Unsere Kindheit in Waltersdorf

Bericht von Frau Lieselotte Ollmann, geb. Arndt

Unser Großvater war Karl Arndt, der mit seiner Familie in Heiligenbeil in der Braunsberger Strasse wohnte. Dort besuchten auch die drei Söhne (Friedrich, Franz und Hans) die Schule. Im Jahre 1912 kaufte er den Abbau-Hof Waltersdorf. Es war nur ein Wohnhaus und ein Stallgebäude. Die große Scheune und die Wagenremise hat er selbst gebaut. Alle drei Söhne im Alter von 12, 11 und 9 Jahren mussten fortan in die Waltersdorfer Schule. Der Lehrer in Heiligenbeil hatte unserem Vater eine andere Laufbahn gewünscht, wegen seiner guten Zeugnisse und seinem großem Wissen. Der Lehrer der Waltersdorfer Schule hatte es nicht leicht mit unserem Vater – und unser Pastor schon gar nicht.

Die drei fanden aber schnell Anschluss in der Schule und im „Aushecken“ waren sie sich einig. Als Jugendliche spielten sie vorrangig nächtelang Karten. Meist bei Steinau im Dorf. Morgens kam der Vater von Paul Steinau dann im Nachthemd und Filzschlorren über den Hof und sagte: „Jungens, ihr müsst zum Melken!“ Aber auf dem Heimweg fiel ihnen dann wieder etwas anderes ein. Die Melker vom Nachbarn hatten ihre Melkschemel – „dien Einbeinigen“ – auf dem Zaun hängen. Die haben sie dann mit Melkerfett voll geschmiert. Und die Schweitzer kamen dann, es war ja noch dunkel, banden sie um und saßen weich. Aber Hallo. Da gab es Trouble und wohl auch Strafe …

Seinen Wehrdienst hat unser Vater bei den „Roten Husaren“ mit 18 Jahren in Danzig-Langfuhr abgeleistet. Das war die Leibgarde von Friedrich-Wilhelm, dem Bruder von Kaiser Wilhelm. Unser Vater sang im Gesangverein in Waltersdorf und war im Reiterverein in Zinten. Bei uns zu Hause stand ein Silberbecher mit der Inschrift „Dem besten Reiter/Zinten 1929“. Als die SA den Verein übernahm, hörte der Vater auf. In Zinten hat er auch unsere Mutter kennen gelernt. Sie war in Jäcknitz im Gutshaushalt, stammte aber aus Rauschbach und hatte neun Geschwister.

Ihre Mutter in Rauschbach hatte trotz ihrer Kinder und dem Bauernhof auch das „Helfersyndrom“. Es wurde in Rauschbach kein Kind geboren, niemand konnte sterben, sie war immer da. Der Arzt, der aus Mehlsack kam, gab ihr die Anweisungen über Medikamente und Verbände. Und letzten Endes ist sie auf der Flucht in Pommern im Straßengraben sitzen geblieben. Sie hatte Milch für die Enkelkinder geholt, und das Militär hatte die Kolonne weiter geschickt. Da hat der liebe Gott geschlafen!

Wir, meine Schwester und mein kleiner Bruder, hatten eine schöne Kindheit. Der Hof lag mitten auf dem Land. Von drei Seiten war Wald. Die höchste Stelle war 62 m über dem Meeresspiegel. Von dort aus konnte man an klaren Tagen am Abend das Haff sehen und die Nehrung als einen Strich. Und dann der Sonnenuntergang über der Ostsee! Der Vater hat uns den Sternenhimmel erklärt und sämtliche Baumarten, immer wenn am Sonntagnachmittag ein Rundgang durch Wald und Flur anstand. Es galt immer: „Erst de Piep in Brand un dann dat Peerd ut dem Growe.“

1935/36 wurden die Autobahn und die Omaza-Brücke gebaut. Da wurden gleich hinter dem Wald Baracken aufgebaut. Und die Arbeiter kamen von überall aus Deutschland. Sogar die „Kraxlhuber“ waren dabei. Es gab am Wochenende immer „Bunter Abende“. Die Tochter vom Lagerarbeiter war in unserem Alter und sie kam aus Heiligenbeil. Da hatten wir Kinder immer „Rasiersitz“ – 1. Reihe. Da sahen wir dann zum ersten Mal die Schuhplattler. Nach Ende der Arbeit wurde wieder abgebaut und es war wieder Ackerland. Ich glaube, es gehörte Otto Brasch, Abbau Eisenberg, unserem Nachbarn.

