Literatur Neuerscheinung über Gr. Bertung bei Allenstein
26.08.2020
Dem Buch über Groß Bertung ist die nachfolgende Einleitung des Autors vorangestellt. Das Buch erscheint demnächst:
Die Idee zu diesem Buch entstand, als ich schweren Herzens dabei war, meine in vielen Jahren gesammelten Unterlagen zur Genealogie und Historie des Kirchspiels Gr. Bertung auszusortieren. Dabei fielen mir auch die vielen Ausgaben der „Jomen-Post“[1] in die Hände, einer jährlich erscheinenden Heimatzeitschrift, anfangs von Jomendorfern für Jomendorfer herausgegeben, später dann für das gesamte Kirchspiel. Ich war schon immer voller Hochachtung für die gute Aufbereitung der großen Fülle an Themen, die zunächst in einfachen Heftchen, mit den Jahren in einem immer anschaulicheren „Gewand“ angeboten wurden. Besonders beeindruckt war ich von der großen Bereitschaft der ehemaligen Bewohner des Kirchspiels, freimütig und umfangreich auch von sicherlich traumatischen Erfahrungen in den ersten Nachkriegsjahren zu berichten. Sie wurden dazu immer wieder vom Herausgeber der Zeitschrift und Begründer der Jahrestreffen, Herbert Monkowski, ermuntert, der es verstand, verständliche Unsicherheiten aufzufangen, indem er vielfach die Gespräche mit dem Tonband aufzeichnete und sie dann zur Veröffentlichung bearbeitete. So kam in den Jahren seit 1980 eine erstaunliche Fülle an authentischen Berichten zum Leben und vor allem zum Leiden der Bewohner zusammen.
Diese Menschen gehören wohl der „Vergessenen Generation“ an, wie Sabine Bode[2] die zwischen 1930 und 1945 Geborenen in ihrem Buch nennt. Im Klappentext steht: „Die Kriegskindergeneration ist im Ruhestand, die eigenen Kinder sind längst aus dem Haus. Bei vielen kommen jetzt die Erinnerungen allmählich hervor und mit ihnen auch Ängste, manchmal sogar die unverarbeiteten Kriegserlebnisse. Sie wollen nun über sich selbst nachdenken und sprechen. .. Ihnen wurde gesagt: “Sei froh, daß du überhaupt überlebt hast. Vergiß alles und schau lieber nach vorne!” Sie haben den Bombenkrieg miterlebt oder die Vertreibung, ihre Väter waren im Feld, in Gefangenschaft oder sind gefallen. Diese Erinnerungen haben sie bislang in sich verschlossen gehalten, sie trösteten sich mit der Einstellung: “Andere haben es noch viel schlimmer gehabt als wir.” So wurde eine ganze Generation geprägt: Man funktionierte, baute auf, fragte wenig, jammerte nie, wollte vom Krieg nichts hören – und man konnte kein Brot wegwerfen.“ Die ehemaligen Kirchspielbewohner hatten das Glück, sich bei den gut besuchten Treffen austauschen und in der Jomen-Post artikulieren zu können.
Jeder der Berichte basiert auf persönlichen Erfahrungen. Trotz der damit verbundenen Subjektivität ist auch eine solche Darstellung ein wichtiges zeitgeschichtliches Dokument, wenn auch je nach Verfasser unterschiedlich reflektiert. Ich habe bewusst vermieden, die Qualität der Beiträge zu beurteilen. Manche Themen wie Flucht vor den Russen, Grausamkeiten während der russischen Besetzung und Deportationen werden vielfach aufgegriffen. Die Art und Weise der Aufarbeitung erfolgt aber recht unterschiedlich: mal sachlich aufzählend, mal voller Emotionen, meist mit allen Übergängen dazwischen. Andere schmerzhafte Erfahrungen aber, wie z.B. die Folgen der zahlreichen Vergewaltigungen beim Einmarsch der sowjetischen Armee, werden totgeschwiegen. Fast alle Originalbeiträge enthalten zudem viel Persönliches, häufig auch vom Thema Abschweifendes. Es war daher nicht zu vermeiden, solche Passagen herauszunehmen, um das aufzuzeigende Thema deutlich werden zu lassen. Auffallend ist insgesamt, dass wohl das eigene Schicksal beklagt wird, Anklagen an die Verursacher aber teilweise zurückhaltend ausfallen, manchmal sogar mildes Verständnis erkennbar wird, insbesondere in den Berichten zu den Arbeitslagern in Russland. Besonders überraschend für mich als Externer war die Beobachtung, dass „die neuen Nachbarn“[3] – nämlich die polnischen Familien, die nach Kriegsende ebenfalls aus ihren Heimatgebieten in Polen ins Ermland umgesiedelt wurden oder freiwillig umgesiedelt sind und verlassene Häuser übernahmen – mehr und mehr in den neueren Ausgaben der Jomen-Post zu Wort kamen, – ein sichtbares Zeichen zunehmender Toleranz und sogar Akzeptanz auf beiden Seiten.
