Königsberg
Inhaltsverzeichnis
380101 Ostpreußen im historischen Überblick
<b>Die Vorordenszeit</b>
Die zum späteren Ostpreußen gehörende Landschaft war am Anfang der Zeitrechnung
großenteils von <b>Germanen, insbesondere von Gepiden</b>, besiedelt, die seit etwa 100
v. Chr. das Mündungsgebiet der Weichsel bis hinauf zur Passarge bevölkerten, aber offenbar
auch von Burgundern aus Bornholm, Rugier von Rügen, Goten von Gotland und Vandalen
aus Jütland.1
Als diese ab etwa 200 n Chr. fort zogen, stießen baltische Stämme der indogermanischen
Völkerfamilie2, die seit der Zeitenwende schon im östlichen Ostpreußen ansässig waren und
denen die Prußen zuzurechnen sind, sukzessive nach Westen vor. <b>Tacitus</b> beschrieb
98 n. Chr. in seiner „Germania“ die Ästier als die östlichen Nachbarn der Goten im
Weichseldelta. Um 250 n. Chr. nannte Ptolemäus aus Alexandria zwei prußische Stämme:
die Galinder und die Sudauer. Der bei den Goten lebende byzantinische Geschichtsschreiber
Jordanes berichtete um 550 n. Chr. von den Ästiern, ebenso Einhard, der Biograph Karls des
Großen, um 800 n. Chr. Um 890 segelte der vom englischen König Alfred als Kundschafter
ausgesandte angelsächsische Reisende Wulfstan von Haithabu bei Schleswig nach Truso
nahe dem heutigen Elbing und nennt die dortigen einheimischen Bewohner „Aesten“. Um
965 bezeichnete der als Kaufmann die Ostseeländer bereisende spanische Jude Ibrahim ibn
Ja’qub, Gesandter des Kalifen von Córdoba al-Hakam II., die östlichen Nachbarn der im
westpreußisch-pommerschen Gebiet lebenden Slawen als die <b>„Brus“</b>, die sich selbst
wohl „prusai“ nannten, die Sprache ihrer Nachbarvölker nicht verstanden und als sehr
tapfer galten. Um 1000 wandelte sich das Bild: der Chronist Canaparius bezichtigte die
Prußen in dieser Zeit der Mordgier, der polnische Chronist Gallus anonymus sah in ihnen
ein höchst unbändiges Volk3. Aus dem Namen „brus“ entwickelte sich im Laufe der Zeit der
Name Pruci, Pruzi, Pruzzi, Prusi, Pruteni, Prutones etc. (so Bruno Schumacher, Geschichte
Ost- und Westpreußens) für das Volk, das man heute allgemein als die Prußen bezeichnet.
Ästier und Prußen sind identisch.4
1 Was man wissen sollte…, Neidenburger Heimatbrief, Weihnachten 1979
2 Vortrag von Hans-Ulrich Kopp am 16. 10. 1987 über Das Volk der Prußen, Tolkemita Texte 24, S. 4
3 Vortrag von Hans-Ulrich Kopp am 16. 10. 1987 über Das Volk der Prußen, Tolkemita Texte 24, S. 7
4 Fritz Alshuth, Die Prußen, Tolkemita-Text, S. 11 f
Die Prußen bildeten keine politische Gesamtheit, sondern waren in Stämme gegliedert, die
bei Beginn der Ordenszeit in <b>11 Gaue</b> gegliedert waren und von Fürsten oder
Edelingen geführt wurden: Pomesanien, Pogesanien, Warmien, Sassen, Barten, Natangen,
Samland, Galinden, Sudauen, Nadrauen und Schalauen.5 Sie waren groß und wohl
gewachsen, hatten blaue Augen, ein frisches Gesicht und lange blonde Haare und galten als
