“Meine Erinnerungen an Ostpreußen – Flucht und Vertreibung
von Gerhard Helmstädt
Aufgeschrieben habe ich die Erinnerungen im Februar und März 2001. Einzelne Episoden habe ich in der Vergangenheit oft erzählt. Manchmal wurde mir geraten, das, woran ich mich erinnern kann, einmal aufzuschreiben. Es hat lange gedauert, bis ich mich dazu durchringen konnte. Der Computer hat die Entscheidung dazu erleichtert.
Ab August 1944 hielt ich mich hauptsächlich in Wartenburg bei Popelken bei den Eltern meines Vaters auf. Ich war in die 9. Klasse der Knabenmittelschule in Insterburg versetzt worden, aber im August wurde der Unterricht wegen der Kriegsereignisse und des Lehrermangels nicht wieder aufgenommen. Ich half Opa bei der Arbeit in der Landwirtschaft. Mein Bruder Arno war eineinhalb Jahre älter als ich und bei den Grosseltern aufgewachsen. Er war zum Spatendienst nach Südostpreussen eingezogen worden, so war ich als Hilfe sehr willkommen. Eigentlich wurde ich zu Hause in Georgental bei Insterburg auch gebraucht. Mutti war mit meinem siebeneinhalb Jahr jüngeren Bruder Rudi und dem Polenmädchen Lydia allein auf dem 25 Morgen grossen Hof.
Ich war immerhin 15 Jahre alt und hatte schon einige Erfahrungen in der Landwirtschaft. Nach dem Schulunterricht habe ich z,B. in den Vorjahren gepflügt und geeggt. Ich erinnere mich noch gut, dass ich täglich zur gleichen Zeit mit dem Pflügen aufhörte, Um Schularbeiten zu erledigen. Als ich eines Tages länger als sonst pflügen wollte, um die Arbeit an einem Ackerstück zu beenden, machte unser Hans nicht mit. Das Pferd kehrte sich um und kam auf mich zu. Es machte durch sein Verhalten deutlich, dass Feierabend sei. Mir blieb nichts anderes übrig, als nachzugeben. Am nächsten Tag zur gleichen Zeit sollte wieder Feierabend sein, Aber ich hatte mir Vaters Freund, Herrn Wohlgemuth, bestellt. Der übernahm nun das Kommando und drehte einige Runden. Das Pferd gehorchte.
Ich machte weiter, und Herr Wohlgemuth ging bis zur Stallecke. Das Pferd hatte ihn genau beobachtet. Als er nicht mehr zu sehen war, zog das Pferd nicht mehr und drehte sich um. Herr Wohlgemuth schaute um die Ecke und sah, was los war. Als seine laute Stimme von unserem Hof erschallte, erschrak Hans und ging in die Furche.In der Folgezeit hatte ich keine Schwierigkeiten mehr, weil ich dem Hans nun meinen Willen aufzwang, indem ich zu unterschiedlichen Zeiten die Arbeit beendete. Nun ja, in Georgental wurde ich gebraucht, da konnte ich aber nicht bleiben. Ich hatte auch eine Einladung zum Spatendienst bekommen. Im Juli, zur Zeit des Attentats auf Hitler, war ich zum Panzergrabenbau in Litauen im Raum Wilkowischken gewesen. Nun schon wieder los? Ich fuhr nach Wartenburg und ging in Popelken zum Arzt. Angeblich hatte ich Bauchschmerzen. Ich nutzte die Erfahrungen, die ich jahrelang gemacht hatte. Oft hatte ich in der Vergangenheit solche Schmerzen auf der linken Bauchseite gehabt, dass ich auf dem Nachhauseweg von der Schule gekrümmt liegen geblieben war und nach Haus getragen werden musste. Die Ärzte waren ratlos. Ein Arzt sprach sogar von Blinddarmreizungen auf der falschen Seite. Der Popelker Arzt glaubte mir und schrieb einen Krankenschein aus.
Ich konnte in Wartenburg bleiben. Zwischendurch fuhr ich auch mal nach Georgental, ließ mich aber am Tage in Richtung Dorf nicht sehen. Am 18. Januar kehrte ich nach Georgental zurück, um an den Fluchtvorbereitungen teilzunehmen. Wir hatten 10 Soldaten als Einquartierung. Die sollten sich nach westen zurückziehen. In östlicher Richtung war Geschützdonner zu hören. Die Front war nicht mehr weit.
Muttis Eltern hatten östlich von Insterburg gewohnt, in Tammowischken gewohnt. Die mussten schon Im Herbst 1944 ihr Dorf verlassen. Aus der Gegend von Mohrungen in Südostpreussen haben sie sich dann gemeldet. Von ihrem Schicksal wissen wir nichts. Die Soldaten boten uns an, mit ihnen auf den Lkaws mitzufahren. Wir lehnten ab, weil wir uns mit Opa in Wartenburg verabredet hatten, dort das Kriegsende abzuwarten. Opa hatte im Bruch, nicht weit von seinem Gehöft, ein Versteck vorbereitet. Die Soldaten halfen uns, den Leiterwagen zur Flucht umzubauen. Besonders wichtig waren die langen Weidenruten, die sie vom alten Pregel holten. Sie wurden halbkreisförmig gebogen und am Leiterwagen befestigt und miteinander verbunden.
Der Teppich wurde umgekehrt darüber gespannt, dadurch hatten wir ein Dach über dem Kopf. Noch am Abend und in der Nacht wurde der Wagen schwer beladen, darunter Speck von drei Schweinen. Die Einquartierung hatte unsere Schweine heimlich geschlachtet, dadurch konnten die Soldaten auch leben wie die Maden im Speck. Ich hatte die Schinken zum Räuchern nach Wartenburg mitgenommen, wenn ich heimlich in Georgental gewesen war. Mutti hatte u. a. alle ihre Damenstrümpfe mitgenommen. Die waren hinten am Wagen in einem Sack mit Kleiderbeuteln von Tante Eva angebunden. Ich weiß es deshalb so genau, weil der Sack unterwegs nicht mehr da war. Tante Eva hatte von ihren Sachen etwas gebraucht und nicht mehr richtig alles angebunden. Jedenfalls war der Sack weg, und es gab fürchterlichen Streit. Gut 4 Tage später ließen wir alles stehen. Ich komme noch darauf zurück. Wir mußten ja deshalb den langen Leiterwagen nehmen, weil auch Tante Eva mit ihren fünf Kindern mitwollte. Tante Eva mit ihren Kindern wohnte schon ein paar Jahre in unserem Haus. Ihr Mann, Onkel Ferdinand, war inzwischen an der Ostfront vermißt. Zuletzt war er Munitionsfahrer gewesen.
Also auf dem Wagen sollten Platz finden: Tante Eva, Erika, Günter, Klaus, Brigitte, Bernd, Mutti, mein Bruder Rudi, unser Polenmädchen Lydia und ich.Am nächsten Morgen ging es los. Im Osten war der Geschützdonner zu hören.Die Rote Armee stand bei Gumbinnen, ca 30 km von uns entfernt.Ich sollte mit dem Fahrrad vorausfahren, um Opa unser Kommen anzukündigen.
Als ich unten an Jucknats war, passierte Schreckliches. Etwa hundert Meter von mir, im Gebüsch am Wasser, waren zwei Militärpolizisten, so genannte Kettenhunde, gerade dabei, zwei Soldaten aus dem Gebüsch herauszuholen. Ich hörte noch den lauten Wortwechsel, konnte aber nichts verstehen. Ich fuhr weiter Richtung Dorf, da fielen Schüsse. Ich sah noch, wie die Soldaten zusammensackten und die Kettenhunde zu ihrem Motorrad eilten. Georgental war gespenstisch leer. Mann und Maus waren auf der Flucht. In Zwion bog ich nach Norden in Richtung Wartenburg ab. Wenn ich doch in westlicher Richtung über Stärkenicken hätte fahren können, die Straße war frei.
Ich wurde am Berg in Zwion von einem zunächst langsam fahrenden Militärlaster überholt. Ich schaffte es, ohne daß mich der Fahrer sah, hinten rechts anzubammeln. Als das Fahrzeug kurz vor Gr. Schunkern war, hielt das Fahrzeug abrupt, so daß ich beinahe gestürzt wäre. Nun hörte ich den Tiefflieger auch, weswegen der Fahrer gehalten hatte. Die beiden Soldaten aus dem Fahrzeug hatten die Beine in die Hand genommen und rannten auf einen Schützengraben am Straßenrand zu. Ich hinterher. Ich sprang in den Graben, da spritzte die Erde von den Salven der Bordwaffe in mein Gesicht. Das war noch einmal gut gegangen. Die Soldaten stiegen in ihr Fahrzeug, ohne mich zu beachten. Ich fragte auch nicht, ob sie mich mitnehmen würden. Lieber fuhr ich allein mit dem Rad, so würde ich vielleicht nicht von Fliegern gesehen werden.
In Sprakten mußte ich über eine baumlose Fläche. Als ich den Tiefflieger sah, blieb mir nichts anderes über, als mich hinzuwerfen. Auf dem Rücken liegend, konnte ich den Piloten beobachten, wie er die Gegend absuchte. Es waren kleine wendige Maschinen. Alles, was sich bewegte, wurde beschossen. Kaum war eine Maschine weg, kam die nächste. Bis ich den nächsten Baum erreichte, mußte ich mich mindestens zweimal hinwerfen. Solche Tieffliegertätigkeiten gab es nur in unmittelbarer Frontnähe. Die Front muß schon bei Popelken, wenige Kilometer nördlich, gewesen sein.
