Zum Ende des 18. Jhs. wurde Tilsit nach Pogromen und Verfolgungen im Zarenreich zunehmend einbeliebtes Einwanderungsziel für russische Juden, denn hier florierte der Handel und bot Chancen für ein besseres Leben. Waren sie zunächst Hausierer und Altwarenhändler, gingen sie, nachdem ihnen1812 die bürgerlichen Rechte in Preußen verliehen worden waren, biederen Berufen wie Ladenbesitzer, Handwerker und Unternehmer nach.
Um ein Gewerbe betreiben zu können, mussten die Juden allerdings das Bürgerrecht besitzen, das nur gewährt wurde, wenn die Staatsbürgerschaft erworben worden war. Die erhielt aber nur, wer sich auf einen guten Leumund berufen konnte und über ein gewisses Vermögen verfügte. Das schafften aber offenbar etliche jüdische Zuzügler, denn bereits 1816 hatten 101 Juden ihren Wohnsitz in Tilsit.[1]
1825 wurde der erste jüdische Friedhof angelegt. Nachdem 1837 ein Gesetz über die Bildung von Synagogengemeinden verabschiedet worden war, ging man an den Bau einer Synagoge, die 1842 festlich eingeweiht wurde. Im Jahr 1843 zählte man 265 Juden in der Stadt. Diese Zahl erhöhte sich bis 1895 auf 780 Juden und stieg dann weniger stark bis 1928 auf 797 Juden. Sie waren stark im Holzhandel vertreten, betrieben Sägewerke, Geschäfte und Kaufhäuser sowie die Brauerei Hirschfeld, stellten Ärzte, Rechtsanwälte und Verleger. Die jüdischen Kaufleute dominierten den deutsch-russischen Holzhandel und machten Tilsit zur Drehscheibe dafür, zumal sich die Memel als der kostengünstigste Transportweg anbot. Jüdische Geschäftsleute zeigten auch großes Geschick für den Pferde- und Milchviehhandel sowie im Handel mit Häuten und Fellen.[2] Nach dem 1. Weltkrieg wurde die Memel zum Grenzfluß und der deutsch-russische Holzhandel brach total zusammen. Die jüdischen Kaufleute verlegten ihre Tätigkeit nunmehr auf den Handel mit Textilien und Leder, das aber auch wieder recht erfolgreich.
Ein Juwel der Tilsiter Architektur, die Loge Zu den drei Erzvätern von Erich Mendelsohn, war vermutlich von der finanzkräftigen jüdischen Gemeinde und mit Unterstützung amerikanischer Juden, die im Orden Bnai Brith organisiert waren, in Auftrag gegeben worden. Sie wurde 1926 gebaut und führte ihren Namen auf die drei Stammväter des jüdischen Volkes – Abraham, Isaak und Jakob – zurück.
Auch in Tilsit machte sich die unselige jüdische Verfolgung durch die Nazis breit. Gebäude und Vermögen wurden enteignet, die Synagoge am 9. November 1938 in Brand gesteckt. Besonders dokumentiert ist das Schicksal der Familie Silberstein. Moritz Silberstein (7. 2. 1887 – 1. 7. 1974), im 1. Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz 2. Klasse ausgezeichnet und Kriegsinvalide, betrieb eine Dachschindelfabrik in Schillgallen. Das Betriebsvermögen wurde bald nach der Machtübernahme der Nazis beschlagnahmt und 1938 entschädigungslos enteignet. Da Moritz Silberstein nach dem NS-Rassegesetz in privilegierter Mischehe mit einer Arierin lebte und darüber hinaus als Frontkämpfer und Schwerkriegsbeschädigter geachtet wurde, entkam er den ersten Deportationen der Juden in Tilsit, doch als mit einer weiteren Verfügung von 1944 auch er in Gefahr geriet, ins Vernichtungslager verbracht zu werden, floh er mit seiner Frau und seinem Sohn Siegfried in ein kleines Dorf bei Allenstein und von dort weiter nach Riesa in Sachsen Siegfried wurde noch vom Volkssturm eingezogen, doch das Kriegsende war nahe und die ganze Familie überlebte dank des finalen administrativen Chaos.
Jetzt aber bekam Siegfried Silberstein Probleme mit den neuen Machthabern. Im September 1945 wurde er wegen Zugehörigkeit zum Volkssturm vom NKWD verhaftet und saß drei Jahre lang im Gefängnis. Als er frei kam, war er von Lungentuberkulose befallen. Er begann, in Leipzig Medizin zu studieren, ging jedoch in dem Semesterferien 1950/51 von Berlin Spandau aus, wo er bei Verwandten wohnte, in die Berliner Charité, um seine Krankheit behandeln zu lassen. Doch hier wurde er aus dem Krankenbett heraus von der Staatssicherheit der DDR verhaftet, nach einiger Zeit den Sowjets überstellt und von denen am 20. März 1952 in Moskau wegen Spionage hingerichtet.
Es gibt eine ausführliche Dokumentation des Schicksals der Familie Silberstein und von Siegfried Silberstein von Hanz Dzieran „Es begann in Tilsit“ (2010), zu beziehen beim Herausgeber, der Stadtgemeinschaft Tilsit e. V.
[1] Hans Dzieran, Tilsit und seine jüdische Gemeinde, Tilsiter Rundbrief, Pfingsten 2021, S. 132
[2] Hans Dzieran, Tilsit und seine jüdische Gemeinde, Tilsiter Rundbrief, Pfingsten 2021, S. 135