauische Unruheprovinz vom Großherzog Vitautas erwerben konnte, wurde die Burg 1398 – 1409 um einen Kilometer weiter nach Westen versetzt in Stein aufgeführt[2].

Zum Bau der Steinburg setzte man auch Strafgefangene ein. Daraus entstand der Spruch: einen Ragniter machen = einen Verbrecher zur Zwangsarbeit verurteilen. Immerhin wurde die Burg zum letzten großen Burg-Bau der Ordenszeit und zur stärksten Ordensfestung im Schalauer Land. Eine der großen Heerstraßen des Ordens führte über Insterburg hierher.

Um 1409 plante der Orden die Anlage einer Stadt neben der nun steinernen Burg, wo sich schon um 1400 ein bedeutender Marktflecken gebildet hatte. Die verlorene Schlacht bei Tannenberg und der Niedergang des Ordens machte dieses Vorhaben zunichte. Nach 1525 blieb Ragnit Sitz eines Amtshauptmanns, aber dessen Verwaltungsumfang war wesentlich geringer als der einer Komturei. Die Siedlung selbst erreichte nie die Bedeutung des nahen Tilsit, das bereits 1552 zur Stadt erhoben wurde, und erhielt erst am 26. März 1722 unter König Friedrich Wilhelm I. das Stadtprivileg. Im selben Jahr wurde die Stadtschule begründet, die Akzise eingeführt und dem Bürgermeister ein Jahresgehalt von 18 Talern zuerkannt.

Bereits in der Ordenszeit verfügte Ragnit als Hauptamt über eine kleine, aber ständige Besatzung. Als Garnisonsort wurde es 1678 erstmals erwähnt, aber wohl nur vorübergehend. 1714 war Ragnit dagegen als Garnisonsort benannt, denn in diesem Jahr rückten Teile des Kürassier-Rgtes. Nr. 8 in die Stadt ein. Die Garnisonstruppen wechselten in den folgenden Jahren des Öfteren. Bei den Ragniter Husaren wurde 1726 Joachim Hans von Zieten als Leutnant eingestellt, der später als “Zieten aus dem Busch” Berühmtheit erlangte. Es gab jedoch Schwierigkeiten mit dem Eskadronchef und Zieten erhielt 1 Jahr Festungshaft in Königsberg. Nach der Entlassung forderte er seinen Widersacher zum Duell und wurde daraufhin aus dem Militärdienst entlassen. Wenige Jahre später nahm Zieten jedoch als Rittmeister und Anführer der Ragniter Husaren höchst erfolgreich am Krieg gegen Frankreich 1734 – 1736 teil. 1792 verschwanden die Husaren wieder aus Ragnit und 1880 gab man Ragnit als Garnisonsstandort auf. Ragnit verfügte nie über eine Kaserne. Die Pferde standen in größeren Ställen, Scheunen oder Schuppen und die Reiter waren in Bürgerquartieren untergebracht[1].

Während des 7-jährigen Krieges brannten die Russen am 24. 9. 1757 große Teile Ragnits nieder, wobei die Kosaken eine grausame Exekution verübten. Auch die napoleonische Eroberung Preußens 1807 brachte für Ragnit erhebliche Zerstörungen.

Im Zuge der preußischen Gebietsreformen wurde Ragnit 1818 Kreisstadt des gleichnamigen Kreises. Das Landratsamt zog 1825 von Gerskullen nach Ragnit ins Kreishaus, einem Gebäude gegenüber dem Schlossplatz. 1887 baute man den Schlachthof, 1898 das Gaswerk und 1902 das Wasserwerk. Auf dem Gebiet der Bildung entstand 1850 die Ackerbauschule Lehrhof Ragnit, 1882 ein Lehrerseminar und 1901 eine Landwirtschaftsschule. Daneben gab es mehrere Volks- und Mittelschulen.