Ich fuhr nun weiter Richtung Wald, wo Opa wohnte. Der Ort war wie leergefegt. Nur in der Luft kreiste nach wie vor ein Tiefflieger. Hier und da brannte es. Auf einem der Nachbargehöfte wurde gerade ein Dreschkasten in Brand geschossen. Vielleicht wurde er vom Piloten als Panzer wahrgenommen. Schon von weitem sah ich, daß im Bruch etwas brannte. Rauch stieg auf.
Als ich bei Opa und Oma ankam, waren die bei der Vorbereitung zur Flucht. Also nichts mit Bruch, nichts mit Abwarten des Kriegsendes. Warum machten wir denn nur den großen Umweg?
Opa hatte eingesehen, daß sein Plan für die Katz war. Sein Versteck im Bruch brannte, die Russen hatten es aus der Luft ausgemacht und in Brand geschossen. Die Nachbarn waren alle weg. Nun tat ihm alles leid. Am frühen Nachmittag kam unser Wagen an. Sie waren heil durch das Tiefflieger- gebiet gekommen. Der Wagen wurde rückwärts in die Scheuneneinfahrt geschoben, damit die kreisenden Tiefflieger ihn nicht sehen. Am späten Abend fuhren wir dann mit zwei Wagen durch den Wald über Weidlacken Richtung Gr. Schirrau. Unterwegs übernachteten wir in einem verlassenen Forsthaus. Opa kannte sich aus. Hier im Waldgebiet hatte er als Haumeister gearbeitet und war herumgekommen. Am nächsten Tag erreichten wir die Straße Tilsit – Taplacken. Die Straße war so verstopft, daß wir nicht raufkamen, nicht raufgelassen wurden. Opa wollte erreichen, daß beide Fahrzeuge zusammenbleiben. Es dauerte eine ganze Weile, bis ein Wagen stehen blieb und unsere beiden Wagen hineinließ. Es ging kaum voran. Von Zeit zu Zeit tauchten Tiefflieger auf, die den Flüchtlingstreck angriffen, allerdings waren mittendrin auch Militärfahrzeuge.
Wenn wir an die Stelle kamen, wo wir Angriffe beobachtet hatten, standen rechts und links von der Straße geschobene Fuhrwerke, damit andere weiterfahren konnten. Die Pferde lagen tot oder verwundet daneben. Frauen, alte Männer und Kinder standen weinend herum. Ob es viele Opfer gegeben hatte, konnten wir nicht sehen, ich schaute auch nicht so genau hin. Jedenfalls kamen wir einfach nicht richtig voran. Es war sehr kalt, so um die minus 20 Grad C. Für die Kinder war es besonders schlimm. Wenn der Treck stand und keine Tiefflieger zu hören waren, konnten sie sich durch Herumtoben neben der Straße im tiefen Schnee ein wenig erwärmen. Tante Evas jüngster Sohn war erst 2 Jahre alt, der mußte auf dem Wagen warm eingepackt ausharren. Am Abend fuhren wir auf ein Gehöft, wo schon andere Flüchtlinge Rast gemacht hatten. Einheimische waren auch hier längst weg. Die Pferde wurden mit Futter und Wasser versorgt. Aus der Scheune holten wir Stroh, brachten es in ein halbwegs leeres Zimmer. Man glaubt gar nicht, wie viel Personen, wenn auch zum Teil Kinder, in einem Raum unterkommen. Ich hatte ein weiches Plätzchen.
Am 21. Januar kamen wir abends an die Straße Insterburg – Königsberg. In Taplacken war einfach nicht auf die Hauptstraße zu kommen! Jetzt wußten wir auch, warum wir bisher nicht schneller vorangekommen waren. Nach mehreren vergeblichen Versuchen klappte es doch. Opa, der voran fuhr, mußte darauf achten, daß wir mit dem zweiten Wagen nicht etwa zurückbleiben. Nachts wollten wir Pause machen. Die Pferde mußten getränkt werden. Die Höfe standen überall voller Wagen. Andere waren uns zuvorgekommen.
Endlich konnten wir an einer breiten Auffahrt die Straße verlassen. Opa ging ins Haus, wir blieben am Wagen. Im dunklen Flur traf er auf ein Mädchen, das eine Zimmertür bewachte. Opa fragte nach Wasser für die lieben Pferde. Das Mädchen wußte es nicht. Die Mutter, die das wüßte, müßte sich ausruhen. Opa sah das ein und wandte sich ab. Dem Mädchen war die Stimme so bekannt vorgekommen, und nun erst die Gestalt! Plötzlich fragte das Mädchen: ” Opa, bist du es?” Er war es. Das Mädchen war unsere liebe Marga, die den Schlaf ihrer lieben Mutti bewacht hatte, Opas einzige Nichte, meine allerliebste Cousine Gutti, wie sie von Opa, als sie klein war, genannt wurde. Als ich Marga auf ihrer Konfirmation Ostern 1943 Gutti nannte, wurde ich nach draußen zitiert. Unter Androhung von Prügel sagte Marga mit einem todernsten Gesicht, mir läuft heute noch ein Schauer über den Rücken, sie hieße Marga und damit basta. Wehe ich sage noch einmal Gutti! Zaghaft wollte ich auch einen anderen Namen, etwa Fritz oder August, aber nixda, basta! Dabei war Gutti ein doch so schöner Name! Marga, wer heißt schon Marga? Des Menschen Wille, sein Himmelreich. Also nannte ich sie fortan sicherheitshalber Marga.
Tante Frieda, Marga, ihr Bruder Reinhold und die Oma, waren früher aus Gutfließ, einem Nachbarort von Wartenburg, abgefahren. Und nun trafen wir uns nach über zwei Tagen Flucht zufällig mitten in der Nacht auf einem uns völlig fremden Bauernhof. Zufälle gibt es! Nachdem am nächsten Morgen Tiere und Menschen versorgt waren, ging es mit drei Wagen weiter. Zuerst fuhr Opa, dann Tante Frieda mit Marga, den Schluß machten wir.
Diese Reihenfolge sollte bald von Bedeutung sein. Gegen Mittag erreichten wir eine Kreuzung vor Tapiau. Links standen Militärfahrzeuge, die nicht auf die Hauptstraße nach Tapiau konnten, weil der Treck nicht vorankam. Nun hatten sich Ordner der Kreuzung bemächtigt und schickten ein Fahrzeug nach rechts, ein Fahrzeug geradeaus, ein Fahrzeug nach rechts, ein Fahrzeug geradeaus, Opa nach rechts, Tante Frieda mit Marga geradeaus. Tante Frieda wollte aber nach rechts, ihrem Vater und ihrer Mutter hinterher! Nichts da, hieß es, hier bestimmen wir, und die Regulierer hoben ihre Maschinenpistolen und zwangen so Tante Frieda geradeaus zu fahren. Wir wieder durften nicht geradeaus fahren, denn da lag Tapiau, dahinter Königsberg, wir mußten rechts abbiegen, parallel zur Front. Da hatten wir uns in der Nacht zufällig vereint, jetzt wurden wir wieder auf grausame Weise getrennt. Erst Jahre später erfuhr ich, daß Marga mit ihren Lieben nur bis Königsberg gekommen war.
Wir kamen nicht weit. Es ging einfach nicht voran. Rechts und links von uns schlugen Granaten ein. Die Front war nur wenige Kilometer entfernt. Die deutschen Truppen leisteten hier keinen Widerstand. Deutsche Soldaten gingen neben den Wagen der Flüchtlinge teils ohne Waffen einher. Waffen, so meinten sie, würden ohnehin nichts mehr nützen. Sie könnten ohne Waffen sich schneller von den Russen absetzen und würden, sollte der Russe sie überraschen, vielleicht nicht gleich erschossen werden. Den Kettenhunden wüßten sie schon auszuweichen, die hielten einen noch größeren Abstand zur Front.
Da der Beschuß stärker wurde, spannten die meisten ihre Pferde aus und ließen sie laufen. Was sollte man machen, wir ließen unsere Pferde auch laufen und suchten im nächsten Haus Schutz. Die Nacht konnten wir nur sitzend verbringen, soviel Leute waren im Haus. Am Morgen pfiffen die Granaten über unser Haus hinweg. Im Laufe des Vormittags verließen wir das Haus und suchten am Giebel Schutz, allerdings ohne Tante Eva mit ihren Kindern. Sie fühlten sich im Haus sicherer. Inzwischen beobachteten wir, daß leichtere Artillerie oder Panzer gezielt auf Häuser schossen, denn einige wurden getroffen. Von dem Haus, in dem noch Tante Eva war, kam das halbe Dach herunter. An unserem Giebel ging oben eine Tür auf und Tante Eva schrie um Hilfe. Die Kinder weinten. Ich suchte schnell eine Leiter, fand eine in der Scheune und legte sie an die Luke an.
Völlig mit Ziegelstaub bedeckt, wie Indianer auf dem Kriegspfad, kam einer nach dem anderen herunter. Bernd und Brigitte mußten getragen werden. Besonders im Gesicht sahen alle, es waren auch Fremde da oben gewesen, wie echt maskiert aus, außer Augen und beim geöffneten Mund war alles rot oder rötlich, wie Ziegelstaub eben.
Wir wollten jetzt so schnell wie möglich weiter. Wir ließen alles zurück, nur was wir anhatten, einiges hatte jeder doppelt angezogen, damit man es bei sich hat. Nördlich von uns war eine Straße, die von Ost nach West führte, an den Straßenbäumen zu erkennen. Dorthin strebten wir. Überall standen Pferdewagen, auch hier war die Straße verstopft. Wir überquerten die Straße. Oh Schreck, von rechts kamen Panzer, sie rasselten heran, wurden immer bedrohlicher. Wir entfernten uns 10 oder 15 Meter von der Straße und warfen uns in den Schnee. Ich hatte vor Aufregung einen Handschuh verloren und die Mütze war mir vom Kopf gefallen. Obwohl es sehr kalt war, fing ich an zu schwitzen.