höchst reges und <b>fleißiges Volk</b>. Ihre älteste bildliche Darstellung findet sich auf der
bronzenen <b>Domtür von Gnesen</b> aus der zweiten Hälfte des 12. Jhs., vermutlich in
Magdeburg gegossen. Auf 18 Flachreliefs wird hier der Märtyrertod des Hl. Adalbert
geschildert.6
Nach Hans-Ulrich Kopp schätzt man die <b>Größe des Prußenvolkes</b> bei einer
angenommenen Bevölkerungsdichte von 3 Einwohnern je km² auf 120.000. Die
Prußenvereinigung Tolkemita, die die Literatur zu diesem Thema ausgewertet hat, geht von
eher 4 bis 5 prußischen Bewohnern/km² aus, was in den verschiedenen Abhandlungen noch
überboten wird, und schätzt die Zahl der Prußen um 1200 vorsichtig auf 200.000 Personen,
den Verlust während des Eroberungszugs der Ordensritter 1231 – 1284 durch Tod und
Flucht auf 60.000 Personen. In den nachfolgenden Jahrhunderten stieg die Zahl der Prußen
mit dem Wachstum der Gesamtbevölkerung wieder an und die Prußen starben keinesfalls
aus. Für 1775 schätzt die Tolkemita die Anzahl ihrer Landsleute auf 165.000, für 1939 auf
162.000, und auch in der Bundesrepublik gibt es danach noch viele Prußen, mehr jedenfalls
als Sorben.7
Ihre kleinen Dörfer lagen weit verstreut. Die Prußen lebten in reetgedeckten Holzhäusern
mit <b>Vorlauben</b> – jenen Vorlauben, denen man in Teilen Ostpreußens später
begegnete. Die <b>patriarchalisch geführten Sippenverbände</b> unter Führung eines
Erbadligen lebten recht autonom und versammelten sich nur in Zeiten äußerer Bedrohung
unter einem gewählten <b>obersten Befehlshaber</b>. Ein Pruße durfte <b>bis zu drei
Frauen</b> besitzen, die den Haushalt führten und männlichen Gästen ohne weiblichen
Partner durchaus zum Nachtlager angeboten werden konnten. (Vortrag: Das Volk der
Prußen, gehalten am 16. 10. 1987 auf der 13. Baltischen Konferenz in Lüneburg).
Eine wesentliche Beschäftigung der Prußen war der Bienenzucht gewidmet, wobei man den
Honig nicht nur zum Süßen der Speisen, sondern auch zur Herstellung eines Honiggetränks
benötigte, das im stark alkoholhaltigen ostpreußischen Bärenfang seine Fortsetzung fand.
Aus den wild lebenden Tarpans entwickelten die Prußen ihr Hauspferd, die „Schweiken“, die
genügsam, zäh, schnell und außerordentlich widerstandsfähig und dem Ordensstaat später
sehr nützlich waren.8
Neben der Arbeit in der Landwirtschaft betrieben die Prußen bereits <b>internationale
Handelsbeziehungen</b>. Sie verkauften Bernstein, Felle, Leder, getrockneten Fisch, Honig
und Sklaven und kauften Edelmetalle, Schmuck, Waffen, Tuche und Salz. Ein reger
Warenaustausch ergab sich im 9. und 10. Jh. mit den Wikingern, die in Truso bei Elbing, bei
5 Fritz Alshuth, Die Prußen, Tolkemita-Text, S. 13
6 Fritz Alshuth, Die Prußen, Tolkemita-Text 71, S. 24 f
7 Vortrag Reinhold Grunenberg, 4. 9. 2010
8 Fritz Alshuth, Die Prußen, Tolkemita-Text, S. 14
Wiskiauten im Samland und wohl auch an der Memel gegenüber Tilsit Niederlassungen
gegründet hatten.