In meinem Buch will ich keine bloße Samlung von Berichten veröffentlichen, sondern sie einem zeitlichen Rahmen zuordnen, der die Hauptentwicklungen der Beziehungen zwischen Polen und Deutschen in der Nachkriegszeit (z.B. Besatzung mit viel Willkür – Repressalien gegen Deutsche und Deutsches – Annäherung und zunehmende Toleranz – Probleme der letzten Jahre) widerspiegelt. Ich habe mich dabei fast ausschließlich auf die Berichte in der „Jomen-Post“ beschränkt, denn mein Buch soll einerseits meinen Vorfahren gewidmet sein, die ca. 50 Jahre in diesem Kirchspiel gelebt haben, und andererseits stellt diese Arbeit ein spezielles „Dankeschön“ für all die Menschen dieses Kirchspiels dar, die mich und meine Arbeit für das Kirchspiel viele Jahre unterstützt haben. Meine Auswahl der Beiträge ist selbstverständlich subjektiv und kann nur Facetten der Entwicklung aufzeigen und belegen. Manche Themen wurden in den Heimatbriefen mehrfach beberührt worden. Oft genug musste ich über den „Tellerrand“ des Kirchspiels hinausblicken, in die Großgemeinde Stawiguda, nach Allenstein, ins Ermland, nach Polen, um Zusammenhänge deutlicher zu erkennen. Um die manchmal komplizierten Vorausbedingen für die aufzuzeigenden Veränderungen verständlich zu machen, sind den Etappen der Entwicklung meist kurze historische, politische oder gesellschaftliche Grundlagen aus anderen Quellen vorangestellt.
Zeitzeugen machen die Vergangenheit auf eine ganz eigene Art lebendig. Ersetzen können Zeitzeugen die traditionelle Geschichtsschreibung nicht, sagt Peter Leusch im Deutschlandfunk. Sarah Scholl-Schneider betont den Wert von biographischen Erinnerungen, weil sie den Blick für Geschichte wieder öffnen, weil sie eine feststehende Deutung der Historie aufbrechen und zeigen, dass es nicht nur eine einzige Sicht gibt. Dieser Perspektivenwechsel bietet eine interkulturelle Chance zu friedlicher Verständigung, wenn man die Geschichten der anderen Seite anhört und Erfahrungen austauschen kann. Zeitzeugen bieten einen persönlichen, emotionaleren Zugang zu geschichtlichen Ereignissen. Aber ihre Sicht der Dinge ist subjektiv, kann womöglich Dinge einseitig oder ideologische verzerrt darstellen. Die klassische Geschichtsschreibung muss diese Aussagen in einen historischen Kontext einordnen und bewerten.[4]
Gerhard Glombiewski, im September 2020
[1] Im Folgenden immer mit „JP“ abgekürzt
[2] SABINE BODE, Die vergessene Generation – Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen, Kindle 2015
[3] So auch der Titel eines Heftes, herausgegeben vom Kulturzentrum Ostpreußen in Ellingen, in dem zwei ehemalige Bewohner des Kirchspiels, Herbert Monkowski und Eduard Cyfus, berichten.
3 Ausschnitte aus: Geschichte durch Zeitzeugen lebendig machen, Reihe Erinnerungskultur, Deutschlandfunk 2020, https://www.deutschlandfunk.de/erinnerungskultur-geschichte-durch-zeitzeugen-lebendig.1148.de.html?dram:article_id=302431