Nur wenige Meter von uns rollten die Panzer vorbei, begleitet von in weiße Pelze gehüllter russische Infanterie, mit einer Pelzmütze als Kopfbedeckung. Aus den jeweiligen Luken schaute ein Panzerfahrer heraus. Sie schienen keine Angst zu haben, daß Deutsche auf sie schießen könnten. Ich beobachtete die Russen genau und mußte feststellen, daß sie wie normale Menschen aussahen, wie du und ich. Was hatte ich doch durch die Propaganda der Nazis für Vorstellungen vom Aussehen der so genannten Untermenschen bekommen. Auf Plakaten sahen die so genannten Bolschewiken wie Neandertaler mit einem Messer zwischen den Zähnen, wie Menschenfresser oder was weiß ich aus. Die Angst blieb, denn was wir nun sahen, war entsetzlich.
Zivilisten, wahrscheinlich polnische Zwangsarbeiter, zerrten einen Mann zu den Russen. Als dem Mann der Mantel heruntergerissen wurde, kam eine Polizeiuniform zum Vorschein. Die Polen müssen ihn schwer beschuldigt haben, denn der Polizist wurde zur Seite geführt und erschossen. Wenn unser Dorfpolizist Dorka von unserem Polenmädchen erwischt worden wäre, wäre es ihm wohl nicht anders ergangen. Unser Polenmädchen hatte allen Grund, den Dorka anzuklagen. Mehrmals hatte er mit dem Gummiknüppel auf sie eingeschlagen, einmal sogar, als sie auf der Wiese beim Melken war. Durch einen Spalt in der Scheunentür konnten wir, meine Mutti und ich, genau sehen, wie er mehrmals zuschlug. Wir haben nie erfahren, warum unser Polenmädchen Schläge bekam. Helfen konnte Mutti nicht, also schwieg sie.
Nachdem die Vorhut der Russen weiter gezogen war, suchte ich meine Mütze und den Handschuh, jetzt brauchte ich beides wieder. Wir gingen zurück zu den Wagen. Jetzt trafen immer mehr Russen ein, die die Häuser durchkämmten. Um uns auf der Straße kümmerten sie sich noch nicht. Als wir unsere beiden Wagen erreichten, staunte ich nicht schlecht. Ich hatte unser Polenmädchen ganz vergessen. Lydia war offensichtlich bei den Pferden geblieben. Kann auch sein, daß sie uns plötzlich nicht mehr gesehen hat. Opa und auch wir spannten jeweils unser Pferd an und fuhren auf einen großen Bauernhof. Oder war es ein Gut? Egal, es wurde schon dunkel.
Die Russen waren mir unheimlich. Nur runter von der Straße war die einhellige Meinung gewesen. Opa und ich brachten die Pferde in den Stall und versorgten sie. Wir hatten selber Hafer mit, aber Futter war genügend vorhanden. Opa wollte die Pferde noch tränken, ich sollte ins Haus gehen. Ich fand alle in einem Raum versammelt, nur das Polenmädchen fehlte. Lydia hatte sich verraten, daß sie Russisch kann. Sie wurde als Dolmetscherin gebraucht.
Lydia stammte aus Grodno, das nach dem ersten Weltkrieg wieder zu Polen gehörte, wie auch weite Gebiete jenseits des Bug. Lydia war Germanistikstudentin in Grodno gewesen. 1939 wurden die Gebiete östlich des Bug auf Grund des Hitler – Stalin – Paktes wieder von den Russen besetzt, wie schon bei den Teilungen Polens am Ende des 18. Jahrhunderts. Lydia hatte bis zum Sommer 1941, als die deutschen Truppen ostwärts zogen, wohl ganz gut Russisch gelernt.
Unser Polenmädchen bis Ende 1942, Natascha, stammte aus Bialystok im Nordosten Polens. Ihre Mutter war schon über 60 und schwer krank. Natascha hat viel geweint und wollte nach Hause. Sie konnte aber nur zu ihrer Mutter nach Polen, wenn im Austausch sich ein anderes Mädchen bereiterklärte, in Deutschland freiwillig Zwangsarbeit zu leisten. Unsere Lydia war eine von den Polinnen, die Ende 1942 in Insterburg ankam, um Natascha abzulösen. Mutti und ich haben Natascha mit ihrem wenigen Gepäck, darunter Geschenke von Mutti, mit dem Pferdewagen zum Bahnhof nach Insterburg gebracht. Es sollten ungefähr 10 Polenmädchen ausgetauscht werden. Es war alles so organisiert, daß Natascha unmittelbar nach dem Austausch in Begleitung der Organisatoren abreisen sollte. Unsere Natascha war so um die Vierzig, die angekommenen Polinnen alle jung, Anfang Zwanzig. Auf einmal war Lydia unser Polenmädchen.
Ich habe das gar nicht mitgekriegt oder weiß das heute nicht mehr genau. Lydia sprach Mutti und mich in gutem Deutsch an, das war schon mal gut. Mit Natascha war die Verständigung die meiste Zeit schwierig gewesen. Am späten Abend brachten die Russen Opa. Lydia war die Dolmetscherin. Die Anwesenden wurden gezählt. Uns wurde gesagt, daß wir das Haus nicht verlassen dürften. Die Posten hätten Befehl, auf jeden zu schießen, der die Parole nicht nenne. Man sah, daß die anderen Räume auch kontrolliert wurden.
Opa wollte unbedingt weg. Er hatte Angst, daß die Russen ihn mitnehmen könnten. Er sah jünger aus als er war. Oma wollte, daß er bleibt. Nach den Kontrollen ließ sich Lydia bei uns sehen. Opa bat sie, ihm zu helfen, in den Stall zu kommen. Lydia wollte erst nicht, aber dann konnte er mit hinaus, sie kannte die Parole.
Am nächsten Morgen war Opa nicht mehr da, das Pferd auch nicht. Auch Opas Wagen war weg. Ob er ihn abends noch hatte vom Hof fahren können oder ob er gestohlen worden war, wußten wir nicht. Oma hatte auch viele Sachen doppelt an, mehr brauchte sie nicht. Zu essen war genug da. Gut, daß Opa die Sachen schon nach Hause bringen würde, so nahmen wir an.. Lydia mußte bei ihren neuen Herren bleiben, war aber manchmal noch am Eingang zu sehen. Sie hatte alles unter Kontrolle. Ich spannte an, wir fuhren vom Hof. Nur die kleinen Kinder saßen auf dem Wagen. Es war wieder saukalt. Wir fuhren in die Richtung, das heißt, wir wollten fahren, woher wir gekommen waren. Nun verstopften die Russen die Straße. Größere und kleinere Kanonen wurden von Vier- oder Zweispännern gezogen. Ein Gespann stand, die anderen fuhren vorbei, wir mußten warten.
Wir waren etwa 100 Meter von unserem Nachtquartier entfernt. Obwohl wir uns von Lydia herzlich verabschiedet hatten, stand sie noch an der Toreinfahrt und beobachtete uns. Die Russen von dem stehenden Gespann sahen uns, kamen über die Straße und spannten unser Pferd aus. Ich begriff das nicht. Da kam auch schon Lydia uns zu Hilfe. Sie sprach auf die Russen ein, die hörten gar nicht hin, stießen Lydia zur Seite. Dann spannten sie eines ihrer Pferde aus und unseren Hans an. Sie hatte doch etwas erreicht. Sie brachte uns das Pferd der Russen . Gemeinsam spannten wir das fremde Pferd an. Die Straße war inzwischen frei, denn das Gespann mit unserem Hans hatte sich in die Kolonne eingereiht. Ich sagte Hü, aber das Pferd verstand kein Deutsch. Ich benutzte die Peitsche, aber das Pferd reagierte nicht. Alle schauten mich an und wunderten sich, daß ich nicht mehr fahren kann. Ich stieg ab und versuchte das Pferd zu ziehen. Alle schoben nun den Wagen, so daß das Pferd nur die Beine setzen brauchte. Auch das wurde nichts.
Es war wie gesagt sehr kalt, also schauten wir uns um, wo das nächste Haus steht. Wir spannten das Pferd aus und ließen es stehen. Wir gingen vielleicht 100 Meter weiter in das Haus, das wir uns ausgekuckt hatten. Vom Wohnzimmer aus konnte ich die Straße gut überblicken. Was sah ich da? Unser Wagen war besetzt! Auf der Deichselseite, also vorne, schaute nur noch der Hintern von einem Russen heraus, der den Wagen plünderte. Eins nach dem anderen flog heraus und wurde von anderen untersucht. Ich kuckte weg, da fiel mir ein, daß wir nichts zum Essen mitgenommen hatten, kein Brot, keinen Speck, keine Wurst, nichts. Daß auch niemand daran gedacht hatte! Hat das Gehirn bei der Kälte nicht funktioniert? So kalt war es auch wieder nicht. Wie konnte das passieren!
In dem Raum waren mehrere deutsche Familien, die Brot, Wurst und Speck auspackten und anfingen zu essen. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, ich bekam echt Hunger. Es waren nach dem Frühstück durch das Durcheinander schon einige Stunden vergangen. Die anderen hatten gegessen und fragten uns verwundert, ob wir keinen Hunger hätten. Ich habe Hunger, sagte nicht nur ich, aber wir hätten doch nichts. Alles wäre auf dem Wagen geblieben, den hätten die Russen geplündert. Nun packten alle ihre Schätze wieder aus und gaben uns Brot und Speck, bis wir dankbar dankten. Wir konnten nicht einmal sagen, daß wir uns revanchieren würden.