Die Prußen hingen einem sehr naturverbundenen Götterglauben an. Als oberste Gottheit
galt <b>Perkunos</b>, der Gott des Donners und der Natur überhaupt. Ihm zur Seite
standen <b>Potrimpos</b>, der ährenbekränzte Gottjüngling des Lebens und der
Fruchtbarkeit, und <b>Pikollos</b>, als strafender Greis der Gott des Abschieds und des
Todes. Dazu gab es den Erntegott <b>Kurche</b> und viele andere Gottheiten. Oberster
Priester war neben etlichen Kriwen der <b>Kriwe Kriwaitis</b>. Den Kriwen gingen die
<b>Waidelotten</b> als eine Art Priester zur Hand. Verehrt wurden die Götter im Heiligen
Hain <b>Romowe</b>, den es vermutlich an mehreren Stellen gab.9
Wenn sich die im Prinzip friedlichen Prußen auf den Kriegspfad begaben, konnten sie zu
gefürchteten Gegnern werden. Dabei war ihre Bewaffnung recht einfach. Sie kämpften mit
Wurfkeulen von etwa 25 cm Länge, mit langen Keulen, Armbrüsten, zweischneidigen
Schwertern, Lanzen und Wurfspeeren. Der Verteidigung diente ihnen der Schild, meist aus
Leder, und eine dicke Polsterung ihrer Kleidung, die an einen Harnisch erinnerte. Ansonsten
waren sie gute Reiter und genossen den taktischen Vorteil guter Geländekenntnisse. Mit
dieser Ausstattung waren sie aber der seinerzeit in jeder Weise modernen, in den
Kreuzzügen erprobten Armee der Ordensritter nicht gewachsen.10
Die Sprache der Prußen ging weitgehend verloren, weil der Orden ihren Gebrauch verbot
und eine Schriftsprache nicht existierte. Bruchstücke der prußischen Sprache vermengten
sich im Laufe der Zeit mit den ostpreußischen Dialekten und lassen sich nur schwer
zurückverfolgen. Das “Elbinger Vokabular” gilt als älteste Dokumentation von prußischen
Vokabeln: auf 16 Seiten wurden 820 prußische Wörter mit der deutschen Übersetzung
aufgezeichnet. Dieses Heftchen ist zwar verschollen, wurde jedoch vorher kopiert und als
Buch herausgegeben, so dass dieser Sprachschatz nicht verloren ging. Eine weitere alte
Quelle sind die Aufzeichnungen von Simon Grunau, Mönch im Dominikanerkloster von
Elbing, von 1525, das 100 Vokabeln mit deutscher Übersetzung aufführt. Unter Herzog
Albrecht wurden 1545 und 1561 drei Katechismen in prußischer Sprache mit deutschem
Kontext gedruckt. Zusätzlich bildete man Übersetzer, sog. Tolken, aus, um die Verständigung
zwischen beiden Volksgruppen zu fördern11
<b>Der Ordensstaat</b>
Seit dem 10. Jh. geriet das Land der Prußen als Interessensphäre in den Blickpunkt von
Polen und Deutschen. Die Prußen wehrten sich jedoch heftiger gegen Eindringlinge als
erwartet. 997 n. Chr. zog <b>Adalbert von Prag</b> mit Soldaten von König Boleslaw I.
Chrobry von Polen ins prußische Land, stieß bis zur Ostsee vor und wurde wahrscheinlich im
Samland von Prußen erschlagen.
9 Fritz Alshuth, Die Prußen, Tolkemita-Text 71, S. 22 f
10 Reinhard Grunenberg, Die technischen Möglichkeiten der Prußen im Freiheitskampf, Tolkemita I/2012, S. 12
11 Fritz Alshuth, Die Prußen, Tolkemita-Text 71, S. 24
Nachdem auch Bruno von Querfurt 1009 den Märtyrertod erlitten hatte, ruhten die
christlichen Missionierungsversuche. Gegen Ende des 12. Jhs. begannen die deutschen
Einwanderer aus Westfalen und dem Elbe-Weser-Raum zur Sicherung des Handels mit der
Errichtung von befestigten Siedlungen. 1182 war der Zisterziensermönch Meinhard mit
norddeutschen Kaufleuten von Lübeck über Visby an die Dünamündung gekommen und
errichtete 1184 an der Düna eine Steinburg und eine erste christliche Kirche. Nach dem Tod
Meinhards 1196 folgte ihm Berthold von Loccum, der das erste Kreuzfahrerheer an die
Düna führte, um die bereits Getauften zu schützen und rivalisierende Stämme zu befrieden.
