Bei Tilsit mündet die Tilse in die Memel. Die Beschaffenheit des Geländes an dieser Stelle ergab den Namen: litauisch „tilszus“ hieß „sumpfig“.
Bereits zur Zeitenwende um Christi Geburt war die Gegend um das spätere Tilsit besiedelt. Das ist dokumentiert durch eine Nekropole bei Splitter, die 1936 bis 1940 archäologisch untersucht und auf ein Bestehen von 50 Jahren v. Chr. und 150 Jahren n. Chr. bis zur Völkerwanderungszeit datiert wurde sowie durch Altertumsfunde der Prussia auf einer Anhöhe an der Stadtgrenze von Tilsit um 1910.[4] Auch auf dem Gräberfeld von Bndiglauken auf einer Anhöhe an der Stadtgrenze von Tilsit wurden 1910 unter Prof. Bezzenberger umfangreiche Altertumsfunde gemacht wie römische Münzen, Fibeln, Lanzenspitzen, Armbänder, Perlen etc.[5] Auf dem Schlossberg östlich der Luisebrücke verfügten die Prußen vermutlich über die Burg „Caustritten“. Sie wurde vom Deutschen Orden erobert und in eine eigene Festungsanlage umgewandelt. Diese zerstörten die Litauer 1365. Als Ersatz dafür baute der Orden 1406 – 1409 vier Kilometer weiter westlich die einflügelige Burg in Stein an der Tilse-Mündung am Südufer der Memel, und zwar eine der kleineren Ordensburgen, Sitz eines Pflegers. Es war eine der letzten Wehranlagen, die der Orden gebaut hat.
Der Marktflecken neben der Burg entwickelte sich recht gut, insbesondere durch einen blühenden Handel mit dem benachbarten Litauen. Das erste Landesprivileg wurde schon 1281 an den Schalauer Jondele, Schalwithe ausgegeben.[6] Maßgeblich dafür waren die günstige Lage am Memelstrom, die guten Böden der Niederung und der Holzreichtum in den umgebenden Wäldern. Sie ließen Tilsit zu einem wirtschaftlichen Zentrum der Region heranwachsen. Holz, Getreide, Hülsenfrüchte, Nüsse, Hanf, Felle etc. wurden nach Königsberg geliefert und von dort weiterverkauft. Im Gegenzug gelangten Salz, Heringe, Tuche und Gebrauchsgüter als Handelsware nach Tilsit. So erhielt die Kaufmannssiedlung „Tilse“ 1552 von Herzog Albrecht das Stadtprivileg bzw. die Gründungsurkunde für die Stadt und wurde mit 3.000 Einwohnern eine Zeit lang neben Königsberg die bedeutendste Stadt Ostpreußens. Der moderne Name „Tilsit“ bürgerte sich aber wohl erst im Laufe des 19. Jhs. ein – so Kossert in „„Ostpreussen“.[7]
Einen wesentlichen Beitrag zur Prosperität der Stadt in der Reformationszeit leistete der mit umfangreichem Landbesitz jenseits der Stadtgrenzen ausgestattete Grußgrundbesitzer Moritz II. von Perschkau.[8] Diese Prosperität war es vermutlich, die den Regenten Markgraf Georg Friedrich von Hohenzollern 1586 veranlasste, eine der Elementarschulen von Tilsit zu einer Partikularschule zu erheben. Das war eine lutherische Latein-Lehranstalt, die die Schüler auf den Besuch der Universität in Königsberg vorbereiten sollte und die ab 1599 die Bezeichnung „Fürstenschule“ erhielt. 1812 wurde diese Schule königliches Gymnasium unter dem Rektor Wilhelm Theodor Stein, nach dem 1. Weltkrieg staatlichesHumanistisches Gymnasium, das 1986 in Kiel sein 400jähriges Bestehen feierte. U. a. Hermann Sudermann (1857 – 1928) ging hier zur Schule und setzte der Stadt mit seiner „Reise nach Tilsit“ ein literarisches Denkmal. Ein 1900 vollendetes neues Gebäude steht heute noch in Tilsit und wird wohl als Militärkrankenhaus genutzt.
1839 kam die Realschule, später Realgymnasium, hinzu, und 1856 folgte die Höhere Privatmädchenschule. Weitere Mittel- und Volksschulen ergänzten im Anfang des 20. Jhs. das schulische Angebot.
Von den die Provinz Ostpreußen in Mitleidenschaft ziehenden kriegerischen Ereignissen mit Polen, Tataren, Schweden, Russen, Franzosen wurde Tilsit in all den Jahrhunderten relativ wenig betroffen. Am 20. 1. 1679 konnten 16.000 Schweden unter Feldmarschall Horn nahe dem Dorf Splitter bei Tilsit von den Preußen unter General Treffenfeld in die Flucht geschlagen, am 21. 1. von General Görtzke bei Heydekrug besiegt und zum Rückzug nach Riga gezwungen werden, wo aber dank der Verfolgungsjagd von General Schöning nur noch wenige ankamen. Bekannt ist dieser Feldzug vor allem durch die oft kolportierte Geschichte der vorhergehenden Schlittenfahrt des Großen Kurfürsten mit 3.000 Schlitten über das Eis des Kurischen Haffs an die Front. Aber als er am Ort der kriegerischen Auseinandersetzung ankam, waren die Schweden längst besiegt.