Gegen Abend kamen Russen und musterten uns. Dann wollten sie Uhri, Uhri haben und zeigten auf den Arm. Mutti und Tante Eva hatten Uhren am Arm, sie hatten die nicht versteckt, so konnten sie ihnen abgenommen werden. Meine Uhr hatte ich zufällig in der Hosentasche, so behielt ich sie. Die anderen hatten keine Uhren, die hätten ihnen andere Ruskis abgenommen. Sie fuchtelten mit den Armen herum und zeigten nach draußen. Das müssen die Russen verstanden haben, denn sie entfernten sich. Ich habe mich nur gewundert, wozu die so viele Uhren brauchten, denn die, die zu uns ins Zimmer gekommen waren, hatten schon jeder mehrere Uhren an den Armen. Mutti hatte jetzt Angst um ihren Ehering. Sie ahnte, daß Russen auch nach Ringen fragen und suchen würden. Es dauerte gar nicht lange, da kamen andere Russen, die nach Uhren, und tatsächlich auch nach Ringen suchten. Taschen wurden abgenommen und ausgeschüttet, Sachen durchwühlt. Was man alles über sich ergehen lassen mußte! Mutti hatte ihren Ring gut versteckt, den fanden die Russen nicht. Am nächsten Tag zogen wir zu Fuß weiter. 10 Personen, wenn man die Kinder auch so nennt. Für die beiden Jüngsten hatten wir einen Schlitten gefunden, der mal von dem einen, dann mal von einem anderen gezogen wurde.
Da es auch tagsüber immer noch kalt war, machten wir bald Rast. Wir wählten uns ein hübsches Häuschen etwas abseits von der Straße aus. Ich durchsuchte das Haus vom Keller bis zum Boden. In der Räucherkammer hingen Dauerwürste und Speck. Im Keller waren reichlich Kartoffeln. In der Speisekammer fanden die Frauen Eßbares. Nach Tagen wurde wieder richtig gekocht. Wir hatten seit dem 19. Januar kein warmes Essen mehr gesehen. Es war mindestens der 25. Januar. Inzwischen hatte ich in den Räumen, die wir nutzen wollten, Feuer gemacht. Die Räume waren schon sehr ausgekühlt. Am Abend ging es dann schon. Die Öfen waren sehr heiß und in der Nähe der Öfen konnte man es aushalten.
Abends wurden Weckgläser mit Wurst geöffnet. Brot war vorhanden, aber schon betrocknet. Man konnte auch Pellkartoffeln dazu essen. Ach ja, im Hühnerstall waren noch tatsächlich Hühner. Die Stalltür hatten die Besitzer des Hauses vor der Flucht geöffnet und Getreide in großer Menge hingeschüttet. Wasser war eingefroren, die Hühner pickten Schnee. Das habe ich auch woanders gesehen. Wir hatten Eier für Setzeier, Flinsen, gekochte Eier. Mutti, Oma und Tante Eva waren bei einem Brutzeln und Braten. Sie dachten an den nächsten Tag. Leider sahen wir kein Pferd, so mußten wir am nächsten Morgen zu Fuß weiter. Ich hatte einen Ballen Stoff für Nachthemden und Unterhemden, Barchent, gefunden und mußte den dafür, daß ich den gefunden hatte, mitschleppen. Ich hatte den Ballen mit einem Schal an beiden Enden verbunden, so daß ich den Ballen quer über den Rücken wie ein Gewehr tragen konnte. Mutti hatte die Idee, daraus Nachthemden zu nähen. Ich komme vielleicht darauf zurück.
Wir wollten nach Wartenburg, wo uns Opa erwarten wollte. Wären wir man gleich, wie es geplant war, in Wartenburg geblieben. Es wäre uns wahrscheinlich viel erspart geblieben. Das kann man eben im Nachhinein sagen. Jedenfalls gingen wir wieder die Straße entlang, die wir auf dem Pferdewagen gefahren waren, nur in entgegen gesetzter Richtung. Es war viel Betrieb auf der Straße. Wir kamen nicht recht voran. Russische Militärfahrzeuge überholten an die Front marschierende Einheiten und drängten uns manchmal in den Straßengraben. Zum erstenmal sahen wir schwer bewaffnete “Flintenweiber”, wie die weiblichen Soldaten in der russischen Armee von uns genannt wurden. Plötzlich war der Begriff da. Sie waren ernster als die Männer und blickten uns böse an.
Als einige müde wurden und nicht mehr recht laufen wollten, machten wir abseits der Hauptstraße Quartier. Alles wiederholte sich wie am Vortag. Es wurde eingeheizt, Essen gekocht, die Räume durchstöbert, Stroh aus der Scheune geholt. Auf Stroh schlief es sich gar nicht schlecht. Am nächsten Tag erreichten wir Taplacken, wo wir am 21.1.Tante Frieda, Marga und Reinhold ganz überraschend getroffen hatten. Hier durften wir nicht weitergehen. Russische Soldaten forderten uns gestikulierend auf, in ein Gebäude zu gehen. Es war die Schule. Wenn auch viele Kinder dabei waren, war nicht an Unterricht gedacht. Ganz und gar nicht! Wir sollten interniert werden, oder wie man das nennt, wenn man eingesperrt wird. In einem großen Klassenzimmer waren schon ca 15 Frauen und Kinder, wir kamen mit 10 Personen hinein. Laufend kamen Frauen, Kinder und Männer dazu. Der Raum wurde so voll, daß man gerade noch Platz zum Sitzen hatte. Wenn jemand in der Nähe aufstand, konnte ich mich auf dem nackten Fußboden auch mal ausstrecken. Tante Eva war mit ihren Kindern in den hinteren Teil des Raumes abgedrängt worden, wir waren in der Nähe der Schultafel an der Wand eingezwängt. Ich wußte manchmal nicht, wo ich die Beine lassen soll, wenn jemand sich streckte. Mutti, Oma und Rudi hatten es nicht besser. Was das noch werden sollte! Wenn man auf die Schultoilette mußte, trat man schon mal auf Körperteile von anderen. Mit der Zeit standen manche lieber auf. Wir an der Wand hatten das Problem nicht, dafür hatten wir einen weiteren Weg zur Tür über Beine und Körperteile hinweg.
In der Nacht konnte ich kaum schlafen. Mit der kalten Wand kam ich nicht in Berührung, denn ich konnte die lange Stoffrolle benutzen, von der Mutti auch profitierte. Eßbares hatte jede Familie dabei, denn am Abend gab es nichts. Ich hatte auf der Toilette Wasser getrunken, die Wasserversorgung war in Ordnung . Das wurde weitergesagt. Am Morgen gab es warme Getränke, die von anderen Deutschen gebracht wurden. Jeder bekam auch ein Stück Brot. Es schmeckte anders als unser Brot. Es hatte eine dünne schmackhafte Kruste, innen war es weich und feucht. Das fiel einem gleich auf. Wir und auch Tante Eva hatten Reserven. Mutti hat der einen oder anderen Frau ein bißchen abgegeben, wenn sie sah, daß die nichts hatten. Irgendwann bekamen wir auch Kohlsuppe, Mehlsuppe oder Brei. Nur im Hellen durften wir auf die Toilette, dann nicht mehr. Das wurde einem Mann zum Verhängnis. Ich berichte davon gleich. Nachts durften nur Frauen hinaus, wenn sie von Russen geholt wurden. Die Russen, meist kamen sie zu zweit, leuchteten mit ihren hellen Taschenlampen in den Raum. Wenn sie glaubten, ein Opfer entdeckt zu haben, stiefelten sie über die Sitzenden oder manchmal auch Liegenden hinweg. Dann hörte man “Frau, komm! Frau komm! ” Sie hatten diese Worte schon gelernt. Die Frauen oder Mädchen gingen mit, was sollten sie sonst tun. Manchmal wiederholte sich das in der Nacht.
Es kam vor, daß die eine oder andere Frau freiwillig mitging, um jungen Frauen oder Mädchen die Vergewaltigung zu ersparen. Den Russen war das egal. Eines Abends forderten mich zwei Frauen auf, an den Tisch zu kommen, der in der Nähe der Tür stand. Ich war groß und schlank und mit meinen 15 Jahren der älteste Junge. Sie forderten mich auf, unter den Tisch zu kriechen. Gehorsam, wie ich war, kroch ich unter den Tisch. Als wieder zwei Russen in den Raum kamen, stellten sich die beiden Frauen vor den Tisch. Das müssen sie so auffällig gemacht haben, daß die Russen neugierig an den Tisch kamen, die Frauen zur Seite schoben und mich musterten. Nun wurde ich mit “komm, komm” aufgefordert, mitzugehen, was ich auch ohne weiteres tat. Im Flur leuchteten sie mir ins Gesicht und brachen in schallendes Gelächter aus. Im Schein der Lampe sah ich, daß es junge Soldaten waren. Mit mir wußten sie nichts anzufangen und schickten mich zurück. Ich hatte Glück, daß sie mich nicht verprügelt haben. Das hätte ich auch überstanden.