Nach seinem Reitertod 1199 ernannte Papst Innozenz III 1199 den Bremer Domherrn Albert
von Buxhövden zum Missionsbischof für Livland. Er gründete 1201 die Stadt Riga. Ihm
folgte 1215 der Zisterziensermönch Christian aus dem Kloster Lekno als erster Bischof in
Preußen. Der Papst rief zu Kreuzfahrten gegen die Heiden im Osten auf. Die Kreuzfahrer
sollten dabei die gleichen Ablässe erhalten wie die Kreuzfahrer ins Heilige Land. 1202 wurde
der Schwertbrüderorden gegründet. Livland umfasst das gesamte heutige Estland und
Lettland, also auch Kurland, Lettgallen und Semgallen.12
Nachdem 1220 ein erster, von Papst Honorius III. gebilligter <b>Kreuzzug ins
Prußenland</b> gewisse Erfolge verzeichnen konnte, unternahmen im Winter 1221
regionale Gebietsherren wie Herzog Konrad von Masowien, Herzog Swantopolk von
Pomerellen, die Bischöfe Gethko von Masowien und Michael von Kujawien sowie einige
andere den <b>Versuch, das prußische Kulmer Land zu erobern</b>. Masowien war eines
der polnischen Teilfürstentümer, die beim Zerfall Polens 1138 selbständig geworden waren,
und lag etwa zwischen Narew und Bug. Die ergrimmten <b>Prußen wehrten sich</b> jedoch
ab 1224 erbittert und fielen nun ihrerseits in Pomerellen und Masowien ein, wo sie Danzig
verwüsteten, die Zisterziensermönche des Klosters Oliva töteten und die Burg Plock, auf der
Konrad von Masowien sich verschanzt hatte, bedrängten. 13
Um sich der Bedrohung durch die nunmehr äußerst kriegerischen Prußen zu entledigen, rief
<b>Konrad von Masowien</b> 1226 den Deutschen Ritterorden zu Hilfe und bot ihm das
Kulmer Land, über das er gar nicht verfügte, als Schenkung an. Der Orden ging darauf ein
und traf in dieser Situation zusätzlich auf eine in dieser Zeit für ihn ungemein günstige
Konstellation für Gebietseroberungen an der Ostsee: König Waldemar von Dänemark hatte
1227 die <b>Schlacht von Bornhöved</b> und damit seine Vorherrschaft im Ostseeraum
verloren. Einen anderen Aspiranten, der dessen Macht übernehmen und dem Orden Einhalt
gebieten könnte, gab es nicht. Nach längeren diplomatischen Verhandlungen wurde im Juni
1230 der Kruschwitzer Vertrag zwischen Herzog Konrad von Masowien und dem Deutschen
Orden geschlossen. Darin übertrug Herzog Konrad nach Zustimmung seiner Ehefrau und
ihrer drei Söhne sowie außerdem mit Zustimmung der Bischöfe, Magnaten und Großen
seines Landes ohne Vorbehalte oder Einschränkungen dem Orden ungeschmälert das Land
Kulm zu wahrem und ewigem Eigentum. Die Grenzen des Landes Kulm waren definiert
durch die Flussläufe Drewenz, Weichsel und Ossa sowie die Grenze zum Land der Prußen.14
