Judtschen

Wesselowka – Judtschen/Kanthausen

Im Kirchspiel Judtschen ließen sich im Kirchdorf selbst sowie in den Dörfern Pieragienen, Szemkuhnen und Mixeln viele der Einwanderer aus der französischen Schweiz nieder. Die Deutschschweizer siedelten dagegen mehr in Purwienen, westlich von Judtschen. 1714 entstand ein französisches Pfarramt in Judtschen. Der Kirchenbau von 1727 brannte im 1. Weltkrieg aus und wurde mit verändertem Turmaufsatz wieder aufgebaut. Erster Pfarrer in Judtschen war David Clarene, letzter Pfarrer war Theodor Schultz (1906 – 1943).[2]

In Judtschen bei Pastor Daniel Andersch war einst Immanuel Kant als Hauslehrer beschäftigt, daher auch der mit Wirkung vom 16. 7. 1938 geänderte Ortsname. Daniel Andersch stammte aus Schlesien und war zeitweilig auch Pfarrer in Königsberg. Das jetzige Haus des Pastors ist ein erst später errichtetes Gebäude. Es war nach dem Krieg sehr baufällig geworden. Auf der rechten Seite wohnten alte Leute, die linke Seite war unbewohnbar geworden.

Die Kirche hat es nicht geschafft, zu überleben. 1727 eingeweiht, kam sie gut über den 2. Weltkrieg. Dann stand sie leer oder wurde für profane Zwecke genutzt. Noch vor 1985 ließ die Armee das Gebäude abreißen und die Steine für den Straßenbau abtransportieren. Von den einstigen Bauernhöfen steht auch nur noch ein geringer Teil.

Das Kanthaus in Judschen

Das Pfarrhaus in Judschen, ist äußerlich schon wieder hervorragend saniert, auch wenn die Arbeiten noch nicht abgeschlossen sind und im Inneren noch kräftig gewerkelt wird. Foto: Pfarrhaus in Judschen April 2018

Um die Wiederherstellung des Kanthauses in Wesselowka – Judschen, 1938 umbenannt in Kanthausen, in dem Kant die Kinder des Pfarrers Andersch unterrichtete, bemühten sich die Universität Kaliningrad, das Kaliningrader Kunsthistorische Museum und nicht zuletzt die Gesellschaft der Freunde Kants und Königsbergs. Ein Mitglied der Kantgesellschaft, Dr. Dierk Loyal, dessen Familie bei Judschen ansässig war, hat mit seinen profunden Kenntnissen des Ortes erheblich den Verlauf der Rekonstruktion bereichert und diese dokumentiert. Der Stammvater Abraham Loyal der hugenottischen Familie aus Lothringen floh 1687 aus Frankreich. Die Suche nach einem neuen Lebensmittelpunkt war schwierig, denn Flüchtlinge waren meistens nicht willkommen. Erst der Aufruf des Großen Kurfürsten, nach Preußen zu kommen, veranlasste viele geflohene Hugenotten, sich in Ostpreußen niederzulassen, und dabei in der Gegend von Judschen. Abraham Loyal siedelte in Semkuhnen, einer Nachbargemeinde von Judschen.[3] 

Der russische Präsident Putin hat durch Mittel aus dem präsidialen Sonderfonds wesentlich zur Finanzierung der Arbeiten am Pfarrhaus beigetragen. Die Arbeiten wurden 2019 abgeschlossen. Im Pfarrhaus fand ein Museum seinen Platz, das von der Geschichte der Besiedlung des ländlichen Ostpreußens im 18. Jahrhundert und später des Kaliningrader Gebietes zur sowjetischen Zeit berichtet, wobei die damit verbundenen Probleme nicht ausgeblendet sein sollen. Weiterhin soll hier ein Ort für Tagungen, Seminare und Kolloquien, für Sommer- und Winterschulen und damit ein an Immanuel Kant orientiertes wissenschaftliches Kommunikationszentrum für Schüler, Studenten und universitäre Lehrkräfte entstehen – spätestens 2024 zum 300jährigen Geburtstag des großen Philosophen.

Eine Reisegruppe der Kantgesellschaft, die sich im April 2015 anlässlich des Bohnenmahls zu Ehren Kants in Kaliningrad aufhielt, besuchte in dieser Zeit auch Judtschen/Kanthausen. Einer der Reiseteilnehmer, Dr. Fritz Fuhrmann, fasste seine Eindrücke von diesem Ausflug nachfolgend zusammen:

” Spektakuläres hatten wir nicht erwartet, als wir uns auf den Weg in das ehemalige „Kanthausen“ machten. Es galt ein baufälliges Pfarrhaus in Judtschen zu besichtigen und zu prüfen, ob es mit überschaubarem Aufwand durch eine Privatinitiative von Teilnehmern der Kant-Reise 2015 und weiteren Unterstützern aus dem Umfeld der Freunde Kant und Königsbergs e.V. mit einem Notdach versehen werden könnte, um dem weiteren Verfall Einhalt zu gebieten.