Am 29. Juni 1909 wurde die Zellstoff-Fabrik Ragnit A.G. als wesentlicher Industriebetrieb der Stadt gegründet, eine kombinierte Papier- und Zellstofffabrik. Produktionsbeginn war Ende 1912, aber 1913 und 1914 arbeitete man bereits am Ausbau der Fabrikation. Vor der Weltwirtschaftskrise arbeiteten 1926 in der Fabrik 1.000 Mitarbeiter, danach im Durchschnitt 750. Auch nach 1945 wurde die Zellstofffabrik weiter betrieben. Am 9. Juni 2008 wurde erhebliche Teile der Zellstoff-Fabrik durch ein Großfeuer zerstört. Von den etwa 2.000 Beschäftigten mußte die Hälfte entlassen werden. Inzwischen sind die Zellstoffwerke bankrott.[3]

Schon früher, 1883, wurde die Eisengießerei und Maschinenfabrik der Gebrüder Kreide begründet, der 1902 die Fabrik von Brüning & Sohn für Zigarrenkistenbretter und Ähnliches sowie in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg etliche weitere Industriebetriebe folgten, die sich mit keramischen Artikeln wie Ofenfliesen, Blumentöpfen, Wandfliesen etc. befassten. Insofern wuchs das deutsche Ragnit zum Ende hin zu einer handfesten kleinen Industriestadt heran. Im Jahr 1939 wohnten hier 11.000 Einwohner.

Den ersten Weltkrieg überstand Ragnit mit nur geringen Blessuren als Folge eines Artillerieangriffs der Russen. Die Stadt war vom 23. August bis 12. September 1914 von den Russen besetzt.

Nach dem 1. Weltkrieg verlor der alte Kreis Ragnit den nördlichen Teil seines Kreisgebietes jenseits der Memel und wurde mit dem in gleicher Weise zum Rumpfgebilde geschrumpften alten Kreis Tilsit zum neuen Kreis Tilsit-Ragnit zusammengeschlossen. Die bisherigen Verwaltungsbehörden des Kreises zogen dabei nach Tilsit als der wirtschaftlich bedeutenderen Kreisstadt um. In Ragnit verblieb lediglich das Amtsgericht, das in Teilen des Ordensschlosses untergebracht war. Natürlich brauchte man auch unverändert das Kreiskrankenhaus.

Im 2. Weltkrieg erreichten die Sowjets nach einem Angriff am 5. Oktober 1944 die Memel gegenüber von Ragnit. Daher evakuierten die Deutschen am 20. Oktober 1944 die Stadtverwaltung und die Einwohner nach Braunsberg. Am 17. Januar 1945 überschritt die Rote Armee die Memel und zog ohne Widerstand in Ragnit ein mit der Folge, dass die Stadt weniger stark zerstört wurde als vergleichbare andere Wohnsiedlungen.

In sowjetischer Zeit erhielt die Stadt den Namen „Neman“ und ist innerhalb neuer Kreisgrenzen erneut Kreisstadt. Das Verhältnis zwischen russischen Neubürgern und deutschen Altbürgern hat sich nach dem Zusammenbruch des Sowjetreichs derartig entspannt, dass es möglich wurde, am 25. Mai 2002 gleichzeitig das 280jährige Stadtjubiläum von Ragnit und das 55jährige Jubiläum von Neman gemeinsam zu feiern.

Die rippenförmige Strassenstruktur der Altstadt geht auf den Stadtplanungsentwurf des Hofarchitekten Joachim Ludwig Schultheiß von Unfriedt von 1723 zurück.

In früheren Zeiten gab es einen beliebten Spazier- und Wanderweg vom Zentrum Ragnits entlang der Daubas bis nach Ober-Eyßeln und zum Bismarckturm.  Dieser Daubas-Weg ist 75 Jahre nach Kriegsende verwahrlost und unpassierbar, aber es gibt Planungen, diesen Weg wiederherzustellen.[4]


[1] Max Szameitat, Ragnit als Garnisonsstadt, Land an der Memel, Weihnachten 2014, S. 169 ff
[2] Friedrich Borchert, Tilsit, Oprbl. Nr. 31/1987, S. 12
[3] Hans Dzieran, Garnelen statt Zellstoff, Oprbl. Nr. 1/2011 (8. Januar), S. 13
[4] Eduard Politiko, Neues aus Ragnit, Land an der Memel, Pfingsten 2021, S. 29