Auch der Kreis Tilsit hatte erheblich unter der Großen Pest im Anfang des 18. Jhs. zu leiden. Starben im Jahr 1707 – vor der Epidemie – im Amt Tilsit 808 Personen, waren es mit Ausbruch der Seuche im Jahr 1708 bereits 6.640 Tote, auf dem Höhepunkt im Jahr 1710 waren es 17.226 Opfer. In ganz Ostpreußen starben zwischen 1709 und 1711 etwa 200.000 bis 245.000 Menschen, davon allein in den 4 litauischen Ämtern etwa 128.000.[9]
In den Mittelpunkt des Weltinteresses rückte die Stadt 1807, als am 7. und 9. Juli auf einem Floß in der Mitte der Memel die Friedensschlüsse zwischen Frankreich und Russland sowie zwischen Frankreich und Preußen geschlossen wurden. Die Bedingungen für Preußen waren nicht sehr günstig. Daran änderte auch eine persönliche Unterredung von Königin Luise mit Napoleon nichts. Sie verschaffte sich ihm gegenüber allenfalls ein wenig mehr Respekt, wohingegen sie in der Öffentlichkeit damit Ruhm erntete. Nur Zar Alexander verhütete Schlimmeres, weil er Interesse an der Aufrechterhaltung einer Pufferzone hatte. Preußen verlor mit dem Friedensvertrag von Tilsit sämtliche Gebiete westlich der Elbe und musste die bei den polnischen Teilungen erworbenen Gebiete Südostpreußen und Neuostpreußen an das Herzogtum Warschau abtreten.
König Friedrich Wilhelm III. wohnte damals im Haus des Müllers Hubert in der Schloßmühlenstraße 3, wo Luise mit Napoleon zusammentraf, weshalb man das Haus später „Luisenhaus“ nannte. Es existiert nicht mehr. Napoleon wohnte zunächst auf der Domäne Am Ballgarten – um die Wende zum 20. Jh. Schützenhaus – und später nach dem Waffenstillstand in der Deutschen Straße 24. Auch dieses Haus gibt es nicht mehr. Die Napoleonslinde auf dem Dragowskibrrg, die an jene Zeit erinnerte, hat inzwischen das Zeitliche gesegnet. Es ist jedoch 2013 eine Neupflanzung erfolgt.
Immerhin hatte der Frieden von Tilsit zur Folge, dass die Franzosen bis zum 25 Juli wieder abzogen. Aber Preußen verlor fast die Hälfte seines Staatsgebiets und Napoleon forderte eine Unsumme an Kontribution, die er jedoch nicht in vollem Umfang eintreiben konnte. Preußischer Unterhändler war Feldmarschall Friedrich Adolf von Kalckreuth. Die Königliche Familie kehrte am 15. Januar 1808 aus Memel nach Königsberg zurück.[10]
Im 19. Jh. war Tilsit das Zentrum des starken deutsch-russischen Holzhandels und die Käufer kamen aus dem ganzen Reich. Für den Holztransport stand die Memel zur Verfügung. Die Länge eines Floßes betrug vor dem 1. Weltkrieg bis zu 125 Metern, die Breite ca. 18 Meter. Nach dem 1. Weltkrieg wurde der Holztransport auf der Memel eingestellt.
In Tilsit mit seiner ausgezeichneten Verkehrs-Infrastruktur unweit der russischen Grenze boten sich für clevere Kaufleute viele Geschäftsmöglichkeiten, so auch für viele Juden. So lebten in der ersten Hälfte des 19. Jhs. 102 Juden in der Stadt, zum Ende des 19. Jhs. waren es 128. Als nach 1880 die Einreisebestimmungen für russische Juden verschärft wurden, erlitten die Stadt und auch die Synagogengemeinde erhebliche Einbußen.
Die Anbindung Tilsits an das Eisenbahnnetz erfolgte 1865 mit der Erbauung der Strecke Tilsit – Insterburg. Es folgten 1875 die Linien Tilsit – Memel mit gleichzeitigem Bau der Eisenbahnbrücke über die Memel, 1891 Tilsit – Labiau – Königsberg, 1892 Tilsit – Ragnit, 1902 die Kleinbahnstrecken Pogegen -Schmalleningken und 1904 Tilsit – Pogegen – Laugßargen.[1]
Im Jahr 1895 nahm man das Gelände von Tilsit aus dem gleichnamigen Landkreis heraus und bildete den Stadtkreis Tilsit, der jedoch unverändert Sitz der Landkreisbehörden blieb.
Eine erste Schiffbrücke über die Memel entstand 1767. Die berühmte Königin-Luise-Brücke wurde 1904 – 1907 gebaut.