Jedenfalls hatten die Frauen erreicht, daß sich in dieser Nacht kein Russe mehr sehen ließ. In dieser oder der nächsten Nacht mußte einer der Männer, der mir mit eigenartigem Verhalten aufgefallen war, auf die Toilette. Man hörte, wie er im Dunkeln in Richtung Tür ging, weil einige schimpften. Er hatte sie getreten. Als er an der Tür war, klopfte er laut. Die Tür wurde geöffnet, die Russen leuchteten ihn an. Er wollte vorbei, sagte warum, aber die Russen verstanden ihn nicht. Er wurde in den Raum zurückgestoßen. Er versuchte nun wohl, seinen Platz im Dunkeln zu finden. Wieder gab es Proteste. Er konnte wohl sein Wasser nicht mehr halten. Anstatt jetzt in die Hosen zu pinkeln, forderte er die um ihn Sitzenden auf, aufzupassen. Ich hörte noch, wie er sagte: ” Paßt up, ick pöß”. Kurz danach hörte man deutlich, wie er strullte. Die Kinder und Frauen um ihn herum kreischten und schrien, weil sie von dem Urinstrahl getroffen worden waren. Bei dem Tumult ging die Tür auf, die Frauen schimpften und stießen den Mann Richtung Tür. Die Russen sahen wohl, was passiert war und nahmen den Mann mit. Kurze Zeit später hörten wir eine Maschinenpistolensalve. Ob er wirklich erschossen worden ist, weiß ich nicht. Er kam jedenfalls nicht wieder. Die bestimmt noch naß von dem Urinstrahl waren, sagten keinen Piep. Müssen die gestunken haben, und sie konnten sich nicht einmal waschen!
Wir waren wohl 5 oder 6 Tage in Taplacken, dann konnten wir gehen. Wir kamen an die Straße nach Tilsit und versuchten, so weit wie möglich zu kommen, denn nach Wartenburg war es nicht mehr weit. Am Nachmittag machten wir auf einem Gehöft auf der rechten Seite der Straße Rast, nachdem ich mir die Räucherkammer angesehen hatte. Auch hier müssen die Eigentümer überhastet geflüchtet sein, denn wir fanden alles, was wir brauchten. Es sah so aus, als wenn noch keine Fremden vor uns hier gewesen waren. Am Abend saßen wir bei Kerzenschein in der Küche oder hatten die Petroleumlampe an. Im Herd war Feuer. Es bruzelte und kochte. Wieder gab es nach Tagen am Tisch kultiviert etwas Gutes zu essen.
Am nächsten Morgen kamen Russen ins Haus. Damit hatten wir nicht gerechnet, weil nur hin und wieder ein Fahrzeug durchgefahren war ohne zu halten, und wir annahmen, daß sie nur in ihren Standorten bleiben würden. Den Kindern gaben sie Bonbons und redeten auf sie für uns unverständlich ein. Die Kleinsten, Bernd und Brigitte, wollten sie auf den Arm nehmen, aber die schrien. Sie gingen nun durchs Haus und suchten Schnaps. Sie machten entsprechende Zeichen am Hals, sie schnickten mit den Fingern. Sie fanden aber nur Brennspiritus. Das Zeugs wurde mit Wasser verdünnt und von ihnen getrunken. Das ist denen bestimmt nicht gut bekommen.
Als sie gegangen waren, packten wir so schnell wie möglich unsere Sachen zusammmen und zogen weiter. Als wir ein Waldgebiet durchquert hatten, erkannte Oma die Gegend. Hier wäre sie schon gewesen. Wir waren nur noch wenige Kilometer von Wartenburg entfernt. Wir bogen rechts ab. Bald sahen wir vor uns Häuser von Wartenburg. Oma sagte dann, daß wir einen Umweg gemacht hätten. Aber egal, wir waren da, aber Opa war nirgends zu sehen.
Wir suchten überall, wo man suchen kann, nichts. Oma sah Zeichen, daß Opa dagewesen sein mußte. Ich ging zum Nachbargehöft, zu Busis. Er war Jagdpächter gewesen, und in seinem Jagdzimmer war ich 1944 oft gewesen. Ich sollte ihn auf die Jagd begleiten. Von einem seiner Hochsitze hätte er mir sogar erlaubt zu schießen. Es hätte mich schon gereizt, mal mitzugehen, aber wenn ich daran dachte, daß ich da die halbe Nacht frierend auf dem Hochsitz auch noch still sitzen soll, dann ging ich doch lieber schlafen. Und so bin ich nie auf die Jagd gegangen, obwohl ich für mein Leben gern schoß, vielleicht nicht auf große Tiere und nicht auf Menschen.
Ich wollte nun sehen, ob seine Waffensammlung noch da wäre. Als ich das Zimmer betrat, sah ich Opa auf dem Boden in einer Blutlache liegen. Ich wußte sofort, Opa ist tot. Ich rannte zurück. Oma und Mutti kamen weinend mit. Warum war Opa nicht bei uns geblieben, er könnte vielleicht noch leben. Alle möglichen Gedanken schossen einem durch den Kopf. Erst beim erneuten Betreten des Waffenzimmers sah ich, daß keine Waffe mehr im Raum war. Oma drehte Opa um, da war hinten am Hals ein Einschußloch zu sehen, Genickschuß also.
Oma war dann sehr gefaßt. Es war ja nichts zu ändern. Oma wußte, daß auf dem Boden Opas Sarg ist. Er hatte schon an den Tod gedacht, vorgesorgt. Tante Eva half mir, den Sarg runterzuholen. Das Wichtigste war jetzt, ihn zu beerdigen. Pickhacke , zwei Spaten, Schaufel, Stricke, an alles wurde gedacht, nahmen wir mit. Opa hatte einen großen Handschlitten, da kam der Sarg hinauf. Oma hatte weiße Laken mit. Er wurde eingewickelt und kam in den Sarg. Warum wir nun einen Umweg machten, weiß ich nicht genau. Vielleicht rechnete Oma damit, daß auf dem Hauptweg Russen kommen könnten? Jedenfalls fuhren wir Richtung Bruch, parallel zum Hauptweg weiter und den Friedhofsweg zurück. Es war nicht einfach, die gefrorene Erdschicht abzutragen. Durch die dicke Schneeschicht war der gefrorene Boden dünner als ich glaubte. Mit der Pickhacke ging es ganz gut. Abwechselnd wurde gegraben. Opa ist so gut, wie wir es konnten, beerdigt worden. Oma und Mutti haben ständig gebetet und geweint.
In Wartenburg wollten weder Oma noch Mutti bleiben. Es wurde schnell etwas gegessen. Wir wollten nach Gutfließ in Tante Friedas und Margas Haus. Also wurde alles Brauchbare auf den großen und einen kleinen Schlitten gepackt und ab ging es. Als wir die ersten Häuser auf der rechten Seite von Gutfließ erreichten, war das erste Haus bewohnt. Was das für Leute waren, weiß ich nicht. Wir erfuhren, daß hier, solange sie hier wohnten, keine Russen gewesen waren. Das Nachbarhaus war leer und groß genug für uns. In Tante Friedas Haus konnten wir immer noch ziehen.
Die Straße von Popelken nach Sprakten war in der Ferne gut einzusehen. Dort fuhren russische Militärfahrzeuge in beide Richtungen. Wir mußten also vorsichtig sein. Von den Nachbarn erfuhren wir, daß sie am Tage kein Feuer machten, damit der Rauch nicht die Anwesenheit von Menschen verrät. Von den herumlaufenden Kühen fingen wir uns eine ein. Nach ein oder zwei Tagen war die Milch wieder genießbar. Die Milch konnten wir nicht schleudern. Wir hatten keinen Einsatz. Zu Beginn des Krieges waren die alle eingezogen worden. Durch Abschöpfen der Sahne von der Milch ging es aber auch. Ein Butterfaß hatten wir, so daß wir buttern konnten. Milch, Sahne, Butter, Glumse, alles hatten wir, nur kein Fleisch, kein frisches Fleisch. Weckgläser mit Fleisch und Wurst fanden wir überall. Speck war in einigen Räucherkammern genügend vorhanden. Hühner hatten wir uns genügend eingefangen. Eier und Geflügelfleisch brachten Abwechslung auf den Speisezettel. Inzwischen hatten wir uns auch zwei Kälbchen und eine weitere Kuh eingefangen. Wir brauchten Milch für die Kälbchen. Ein Kälbchen wurde bald von den Frauen geschlachtet, ich durfte nicht einmal zuschauen. Warum eigentlich nicht? Ich wußte es nicht.
Getreide war reichlich vorhanden. Zum Brotbacken mußten wir mit der Kaffeemühle abwechselnd fast den ganzen Tag mahlen. Mutti und Oma verstanden Sauerteig zu machen, so daß wir bald frisches Brot hatten. Das Brotbacken im Backofen verstanden sowohl Mutti als auch Oma. Nur Zucker fanden wir nicht. Da kam Mutti auf die Idee, aus Futterrüben Sirup zu kochen. Ein großer gußeisener Topf war vorhanden. Die Rüben wurden zerkleinert, gekocht und ausgepreßt. Der Saft eingekocht. Mutti hatte sich mit einem langen Holzlöffel, einem Stiehl und einem Stück Holz einen Galgen zum Rühren angefertigt. Je dicker der Sirup wurde, um so schlimmer spritzte das. Tante Eva kochte aus Butter, Sahne, Mehl und Sirup Bonbons.
Die Stoffrolle hatte ich nicht unnötig mitgeschleppt. Wenn Mutti Zeit hatte, nähte sie Nachthemden. Zum Glück war eine gute Nähmaschine vorhanden. Die Nachthemden waren für die Haut angenehm, und sie wärmten.