12 Bildungsgeschichte im Baltikum: 7. Baltisches Seminar in Libau/Liepaja, Lettland, an der Universität vom 27.
bis 29. April 2009, S. 24 f
13 Fritz Alshuth, Die Prußen, Tolkemita-Text 71, S. 34, Hans Ulrich Kopp, Das Volk der Prußen, a. a. O., S. 16
14 Prof. Dr. Bernhart Jähnig, Berlin, in einem Vortrag auf einem Seminar der Kreisgemeinschaft Lyck 2012 im
Ostheim in Bad Pyrmont
Die Aussicht auf Landeroberung in Preußen fiel in die Zeit der Auseinandersetzung zwischen
Kaiser und Papst, die beide versuchten, ihre Machtansprüche auf neue Territorien
durchzusetzen. Der als Diplomat äußerst fähige Hochmeister Hermann von Salza (1170 –
1239), vierter Hochmeister nach Walpot von Bassenheim, Otto von Kerpen und Heinrich von
Tunna15 ließ sich deshalb zusätzlich zum Angebot Konrads von Masowien von den beiden
höchsten gesellschaftlichen Autoritäten jener Zeit vertraglich zusichern, dass das Kulmer
Land sowie „alles Land, das er mit Gottes Zutun in Preußen erobern wird“ als
Herrschaftsgebiet des Ordens wie das eines Reichsfürsten anerkannt und mit allen
landesherrlichen Rechten wie Zoll-, Münz-, Zehnt-, Marktrecht, Gerichtshoheit und das
Recht, Ordensburgen in Stein zu bauen ausgestattet wird.
Als deutscher König hatte Friedrich II. von Hohenstaufen nach dem Allgemeinen Königlichen
Bodenregal das Recht an allem „herrenlosen Land“ und als Kaiser des Heiligen Römischen
Reichs stand er über allen Königen, seine Macht erstreckte sich über alle Weltgegenden.16
Nachdem der Kaiser 1226 seine Zustimmung erteilte, die in der Goldenen Bulle 123517 ihren
Niederschlag fand und Papst Gregor IX. (1227 – 1241) 1230 seine mündliche Zustimmung
gab (schriftlich folgte die päpstliche Zusage in der Bulle von Rieti 1234) und Konrad von
Masowien im Vertrag von Kruschwitz 1230 die Schenkung des Kulmer Landes “zu ewigem
Besitz” bestätigte, noch dazu der Papst im selben Jahr einen neuen Kreuzzug gegen die
Prußen predigte, drang im Frühjahr 1231 ein Ordensheer unter Führung des Landmeisters
Hermann Balk mit 7 Ordensrittern an der Spitze einer Reihe von Kreuzfahrern und 200
Knappen sowie 1000 Gefolgsleuten ins Kulmer Land ein und eroberte zügig das gesamte
Siedlungsgebiet der Prußen. Der Heilige Stuhl nahm dabei das neue Ordensland in den
Besitz der Kirche. Daraus folgte, dass der Deutsche Kaiser es nicht als Lehen vergeben
konnte und der Ordensstaat nicht Teil des Deutschen Reiches wurde.
Die kleine Kampfgruppe der Ordensritter, die bald von einem 5.000 Mann starken
Kreuzfahrerheer begleitet wurde, kämpfte sich zunächst entlang der Weichsel bis zur
Ostsee durch, um die Heimatverbindung über See sicher zu stellen, wandte sich dann nach
Osten in Richtung Samland und Memel und vereinnahmte letztlich nach und nach das
prußische Hinterland. Die <b>Prußen leisteten Widerstand</b> so gut sie konnten, ihr
großer Aufstand 1263 – 1284 brachte den Orden sogar in ernsthafte Schwierigkeit, aber die
militärische Überlegenheit des Ordens hinsichtlich der Waffentechnik und des nicht
versiegenden Nachschubs an Kämpfern und Material ließ den Prußen letztlich keine Chance.