Im 1. Weltkrieg wurde Tilsit vom 24. August bis 12. September 1914 von der russischen Rennenkampf-Armee besetzt. Während und nach dem 1. Weltkrieg übernahm die preußische Provinz Schleswig-Holstein die Patenschaft für den Wiederaufbau Tilsits. Diese Patenschaft wurde nach dem 2. Weltkrieg von der Stadt Kiel fortgeführt und nach der Perestrojka mit der Stadt Sowjetsk zu einem Dreierbündnis erweitert.
Der Kreis Tilsit – Ragnit wurde formal im Mai 1922 aus dem Rest des ehemaligen Kreises Ragnit und den südlich der Memel gelegenen Resten des Kreises Tilsit gebildet.
Die Volkszählung im Mai 1939 ergab eine Wohnbevölkerung in Tilsit von 59.105 Einwohnern.[11]
Die Tilsiter Kinderklinik wurde 1944 in den Westen verlagert und fand einen neuen Wirkungsort in Aue, wo als Nachfolgeorganisation die Kinderklinik Aue ins Leben gerufen wurde. Diese feierte als Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Helios Klinikum Aue im Jahr 2005 ihr 60jähriges Bestehen.[12]
Die Stadt Tilsit wurde während des 2. Weltkriegs erstmals am 20. April 1943 (Führers Geburtstag!) bombardiert und bei den nachfolgenden Angriffen, insbesondere auch im Juli 1944, zu etwa 80 Prozent zerstört. Die letzten Einwohner verließen ihre Heimatstadt Ende Oktober 1944. Die Memelbrücken wurden noch von deutschen Pionieren gesprengt. Am 19. Januar 1945 wurde Tilsit als erste größere Stadt Ostpreußens von den deutschen Verteidigern aufgegeben.
Am 7. September 1946 wurde Tilsit in „Sowjetsk“ umbenannt. Heute gibt es rd. 40.000 Einwohner gegenüber 60.000 früher.
Nachdem die Zellstoffwerke, die mit einst über 2.000 Arbeitsplätzen größter Arbeitgeber der Region war, bankrott gegangen sind, hat sich ein neues Unternehmen aus Litauen angesiedelt, das auch viele Arbeiter beschäftigt: die Unternehmensgruppe Viciunai mit etlichen Betrieben im Baltikum und einer Restaurantkette in Litauen errichtete 1994 eine Fertigungsstätte für Heringskonserven und Räucherlachs. Neuerdings stellt man höchst marktgängige Krabbensticks her und beschäftigt in Tilsit 1.400 Mitarbeiter.[13]
Ein weiteres marktwirtschaftliches Projekt ist die Großanlage einer Champignonzucht des Unternehmers Viktor Smilgin. Auf einer Fläche von 12.000 m² sollen 3.500 Tonnen dieses Gemüses produziert werden.[3]
Mit zunehmendem Abstand von den Ereignissen des 2. Weltkriegs wächst in der Oblast Kaliningrad das Interesse an der deutschen Vergangenheit. In Sowjetsk – Tilsit führte es dazu, dass man dem alten “Herzog-Albrecht-Platz” wieder seinen Namen gab und dort einen Gedenkstein für Herzog Albrecht aufstellte – einen 20 Tonnen schweren, mannshohen Granitstein. Er trägt folgende Inschrift in russisch und deutsch:
“Dieser Platz trägt den Namen des Herzog Albrecht, dem Gründer der Stadt, welcher am 2. November 1552 der damaligen Siedlung Tilse die Stadtrechte verliehen hatte. Bereits unter seiner Anwesenheit wurde der erste Stadtrat und auch das erste Gericht gewählt. Gleichzeitig entstand das Stadtwappen.”[2]
[1] 40. Tilsit Rundbrief 2010/2011, S. 28
[2] Hans Dzieran, Besinnung auf Herzog Albrecht und die preußische Vergangenheit, Tilstier Rundbrief, Pfingsten 2012, S. 97/98
[3] Hans Dzieran, Champignons aus Tilsit, Oprbl. Nr.21/2020 (22. Mai), S. 13
[4] Uwe Jörg Schmickt, Vor 470 Jahren erhielt Tilsit das Stadtrecht, PAZ Nr. 46/2022 (18. November), S. 23
[5] Jörg Schmickt, Stadtgeschichte – aus dem Jubiläumsjahr 2022, Tilsiter Rundbrief, Pfingsten 2023, S. 19
[6] Jörg Schmickt, Stadtgeschichte – aus dem Jubiläumsjahr 2022, Tilsiter Rundbrief, Pfingsten 2023, S. 20
[7] Kossert, Ostpreußen, S. 59
[8] Jörg Schmickt, Stadtgeschichte – aus dem Jubiläumsjahr 2022, Tilsiter Rundbrief, Pfingsten 2023, S. 21
[9] Kossert, Ostpreußen, S. 96
[10] Manthey, Königsberg, S. 319
[11] 40. Tilsit Rundbrief 2010/2011, S. 30
[12] Aus den Heimatkreisen – Tilsit-Stadt, Oprbl. Nr. 9/05, S. 17
[13] Hans Dzieran, Garnelen statt Zellstoff, Oprbl. Nr. 1/2011 (8. Januar), S. 13