Der Vater war ein begnadeter Pferdezüchter. Seine beiden Rappen waren sein ganzer Stolz. Im Krieg musste er den Wallach abgeben. Dann hatte er eine Rapp- und eine Fuchsstute, beide Trakehner. Er hat viele Fohlen verkauft; auch Preise bekommen. Sobald die Fohlen geboren waren, stand der Besitzer von Vorderwalde auf dem Hof. Der hatte wohl ein ganz besonderes Auge, was Pferde betraf. Dieses „Händchen“ für Pferde hat meine Schwester Brigitta geerbt. Mit ihrem Mann Arno züchtet sie auch Pferde, aber keine Trakehner. Ein Sohn sagte mal zu mir: „Wenn bei uns ein Pferd verkauft wird, geht meine Mutter ein ganzes Jahr in schwarz“. Wenn Brigitta und Arno nach Hause kommen und die Pferde hören ihre Stimme, wiehern sie und meine Schwester muss erst mal in den Stall und sie streicheln. Arno sagte mal: „Pferd müsste man sein!“ – er hat aber auch kein so weiches Fell.

Ich war als Kind wohl nicht so pflegeleicht und hatte dann „Arrest“ von meiner Mutter. So musste ich dann in das „Kabuff“. Das war unter der Treppe zur Lucht. Da waren „Schiskes“ zum Trocknen und Weidekörbe. Durfte ich raus, ging ich zum Vater aufs Feld. Der gönnte dann den Pferden eine Pause und setzte sich mit mir an den Wegrand, rauchte seine Pfeife und tröstete mich – und meine Welt war wieder in Ordnung. Rettungsanker waren für uns immer die Großeltern, die auf dem Altenteil lebten. Sie waren sehr gläubig und der Bruder-Bahnau-Gemeinde sehr verbunden. Ging alle 14 Tage am Sonntagnachmittag nach Rehfeld zu einem Gebetstag.

Im Sommer wurde oft ein Waldfest gefeiert bei uns im Omaza-Grund. Unser Vater holte Tische und Stühle oder Bänke und unsere Mutter und Oma backten Kuchen. Jeder brachte etwas mit. Wir hatten als Kinder immer einen weiten Schulweg: 3 Kilometer. Im Sommer war es eine feine Sache. Wir fuhren mit dem Rad. Im Frühjahr, wenn die Gräben aus den Sümpfen überliefen, waren wir allerdings abgeschnitten. Da hat uns der Vater oft auf ein Pferd gesetzt. Er ritt auf dem anderen und dann ging’s durchs Wasser. Im Winter ging es oft nur noch mit dem Schlitten.

In der Kriegszeit hatten wir einen 73-jährigen Oberstudienrat aus Königsberg als Lehrer. Den haben wir einmal zum _Schlitten fahren überredet. Jeder, der hatte, musste Schlitten mitbringen und los ging’s. Das war in einem anderen Grund und außerhalb vom Ort. Da haben wir einen Schüler dazu überredet, den Lehrer auf dem großen Schlitten mitzunehmen. Am Berg sollte er umkippen. Gesagt, getan. Mich in Verdacht habend erzählte der Lehrer diesen Vorfall meinem Vater, der uns abholte.

Als im Krieg drei Flugzeuge in Heidenhof landeten und ein Schüler dies erzählte, leerte sich die Schule umgehend. Der Lehrer kam uns hinterher, um uns wieder „einzufangen“. Zuletzt hatten wir 1943 einen Lehrer aus der Nähe von Ortelsburg. Der kam immer in brauner Uniform zur Schule. Er war Kriegsversehrter, hatte sieben Kinder. Der hat die Schüler geprügelt.

Eines Tages kam unser Vater von einer Gemeinderatssitzung zurück. Er berichtete uns davon. Demnach sollte es eine Liste geben, aus der hervorgeht, dass nach dem Krieg alle Besitzer kleinerer Bauernhöfe in die Ukraine ausgesiedelt werden sollten. Größere Betriebe sollten sie dort bekommen. Das aufgegebene Land würden die Großbauern erhalten. Wir wollten es nicht glauben; aber alles war schon schriftlich niedergelegt.- Und jetzt wohnen und leben Ukrainer bei uns im Dorf! Da kann man sehen: „Der Mensch denkt, doch Gott lenkt“.

Die Bauern, die sich bei Regenwetter erst in der Schmiede und dann im Krug tragen, hatten eine grandiose Idee: Da der Ortsgruppenleiter (immer in brauner Uniform) wieder einmal „gut gezecht“ hatte und am Tisch schlief, wurde nach Franz geschickt. Er sollte eine Schiebkarre mit frischem Kuhmist bringen. Gesagt, getan. Da legten sie Paul rauf und Franz musste ihn dann heimbringen, klopfen und auskippen. Rum um die Ecke und weg …. Karre nach Hause … und zum Krug kommen. Da haben sie ihn dann „abgefüllt“. Er wusste wohl auch nicht mehr, ob er Männchen oder Weibchen war. Er hat wohl gesungen: „Straße, wie siehst du so wunderlich aus…“. Zuhause wurde er aber nicht gerade fröhlich begrüßt; es gab Rambazamba. Dann hing am Schwarzen Brett ein Zettel: „Wer etwas wüsste, sollte sich melden“. Aber nichts geschah.