Viele von ihnen fanden den Tod und etliche flüchteten in Nachbargebiete. Es gab jedoch
<b>keine systematische Ausrottung</b>, keinen Genozid, wie missgünstige Kommentatoren
mitunter behaupten. Einen Großteil der Kenntnisse von diesen kriegerischen
Auseinandersetzung zwischen Prußen und dem Orden hat die „Chronicon Terrae Prussiae“
15 Manuel Ruofff, Der größte Staatsmann unter der Hochmeistern, PAZ Nr. 46/2011 v. 10. November, S. 11
16 Fritz Alshuth, Die Prußen, Tolkemita-Text 71, S. 37
17 Neue wissenschaftliche Erkenntnisse ergeben, dass die Goldene Bulle 1235 in Deutschland unter der
Federführung des Leiters der kaiserlichen Kanzlei Petrus de Vinea (vor 1200 – 1249) ausgefertigt wurde und
nicht 1226 in Rimini. So Prof. Dr. Bernhart Jähnig, Berlin, in einem Vortrag auf einem Seminar der
Kreisgemeinschaft Lyck 2012 im Ostheim in Bad Pyrmont. Das Original der Goldenen Bulle wurde im
Staatsarchiv von Königsberg aufewahrt. Nach dem 2. Weltkrieg erfolgte die Überführung in das Staatliche
Archivlager Göttingen und wird heute im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem
aufbewahrt. Eine zweite Ausfertigung auf Pergament wird in Warschau verwahrt. Diese enthält einige
Textvarianten (Tokemita-Mitteilungen II/2012, S. 17)
des Peter von Dusburg überliefert, einem Mönch und Priester des Ordens, der den Zeitraum
von 1290 bis 1326 schilderte und seine Chronik 1326 seinem Hochmeister Werner von
Orselen übrerreichte. Im Vordergrund steht bei ihm die Würdigung der Ordensritter wegen
ihrer Tapferkeit und Glaubensstärke in diesem „heiligen Krieg“ gegen die feindlichen
Heiden. Aber er vermittelt auch eine Fülle von Informationen über das Leben in dieser Zeit,
die wir sonst nicht hätten.18
Viele Prußen, allen voran jene, die sich zum christlichen Glauben bekehren ließen, wurden
zu wertvollen Mitgliedern der ordenszeitlichen und später der ostpreußischen Gesellschaft
und es gibt auch heute noch deutsche Familien, die stolz ihre Herkunft auf prußische
Wurzeln zurückführen. Prußen durften unter dem Orden Eigentum erwerben und in den
geistlichen Stand eintreten, prußische Adlige konnten zu Rittern werden und nach
mittelalterlichem Verständnis waren die persönlichen Freiheitsrechte garantiert. Besonders
der samländische Adel der Prußen wurde mit besonderen Privilegien ausgestattet, um ihn
für den Orden zu gewinnen.19 Noch im 16. Jh. hatten die prußischen Ureinwohner einen
Anteil von 60 % an der Gesamtbevölkerung des Ordenslandes Preußen (so Beate Szillis-
Kappelhoff, siehe auch Wulf D. Wagner, Kultur im ländlichen Ostpreußen, Band I, S. 39,
240)20.Nach einer anderen Quelle betrug der Anteil der Prußen an der ostpreußischen
Bevölkerung um 1400 noch etwa 50 %, im Samland sogar bis zu 90 %. (Marianne Kopp)21
Nachdem das Land der Prußen befriedet war, begann eine höchst fruchtbare <b>Phase
seiner kulturellen Entwicklung</b>. Der Orden brachte dazu nützliche Kenntnisse und
Techniken aus Westeuropa und dem Orient mit, die den Prußen fremd waren.
Standardbeispiel dafür ist die <b>eiserne Pflugschar</b>, die den Boden der Felder
wesentlich besser und Ertrag bringender aufbereiten konnte als die prußische hölzerne
Zoche. Auch die Bearbeitung der Felder nach dem Prinzip der <b>Dreifelderwirtschaft</b>
war der Monokultur der Prußen überlegen. Das <b>Vieh</b> aus dem Westen war
leistungsfähiger und stand in fortschrittlicheren Ställen. Der Orden führte die <b>Schrift</b>
ein, legte <b>Städte</b> nach italienischem Vorbild an, wobei die städtischen
Grundstücksgrößen genormt waren mit zwei Ruten Breite (8,60 m) und sechs Ruten Länge
(26 m), ließ anstelle von Holz-Erde-Befestigungen für seine Burgen bald solide
<b>Ziegel</b> brennen, mit denen bewundernswerte kirchliche und profane Bauten der
Backsteingotik entstanden. Die Burgen verfügten gemeinhin über eine
<b>Zentralheizung</b>, die noch nicht einmal in deutschen Burgen jener Zeit zu finden war,
sowie über den <b>Danzker</b>, einem unter damaligen Bedingungen mögliche Infektionen
vermeidender, abseits der Wohnbereiche liegender Abortbereich über fließendem, notfalls
mittels Wasserleitungen meilenweit hergeholtem Wasser. Außerdem war das
<b>Zentralstaatsprinzip</b> des Ordens dem lockeren Stammesverbund der Prußen
erheblich überlegen, obwohl diese immerhin über eine Führungselite verfügten, und es gab
im Ordensland ein sogar für die Völker des Westens hoch entwickeltes, vorbildliches
<b>Rechtssystem</b>, das am Magdeburger Recht orientierte Kulmer Recht, in Einzelfällen
das Lübecker Recht.