Nach ungefähr drei Wochen tauchten Russen auf. Sie durchstöberten alles. Etwas für sie Brauchbares fanden sie nicht. Zuletzt griffen sie sich einige Hühner. Sie waren wohl der Meinung, daß wir zuviel hätten. Sie banden unser Kälbchen los und verschwanden. Nach kurzer Beratung wurde wieder gepackt, Essen auf Vorrat gekocht. Morgens früh kam alles auf die Schlitten. Wir gingen Richtung Wartenburg. Dort bogen wir nach Sprakten ab. Omas Haus haben wir meines Wissens nach Opas Beerdigung nicht mehr betreten. Vor Sprakten bogen wir wieder nach rechts ab und gingen auf eine Waldecke zu. Von der Hauptstraße waren wir mindestens 500 Meter entfernt. Wir stießen auf drei Häuser, zwei waren bewohnt. Warum sollten wir nicht hierbleiben? Ein Haus war frei und wir waren nicht allein. Georgental war noch weit, ca 20 Kilometer. Wir waren es gewöhnt, für alle schnell ein Schlaflager zu schaffen. Wer konnte und wollte, half mit. Rudi und ich waren in einem kleinen Zimmer und konnten uns ausstrecken.
Am nächsten Tag kamen zwei bewaffnete Russen zu uns, gingen durch alle Räume, durchwühlten aber nichts. In den beiden anderen Häusern waren sie auch schon gewesen. Es war wohl eine Streife. Zum Schluß forderten sie mich durch Zeichen auf , vorauszugehen. Ich mußte am Wald entlang, wo wir am Vortag hergekommen waren, immer auf der Waldseite gehen. Sie gingen so rechts von mir, daß sie durch mich, wenn ich auch nicht so ein breites Kreuz hatte, zum Wald hin gedeckt waren. An der Waldecke gaben sie durch Zeichen zu verstehen, denn das Gesagte verstand ich nicht, daß ich zurückgehen könnte. Ich traute dem Frieden nicht und ging rückwärts. Ich wollte sehen, wenn sie auf mich schießen, vielleicht hinwerfen und wegkriechen.
Als wir etwa 100 Meter voneinander entfernt waren, machten sie eine wegwerfende Handbewegung, drehten sich um und entfernten sich schneller. Jetzt wurde mir, glaube ich, bewußt, daß sie mich als Geisel mitgenommen hatten. Warum und wieso wußte ich hier noch nicht. Ich war wieder frei und sah zu, daß ich zu den Meinen kam. Mutti hatte schon befürchtet, daß ich auf dem Weg nach Sibirien wäre. In der folgenden Nacht wurde ich von Männerstimmen wach. Ich hörte, daß sie aufgefordert wurden, leiser zu sein. Erst viel später erfuhr ich, daß das deutsche Soldaten gewesen waren, die sich im Wald versteckt aufhielten, um der Gefangenschaft zu entgehen.
Bald kehrte Ruhe ein, sie waren wohl gegangen. Am nächsten Morgen kam ich gar nicht dazu, mich nach den nächtlichen Besuchern zu erkundigen, denn vom nahen Wald waren Schüsse zu hören. Unverzüglich liefen Mutti und ich, noch im Nachthemd, in die Veranda. Von da war der Waldrand gut einzusehen. Ich sah Soldaten am Waldrand entlang in gebückter Haltung laufen. Wieder fielen Schüsse. Zwei Soldaten fielen oder warfen sich hin, wahrscheinlich von Kugeln getroffen, die anderen liefen weiter und verschwanden in einem Waldvorsprung.
So schnell wie an diesem Tag hatten wir noch kein Haus bisher verlassen. Oma und die Kinder wurden laut aufgefordert, sich anzuziehen, Tante Eva war schon fertig. Hektisch wurde alles eingepackt und auf die Schlitten gebracht. Schon nach wenigen Minuten waren wir auf dem Weg Richtung Straße. Nicht gewaschen, nichts gegessen. Mutti verteilte trockenes Brot. Wenigstens etwas.Die Bewohner der beiden anderen Häuser hatten wir ganz vergessen. Aber auch sie hatten die Häuser verlassen und kamen hinterher. Wir waren nun um die 30 Personen, darunter auch zwei ältere Männer, die die Straße nach Insterburg erreichten.
Wir waren noch nicht lange auf der Hauptstraße unterwegs, da hielt vorne, etwa einen Kilometer von uns entfernt, ein Lkw. Rechts und links stiegen Soldaten ab und verließen die Straße. Wenige Minuten später tauchten sie rechts und links von uns völlig unerwartet auf und umzingelten uns mit angelegten Maschinenpistolen. Sie hatten wohl bei uns ehemalige deutsche Soldaten vermutet. Denn als sie unsere Gruppe gründlich gemustert hatten, gingen die meisten weiter Richtung Wald.
Wir mußten unter Bewachung weitergehen bis Berschkallen, oder Birken, wie der Ort zuletzt hieß. In Birken wurde unsere Gruppe von Offizieren gemustert. Ein Posten bekam einen Befehl und kam auf mich zu. Ich wurde festgenommen und Richtung Haus bugsiert, in dem die Offiziere verschwunden waren. Warum gerade ich, schoß es mir durch den Kopf. Waren es meine Schnürstiefel, die ich irgendwo gefunden hatte, die mich größer machten, als ich schon war? Oder sah ich älter aus? Fragen über Fragen beschäftigten mich, als ich in einen fast leeren Raum geführt wurde. In der Ecke, etwas von der Wand abgerückt, stand ein großer Schreibtisch mit Sessel. Auf dem Sessel nahm kurz darauf ein hoher Offizier Platz. Die anderen Offiziere, ich glaube es waren so zehn an der Zahl, postierten sich, in dicke Pelzmäntel gehüllt, rechts und links vom Kommandeur. Zwei Dolmetscherinnen waren geholt worden. Nun begann ein Verhör in einem recht unfreundlichen und barschen Ton. Zunächst wurde ich gefragt, wo wir herkämen. Ich nannte die Orte, besonders Taplacken, Gutfließ und nun das Haus am Wald in Sprakten. Eine Weile hatten sie eine Karte vor sich zum Betrachten. Nun wollten sie von mir wissen, ob ich die Schießerei gehört und gesehen hätte. Ich bejahte das. Es wäre auch der Grund, warum wir so früh auf der Straße waren. Wir hätten Angst bekommen. Mutti und ich hätten gesehen, sagte ich ihnen, daß zwei Soldaten bei der Schießerei am Wald getroffen wurden und hinfielen. Nun wurde ich gefragt, ob ich oder andere mit deutschen Soldaten Kontakt gehabt hätten. Ich hätte, konnte ich ihnen wahrheitsgemäß sagen, seit Ende Januar keine deutschen Soldaten mehr gesehen, mehr wüßte ich nicht. Die ganze Befragung hatte mich so aufgeregt, daß ich kaum noch sprechen konnte. Ich glaube, mir kamen auch die Tränen.
Es trat auf einmal Ruhe ein, und ein höherer Offizier sagte der Dolmetscherin etwas in einem wesentlich angenehmeren Ton, was sie ebenso ruhig übersetzte. Ich bräuchte keine Angst zu haben, mir würde nichts geschehen. Wir würden an einen Ort gebracht, wo alle befragt werden könnten. Ich konnte gehen und wurde draußen sofort neugierig umringt. Ich sagte, wie die Vernehmung verlaufen war. Ich betonte besonders, daß ich gesagt hätte, daß wir keinen Kontakt zu deutschen Soldaten im nahen Wald gehabt hätten. Nach einer längeren Wartezeit kamen Lkws auf den Hof. Wir wurden aufgefordert, zwei Lkws zu besteigen. Sizgelegenheiten waren nicht vorhanden, wir mußten in die Hocke gehen oder uns auf den Rand setzen. Auf unserem Lkw war nur wenig Platz, denn in der Mitte der Ladefläche war etwas mit einer großen Plane zugedeckt. Jemand von uns lüftete die Plane ein wenig und ließ sie sofort fallen. Nicht alle hatten gesehen, daß darunter zwei Rotarmisten lagen. Flüsternd wurde das weitergesagt.
Ich war irgendwie entsetzt, daß die ausgerechnet auf diesem Lkw lagen, mit dem wir transportiert wurden. Was hatte das zu bedeuten? Wir wurden vom Hof gefahren. Es ging Richtung Popelken. Uns folgte unmittelbar ein Panzerspähwagen. Ich machte mir so meine Gedanken, war aber inzwischen ganz ruhig. Was würde jetzt geschehen? Die Frauen weinten, die Kinder kuckten zu, waren sprachlos.
Als Sprakten auftauchte, brannten alle Häuser am Wald. Und auch Wartenburg brannte. In der Richtung stiegen viele Rauchsäulen auf. Heute ist von Wartenburg kein Stein mehr zu finden. In Popelken bogen wir nach Tilsit ab, der Panzerspähwagen fuhr in eine andere Richtung. In Kreuzingen wurde auf einem Gutshof haltgemacht, und wir mußten absteigen. Der Lkw fuhr mit den Toten weiter.
In einem Stall sollten wir nun uns einrichten. Stroh war nebenan in der Scheune. Wir bekamen zwei oder 3 Decken für jeden, trotzdem war es nachts ganz schön kalt. Es war Ende Februar, es lag noch Schnee, aber der Frost hatte nachgelassen. Wir konnten uns frei bewegen, durften den Ort aber nicht verlassen.
Auf einem Streifzug durch den Ort fand ich in der Nähe der Bank eine größere Menge gebündelter Hundertmarkscheine. Waren die noch etwas wert? Ich wußte es nicht. Ich nahm einige mit für hinterlistige Zwecke auf dem Plumsklosett. Nicht einmal dafür taugten sie noch, waren viel zu glatt. Aber besser als gar nichts. Am Tage, oft auch nachts, waren Vernehmungen. Perfekt deutsch sprechende Offiziere wollten alles wissen: Eltern, Geschwister, Schulbildung, Freizeittätigkeiten, einfach alles. Bei der zweiten Vernehmung wurde ich gefragt, ob ich in der HJ gewesen wäre. Von einem Gleichaltrigen wußte ich, daß er, als er das verneinte, Prügel bekommen hatte. Ich hatte der HJ nicht angehört, das sagte ich auch. Er wunderte sich, und fragte nach. Ich konnte ihm sagen, daß ich, kurz bevor ich in die HJ aufgenommen werden sollte, Jungzugführer in Starkenicken geworden wäre. Er gab sich damit zufrieden, wenn er das auch noch von keinem gehört hätte.