Das Objekt hatte, obwohl unbewohnbar und renovierungsbedürftig, weit über die Grenzen Russlands hinaus für Schlagzeilen gesorgt, weil angeblich eine 17-jährige Studentin „Kant ist ein Trottel“ als Graffiti auf die Häuserwand gesprüht hatte. Eine Tat, welchen Zweck sie auch immer verfolgt haben mag, die von europäischen Medien als Skandal und Kulturbarbarei betitelt wurde. Und so erhielt das baufällige Gebäude in Wesselowka bei Tschernjachowsk (ehem. Judtschen bei Insterburg), in dem Kant in jungen Jahren als Lehrer gewirkt haben und welches als Kantmuseum und Ort der Begegnung wieder hergerichtet werden soll, von den russischen Behörden zunächst einen einbruchsicheren Zaun aus Stahl anstatt des dringend benötigten Daches.

Und so trotzt das ehemalige Pfarrhaus eines weitgehend nicht mehr vorhandenen Dorfes neben einer nicht mehr vorhandenen Kirche und einem Friedhof, auf dem russische und deutsche Gräber nebeneinander liegen, weiterhin Wind und Wetter und wartet auf Rettung. Darauf, dass es tatsächlich Pläne für eine Erhaltung gibt lässt der Umstand schließen, dass zu dem wenige intakte Häuser zählenden Dorf eine ganz neu geteerte Straße führt. Diese verläuft genau an der Stelle, wo, 1727als Ziegelbau mit Holzturm errichtet, bis 1945 die erste französisch-reformierte Kirche in Preußen gestanden haben soll. Diese wurde zu Sowjetzeiten landwirtschaftlich genutzt, verfiel zunehmend und wurde 1985 schlussendlich abgerissen.

Es gibt Pläne, das mehr als eine Autostunde von Königsberg entfernt gelegene Haus als Teil einer dem Philosophen gewidmeten Kultureinrichtung wieder aufzubauen. Denn schließlich steht das alte Pfarrhaus in Judtschen mittlerweile auf der Liste der in Russland vorhandenen Kulturerbe-Objekte. Kant hatte hier von 1747 bis 1750 drei Jahre lang als Hauslehrer bei Pfarrer Daniel Ernst Andersch geweilt, um dessen Kindern Privatunterricht zu erteilen. Judtschen war demzufolge einer der wenigen Orte außerhalb Königsbergs, die Kant im Verlauf seines Lebens besucht hat.

An dem Gebäude wurden nach unserer Einschätzung jedoch zwischen 1850 und 1880 zahlreiche Um- und Anbauten vorgenommen, die den Charakter des Hauses im Vergleich zu der Zeit, als Kant dort geweilt hat, wesentlich verändert haben dürften. Damals handelte es sich um ein Kirchendorf mit florierender Landwirtschaft.

Russischen Medien zufolge liegt bereits ein erster Entwurf vor, wie das sogenannte „Pastor-Haus“ nach der Rekonstruktion als Museum und Touristenattraktion genutzt werden kann. Zuvor aber ist einiges an Renovierungsarbeit zu leisten. Da das Hausdach Löcher aufweist, die Dachrinnen verbogen oder nicht vorhanden sind und eine Giebelseite komplett offen ist, sind Dachbalken und Decken im inneren des Hauses kontinuierlich eindringendem Regenwasser ausgesetzt.

Unsere Hoffnung, dass man das Hausdach in einer privaten Initiative ohne großen Aufwand in Stand setzen könnte um das Pfarrhaus zu erhalten, bis die zuständigen russischen Stellen über die weiteren Schritte entschieden haben, lässt sich wohl leider nicht realisieren. Denn es scheinen bereits Gebälk und Decken im Haus verrottet zu sein, so dass Obergeschoss und Dach nicht mehr ohne Gefahr für Leib und Leben betreten werden können. Das Haus müsste also komplett eingerüstet werden, um überhaupt am Dach arbeiten zu können. Nach unserer Einschätzung wäre es zum jetzigen Zeitpunkt nur durch eine komplette Renovierung möglich, die Bausubstanz des Hauses noch zu sichern.

Auch das Nebengebäude, augenscheinlich ein Back- oder Rauchhaus, darbt dahin und ist nahezu verfallen. Einzig und allein die Natur, einige sehr alte Bäume und ein Weiher, an dem Kant Ruhe und Erholung gefunden haben soll, ist noch in seiner alten Pracht vorhanden.

Viel mehr als der Zustand des Pfarrhauses selbst, welches sicherlich von russischer Seite mit den entsprechenden Mitteln fachkundig wieder hergerichtet werden wird, hat uns bei unserer Fahrt über Land nicht nur in Judtschen die Zahl der Ruinen von Kirchen und ehemaligen Wohn- und Bauernhäusern schockiert. In der umliegenden Gegend lassen zahlreiche Schutthaufen mit Backsteinen und alten Hausfundamenten darauf schließen, dass hier ganze Dörfer zerstört und nicht wieder aufgebaut wurden. Wo einst die Kirche stand findet man heute eine nagelneue Teerstraße. Insgesamt steht also zu befürchten, dass eine Gedenkstätte zu Ehren Kants nicht mehr im historischen Umfeld betrachtet werden kann und dem einst dort vorhandenen Dorfkern rund um die Kirche als Einzelobjekt nicht gerecht wird.”[1]



[1] Dr. Fritz Fuhrmann, Jenseits blühender Landschaften, 8. 5. 2015
[2] Gumbinner Heimatbrief, Juni 2008, S. 111
[3] Manfred Loyal, Die Angerapp und die Hugenottenfamilie Loyal, Gumbinner Heimatbrief, Juli 2024, S. 74 ff