Eines Abends, als der Vater die Pferde abfütterte, rief er uns nach draußen. Da hörten wir schon ein dumpfes Stampfen. Der Hund war unruhig. Da lief am Waldesrand, hinter der Scheune, ein Elchbulle entlang. Der wollte wohl in Richtung Damerau oder noch weiter.

1939 im Frühjahr kam eines Tages ein Kollex auf den Hof. So einer mit einem Bauchladen, Knöpfe, Gummiband, Nähgarn usw. Unsere Mutter hat sich lange mit ihm unterhalten. Als er wieder vom Hof war, sagte sie: „Es gibt Krieg!“. Es war wirklich so.

Die Großbauern hatten ihre Kutscher oder Gespannführer angewiesen, keine Frauen, die zum Arzt oder einkaufen wollten, nach oder von Heiligenbeil mitzunehmen. Das gab es tatsächlich. Die Wenigsten hatten ein Fahrrad. Wir hatten, da der Vater eingezogen war, einen jungen Ukrainer auf dem Hof. Er konnte lesen. Aber die Briefe an seine Mutter nach Hause hatte unsere Mutter für ihn geschrieben.

Schützenfest war immer ein großes Ereignis. Es wurde im Hellen hin gegangen und im Hellen nach Hause zurück gegangen. Rechtzeitig zum Melken und Füttern. Es gab auch einmal im Jahr einen kleinen Rummel mit einem Kettenkarussell. Die Jungens mussten schieben. Dafür bekamen sie eine Freifahrt. Wir nannten es immer „Kotzkarussell“. Ich hatte meinen kleinen Bruder auf dem Schoß und dem wurde übel. Alles ging auf die Umstehenden.

Später fuhren wir mit dem Rad nach Heiligenbeil. Da war bei Korns Gesellschaftshaus auch Rummel. Zum Baden ging’s mit dem Rad nach Rosenberg. Da war eine Badeanstalt am Haff.

Sonntags im Frühjahr zur „Leberblümchenzeit“ (das war immer eine Ausrede, um von zu Hause weg zu kommen) traf sich alles im Rehfelder Grund und es ging zum Teufelsstein. Der Sage nach spielten Viehhirten Karten. Da kam der Teufel dazu, spielte mit und verlor. Da haute er mit seinem Pferdefuß af den Stein. Der Abdruck ist heute noch sichtbar. Vor ein paar Jahren haben wir diesen Platz wieder aufgesucht, zusammen mit unserem ukrainischen Bekannten Stefan, der auf dem Eisenreiter-Hof (Brasch) wohnte. Den vier Grenzsoldaten, die uns überrascht hatten und Aufklärung forderten, übersetzte er diese Sage. Sie lachten noch darüber, als sie bereits wieder im Dorf ankamen. In Waltersdorf ist jemand, der gleich immer die Grenztruppen anruft. Einmal sprang er sogar vom Melken auf und rannte zum Telefon, ließ nur die Kuh stehen, aber den Eimer nahm er mit.

Zur Kirchzeit. Die Konfirmanden mussten alle 14 Tage Sonntags hin. Es saßen Frauen rechts und Männer links. Die Konfirmanden auf der Männerseite. Dort hatte uns der Pastor besser „im Blick“. Dann ließ der Fähnleinführer das Jungvolk vor „Pohls Gsthof“ antreten und lauthals singen:

„Wenn wir durch das Dorf marschieren und es erklingt unser Lied,
Öffnen sich die Fenster und die Türen und die Menschen singen mit.
Ja, ja. Wir sind die Pimpfe vom Fähnlein Woltersdorf.
Wir tragen kurze Strümpfe, marschieren von Ort zu Ort.“

Schulausflüge gingen in die Damerau oder übers Haff nach Narmeln. Von Braunsberg sind wir auch nach Cadinen zu der großen Eiche mit der Haffuferbahn gefahren. Das waren Holzzüge. Dort stand „Blumen pflücken während der Fahrt verboten!“.

Und dann kam 1945. Bei uns lag Militär. Der Stab tagte im Wohnzimmer. Unsere Schweine waren schon geschlachtet. Die Scheune war voll Soldaten und Pferde. Der Vater wollte nicht, dass die Kartoffelmieten geöffnet wurden. Da hielt ihm ein Offizier die Pistole an den Kopf… Die Front war in Schönlinde. Am 15. März sind wir dann auch weg. Ich war damals 16 Jahre alt.