Nur soviel: Mein Fähnleinführer bei den Pimpfen brauchte Jungzugführer, denn kaum jemand war bereit, mit fast Gleichaltrigen Dienst zu machen. Hinlegen! Auf! Wie beim Militär, dann einfache politische Schulung. Z.B.: Wer waren Baldur von Schirach, Schacht, Göring usw? In Starkenicken kannte ich niemand, keiner kannte mich. Ich mußte eben nicht in die HJ. Zum Glück brauchte ich nur einige Male nach Starkenicken, dann war ich in Wartenburg weit ab vom Schuß.
Zwei Tage nach meiner letzten Vernehmung teilte man mir mit, daß ich in ein Arbeitslager nach Rußland sollte. Mit einem Lkw wurde ich nach Tapiau in ein Sammellager gebracht. Mutti war mitgefahren. Irgendwie hatte sie es geschafft, auf den Lkw mit aufsteigen zu dürfen. Am Eingang zu einem gewaltigen Gebäudekomplex, der früheren Irrenanstalt, wurden wir getrennt. Ich wurde registriert und in einen Warteraum geschickt. Von hier sollten wir zu einem Rasierer. Wer da herauskam, hatte eine Glatze. Auch im Intimbereich, so erfuhr ich, wurde rasiert. Den Läusen keine Chance! Die Wartezeit war lang, wir hatten viel Zeit. Immer zwei Mann mußten hinein. Auch für mich kam die Aufforderung, in den Raum zu kommen. Der mit mir Hineingegangene kam zuerst ran. Oder hatte ich ihm den Vortritt gelassen?
Jedenfalls saß ich noch in Warteposition, da kam ein Offizier in den Nebenraum und rief meinen Namen: Gerxard Xelmstadt! Ich sollte mit ihm kommen, wurde zum Tor geführt und konnte gehen. Mutti hatte es doch geschafft, mich da herauszuholen. Papa war als Funktionär der sozialdemokratischen Ortsgruppe verfolgt worden. Mutti hatte entsprechende Papiere gerettet, die mir jetzt Sibirien ersparten. Der Kraftfahrer hatte auf Mutti gewartet. Gegen Abend waren wir wieder in Kreuzingen.
Mich ließen die Russen nun in Ruhe. Sibirien war kein Thema mehr. Schon zwei Tage später marschierten wir in Begleitung eines Postens nach Tilsit. Die Kinder vorweg, die anderen hinterher. Wieder um die 3O Personen. Mir ist so, als ob die Männer nicht mehr mit von der Partie waren. In Tilsit wurden wir in einer Villa am Stadtrand in Richtung Ragnit untergebracht. Geheizte Zimmer, Doppelstockbetten. Wann hatten wir das zuletzt gehabt? Die Verpflegung war gut. Wir konnten am Tage in die Stadt gehen. Ich nutzte das, so oft ich konnte, daß waren aber nur zwei oder drei Tage.
Wieder hieß es Sachen zusammenpacken und rauf auf die Straße. Hinter einem Panjewagen mit einem russischen Posten wanderten wir über die ganze Straßenbreite verteilt über Ragnit Richtung Breitenstein. Die größeren Gepäckstücke konnten auf den Wagen gelegt werden. Die Landschaft war noch weiß, die Temperatur bewegte sich um Null Grad. Es war eben noch Anfang März. Der Frühling stand aber unmittelbar vor der Tür.
Täglich mußten wir 15 bis 20 Kilometer zurücklegen. Übernachten konnten wir meist in Ställen oder Scheunen, selten in Häusern. Kaltverpflegung hatte der Posten auf dem Panjewagen mit, Getränke mußten zubereitet werden. Mit dem Waschen war das so eine Sache. Meist nur Katzenwäsche. Wo es hingehen sollte, erfuhren wir nicht. Wir kamen durch Breitenstein, Georgenburg, Insterburg, Gumbinnen, Ebenrode. Am Straßenrand sahen wir gelegentlich tote deutsche Soldaten liegen. Keiner sagte etwas. Wir mußten weiter. Zwischen Gumbinnen und Ebenrode waren Sprengkommandos dabei, Minen zu beseitigen. Laufend krachte es auf der rechten Seite der Straße. In Ebenrode ging es nordwärts. In Schloßberg marschierten wir wieder nach Westen, aber nicht weit. Nach wenigen Kilometern erreichten wir das Dorf Henzken. Hier erfuhren wir durch Dolmetscher, daß wir hier bis Kriegsende bleiben müßten.
In den Dörfern ringsum wären nur Deutsche. Oma, Mutti, Rudi und ich wurden in ein einzeln stehendes Haus , etwa 200 Meter vom Dorf entfernt, untergebracht. Ein Teil des Daches war beschädigt, so daß da niemand, auch Tante Eva nicht, einziehen konnte, leider. Wir waren immer alle zusammen gewesen. Tante Eva mit ihren Kindern mußte ins Dorf. Warum wir gerade in dieses Haus mußten, wissen die Götter. Nicht weit von unserem Haus waren aber auch noch einzeln stehende Häuser mit Leuten, die vor uns gekommen waren.
Uns blieb ein großes Zimmer und die Küche, wo es nicht reinregnete. Zwei Betten waren vorhanden, Rudi und ich mußten auf dem Fußboden auf Stroh schlafen. Wie gehabt. Im Schuppen waren Bretter, Werkzeuge, Nägel. Ich sagte mir, wenn wir hier monatelang bleiben müssen, versuchst es einfach mal, ein Doppelstockbett zu bauen. Der freie Platz dafür war gerade groß genug. Ich habe gesägt, gestemmt, gehobelt und genagelt, und das Bett nahm Gestalt an. Das Gestell wackelte sehr, drohte zusammenzubrechen. Mit ein paar schräg angenagelten Brettern konnte ich das Bett stabilisieren. Ich staunte selber, daß ich das gebracht hatte. Papa war Zimmermann, von dem konnte ich es nicht haben . Oder doch? Ich hatte oft zugesehen, wenn er eine Bank oder einen Tisch angefertigt hatte, manchmal auch was gehalten.
Mutti hatte aus Getreidesäcken für uns zwei Strohsäcke genäht. Die konnte ich sehr fest stopfen, auf die Holzbretter des Bettes legen und mit dem Körpergewicht formen. Eine so wunderbare Kuhle, glaube ich, habe ich nie wieder gehabt. Rudi mußte unten schlafen, ich kletterte nach oben. Ich habe heute auf der Karte ausgemessen, daß wir in 8 oder 9 Tagen 150 km von Tilsit bis Henzken zurückgelegt haben. Es gibt aber eine direkte Verbindung, da wären es nur 70 km gewesen. Da hätten wir über die Inster gemußt, die Brücke soll aber zerstört gewesen sein. Vielleicht war das Gebiet auch noch nicht von Minen geräumt worden. So mußten wir einen riesigen Umweg machen. Wir bekamen aus einem Vorratslager im Dorf Brot und Konserven. Die Brotration war gering bemessen. 600 Gramm für Erwachsene und 400 Gramm für Kinder. Von dem, was wir bekamen, wurde ich nicht satt. Der Keller, die Speisekammer und die Räucherkammer waren leer. Hier hatten die vor uns Angekommenen den Rest geholt. Es ist auch wahrscheinlich, daß nicht viel zu holen war, denn hier im Schloßberger Raum hatten schon 1944 Kämpfe mit den Russen stattgefunden. Die meisten Bewohner waren deshalb schon im Herbst 1944 evakuiert worden.
Obwohl wir unseren Ort nicht verlassen sollten, ging ich ein paar Tage später in südliche Richtung, bis ich in ein Dorf kam. Ich fand nach langem Suchen in einem Haus Kartoffeln, Möhren und Bruken. In der Räucherkammer hingen ein Rest von einem Schinken und ein oder zwei Würste. Die Ausbeute war mager, aber immerhin etwas. Mit einem Schlitten transportierte ich unter schwierigen Bedingungen meine Schätze nach Henzken, denn nicht überall lag noch Schnee. Aber irgendwie habe ich es geschafft.
Das Wichtigste war nun wieder die Suche nach Läusen. Mutti hatte darin Routine. Wenn ich meine Unterhemden untersucht und nichts gefunden hatte, dann staunte ich, wie Mutti das machte. Schon in Gutfließ hatte sie uns durch Knacken der Läuse und Nissen, und natürlich auch durch Erhitzen der Kleidung im Backofen, läusefrei gemacht. An den Augen kann es nicht gelegen haben, denn ich konnte gut sehen. Wie auch immer, ich fand nur wenige Läuse, eher Nissen. Ob Rudi geschickter war, weiß ich nicht.
In Henzken gab es einen Bürgermeister, jedenfalls wurde er so genannt, der von den Russen eingesetzt worden war. Er sollte insbesondere die Leute zur Arbeit heranziehen. Die Frauen und auch ich mußten uns bald nach der Ankunft in Henzken an den Scheunen einfinden. Die Scheunen des Gutes waren voller Getreide. Weizen, Roggen, Gerste, noch fast nichts gedroschen, nur die Mäuse waren aktiv gewesen. Es stand ein großer Lantz – Dreschkasten, aber kein Dieselmotor. Mit dem war nichts zu machen.Da war aber noch ein kleines Maschinchen, an ein Roßwerk anzuschließen. Die Garben mit den Ähren nach vorne mußten hineingehalten werden, dann wurden die Körnerchen herausgeschlagen, wenn sich die Welle drehte.
Also, ein Roßwerk war vorhanden, aber keine Pferde. Der Bürgermeister war nicht der Dümmste. Ehe ich die Frauen mit den Dreschflegeln anfangen lasse, spann ich die ein, sagte er sich. So viele Frauen, wie im Viereck des Roßwerks Platz hatten, nahmen Aufstellung. Mit Leinen in der Hand gingen sie im Kreis, darunter Tante Eva und Mutti, und zogen. Es klappte gut, und am Abend war allerhand Getreide auf dem Haufen. Nun mußte es noch gereinigt werden. Eine Maschine mit Sieben, die durch eine Kurbel zum Rütteln gebracht wurde, hatten sie hier auch. Das Getreide wurde gereinigt, und ein Teil des Getreides wurde verteilt. Jede Frau, die gearbeitet hatte, bekam ein Beutelchen oder etwas im Sack mit. Noch abends wurde das gedroschene Getreide von den Russen abgeholt. Sie waren meist unzufrieden mit der Menge. Sie meinten, es müßte mehr sein, gaben sich aber zufrieden. Der Bürgermeister drängte darauf, daß eine Maschine zum Antrieb der Dreschmaschine besorgt würde. Ich glaube, das hat Wochen gedauert, bis mit dem Dreschkasten gedroschen werden konnte. Ich hatte Glück, mir gab der Bürgermeister eine andere Aufgabe. Er wolle auf die Jagd gehen, sagte er mir, damit wir Fleisch bekämen. Ich solle doch mal die Gegend absuchen, ob da nicht ein Gewehr herumläge.
Ich nichts wie los, bloß nicht am Roßwerk eingeteilt werden! Zwei kleinere Jungen, die das gehört hatten, kamen mit. Ob Rudi dabei war, weiß ich nicht mehr. Tatsächlich fand ich ein verrostetes Gewehr auf einer Wiese unter einem Baum. Ich kannte mich ein bißchen mit Waffen aus. Bei den Pimpfen waren wir unterwiesen worden, Gewehre und Pistolen auseinander zu nehmen. Ich versuchte, das Schloß zu öffnen. Ich wollte sehen, ob eine Patrone im Lauf ist. Es gelang nicht, das Schloß war eingerostet. Ich schickte die Jungen ein paar Meter weg und drückte ab. Es knallte, aber der Lauf war aufgerissen. Ein Hase sprang in der Nähe auf und suchte im Zickzack das Weite. Sonst war zum Glück nichts passiert. Die beiden Jungen waren hinter mir weit genug weg gewesen. Ich hatte auch nicht gemerkt, daß mir Splitter um die Ohren geflogen wären. Bestimmt sind auch keine geflogen.
Obgleich ich von den Russen 1946 oft Waffen, wenn ich Wache stehen mußte, in die Hand bekam, habe ich nicht mehr geschossen. Wenn ich Waffen liegen sah, ließ ich sie auch liegen. Wir gingen nun zurück, und ich erzählte meinem Auftraggeber von dem Vorfall. Trotzdem sollte ich weiter suchen. Am nächsten Tag, denn für den Tag hatte ich die Nase voll, ging ich allein auf Waffensuche. Ich staunte, wie viel Waffen herumlagen. Sie waren bestimmt von deutschen Soldaten auf der Flucht einfach weggeworfen worden, wie ich schon mal erwähnte. Sie lagen in Gräben im Wasser, in Weidenbüschen oder einfach hinter Scheunen. Auch diese Waffen waren alle eingerostet und nicht zu gebrauchen. Ich versuchte nicht einmal, abzudrücken. Ich hatte vom ersten Mal genug.
Ich kam an ein einzelnes Gehöft, ungefähr zwei oder drei Kilometer von unserem Dorf entfernt. Was ich da sah, trieb mir die Schweißtropfen auf die Stirn. Die Scheune war von unten bis oben, von links nach rechts voller Waffen und Munition. Panzerfäuste, Maschinengewehre, Karabiner und hoch aufgestapelte Kisten mit Munition. Ich habe den Raum nicht betreten, sondern mich auf dem schnellsten Wege entfernt. Wahrscheinlich habe ich an eine mögliche Verminung gedacht.
In der Nacht wurde ich von einer unheimlichen Serie von Explosionen wach. An Schlafen war nicht mehr zu denken. Am nächsten Morgen war von dem Einzelgehöft nichts mehr zu sehen. Als ich mir das aus der Nähe ansah, war da ein riesiger Krater. Weit verstreut lag Schrott, was ehemals Waffen gewesen waren. Vielleicht hatte ich nach meinem Besuch die Scheunentür aufgelassen und ein Tier war hineingeraten.
Ich kehrte zum Bauernhof oder Gutshof, wie man will, zurück, aber arbeiten brauchte ich nicht. Ich beobachtete manchmal die kleineren Kinder beim Spielen oder organisierte selber ein Spiel. Jedenfalls war ich auf dem Hof, als ein Junge einen Gegenstand Richtung Scheune warf, in der die Frauen waren. Es gab einen lauten Knall und alle stürzten aus der Scheune heraus. Was die wohl gedacht haben? Der bärtige Bürgermeister schaute wild um sich und suchte die Angreifer, konnte aber keine entdecken. Die Jungen, von denen einer den Gegenstand geworfen hatte, waren vor Angst um die Ecke gelaufen. Ich ging nun näher zum Ort des Geschehens und konnte dem Bürgermeister sagen, daß ein Junge vor dem Knall etwas geworfen hätte. Nun sah er sich alles genauer an. Er fand Metallsplitter an der Scheunenwand. Die Jungen waren inzwischen zurückgekommen und zeigten ihm die Stelle, wo sie den Gegenstand gefunden hatten. Es dauerte gar nicht lange, da hatte der Seebär gefunden, was alles erklärte. Er rief alle Kinder und Frauen zusammen und zeigte seinen Fund . Es sah wie ein großes Ei aus Metall aus und war halb ummantelt. Tatsächlich sprach er dann von der Eierhandgranate und wie gefährlich die Eierhandgranaten wären. Er entfernte sich einige Meter von uns und warf die gefundenen Eierhandgranaten in hohem Bogen weg. Alle detonierten.
Er gab nun Verhaltensregeln bekannt, vor allem sollte man die Dinger liegenlassen. Mir ist nicht in Erinnerung, daß sich jemand nicht daran gehalten hätte. Jedenfalls ist mir von einer Verletzung nichts bekannt. Jeden Abend brachte Mutti einen kleinen Beutel Roggen, Weizen oder Gerste mit, je nachdem, was gerade gedroschen wurde. Um daraus was Eßbares herzustellen, mußte das Getreide gemahlen werden. Für Mehlsuppen ging das nach wie vor mit der Kaffeemühle. Im Dorf gab es eine Schrotmühle auf einem ehemaligen Kornboden. Ein Motor war nicht aufzutreiben. Was tun? Der Bürgermeister wußte wie immer Rat. Er ließ zwei Schwungräder von irgendwelchen Maschinen abbauen und herbeischaffen. Die wurden auf beiden Seiten der Schrotmühle angebaut.
Auf jeder Seite konnte eine Person mit dem Griff die Mühle in Gang bringen. Am Anfang war das gar nicht so leicht. Wenn die Schwungräder sich etwas schneller drehten, ging das relativ leicht. Wenn einer nicht mehr konnte, mußte der Nächste ran. Da immer viele Leute mahlen wollten und man sich gegenseitig helfen mußte, kam jemand auf die Idee, Stricke zu verwenden. Die wurden an den Griffen der Schwungräder angebunden. So , konnten auf jeder Seite noch zwei durch abwechselndes Ziehen die an den Griffen Drehenden unterstützen. Bei lautem Hallo und bei Gesang machte das richtig Spaß. Nun konnten sich die Drehenden und Ziehenden ablösen. Jedenfalls hatten wir nun genügend Mehl.
Das Mittagessen war unter den Umständen relativ abwechslungsreich . Es gab Mehlbrei, Schlunzsuppe, Klunkersuppe, Brotsuppe, denn inzwischen konnten wir wieder Brot backen. Aus Kartoffeln, die leider knapp wurden, gab es meist nur noch Zitterbrei oder Zittersuppe. Für 4 Personen, Oma, Mutti, Rudi und mich, wurde aus 1 bis 3 geriebenen Kartoffeln mit viel Wasser eine Zittersuppe gekocht. Die schmeckte gar nicht schlecht. Mit ungefähr 5 mittelgroßen Kartoffeln entstand ein Zitterbrei. Manchmal wurde ich auch davon satt. Zur Zittersuppe konnte man trockenes Brot dazu essen.
Auf meinen Streifzügen entdeckte ich einige Bunker zwischen Henzken und Kussen. Es war uns bekannt, daß im Januar 1945 hier im Raum Schloßberg schwere Kämpfe stattgefunden hatten. Ich war unangenehm berührt, als ich in einem der Bunker, der halb voll Wasser war, 5 oder 6 deutsche Soldaten in ihren Uniformen in dem Wasser liegen sah. Sie waren aufgedunsen. Ich machte, daß ich wegkam. Ich berichtete dem Bürgermeister davon. Wenige Tage später, es war wohl Ende März, Anfang April, mußten die Frauen mit einem Leiterwagen tote deutsche Soldaten nach Schloßberg bringen. Mutti und Tante Eva mußten auch mitmachen. Einige zogen den Wagen, andere schoben ihn. In