18 Klaus Weigelt, 690 Jahre Chronicon Terrae Prussiae – Chronik des Preußenlandes, Königsberger Bürgerbrief,
Winter 2016, S. 48/49
19 Hans-Ulrich Kopp, a. a. O., S. 19
20 Beate Szillis-Kappelhoff, Twangste – Könisgberg in Memeler Dampfboot, 20 5. 2005
21 Marianne Kopp, Die Prußen in Agnes Miegels dichterischem Werk, Storchenpost Okt. 2009, S. 37
Die Kulmer Handfeste wurde am 28. Dezember 1232 oder 1233 ausgestellt. Sie war
zunächst nur eine Stadtgründungsurkunde für Thorn und Kulm, wurde jedoch sehr schnell
zur wichtigsten rechtlichen Grundlegung der Ordensherrschaft in Preußen. Sie regelte die
städtische Gerichtsbarkeit und die Eigentumsverhältnisse an Grund und Boden sowie die
Regalien, die sich auf die Ausbeutung der Bodenschätze bezog, die dem Orden vorbehalten
blieben.22 Die rechtlichen Grundlagen dieser Handfeste entsprechen dem “Magdeburger
Stadtrecht”, das von dem im “Sachsenspiegel” des Eike von Repkow erfaßte Lehns- und
Landrecht beeinflußt ist. Die Kulmer Handfeste war insbesondere deshalb ein Fortschritt,
weil sie der Stadt oder der Siedlungsgemeinschaft die Möglichkeit gab, sich weitgehend
selbst zu verwalten, ihren Handel zu organisieren und Handwerke auszuüben.23 Neben
Städten und Dörfern gab es Lischken. Das waren stadtähnliche Dorfsiedlungen als
wirtschaftliche Unterzentren zu den Städten.24
Dazu kam eine wirkungsvolle Verwaltung des Landes, eine <b>vorbildlich funktionierende
Abgabenordnung bzw. Dienstpflichtregelung</b>, es gab klare Vorgaben für <b>Längen-,
Flächen-, Hohlmaße und Gewichte</b>. Eine Reihe von <b>Hospitälern</b> sicherte die
seinerzeit modernste medizinische Versorgung der Bevölkerung. Die Wirtschaft basierte auf
einem verlässlichen <b>Währungssystem</b> und die Handelsorganisation des Ordens,
repräsentiert durch die <b>Großschäffereien</b> in Marienburg und Königsberg, arbeiteten
international, vorbildlich und höchst einträglich an der Vermarktung der großen
Getreideüberschüsse und der Bernsteinvorkommen. Den meisten Gewinn brachte dabei der
Handel mit <b>Bernstein</b>, für den sich Orden das Monopol gesichert hatte.
Die Kombination aller dieser Vorzüge ließ einen beispiellos <b>leistungsfähigen und
mächtigen mittelalterlichen Staat</b> in Europa entstehen, der sogar als der
bestorganisierte und modernste des ganzen Mittelalters angesehen wird.25. Er wurde
Mitglied der Hanse und der internationale Handel mit Produkten einer blühenden
heimischen Wirtschaft machten den Ordensstaat lange Zeit so reich, dass er keine Steuern
zu erheben brauchte. Sein Herrschaftsgebiet reichte zeitweilig vom Baltikum bis zur Oder.
So erwarb er mit Übernahme des livländischen Schwertbrüderordens 1236 nach dessen
vernichtender Niederlage bei Schaulen in Schamaiten Ländereien im Baltikum und kaufte
1404 die Neumark an der Oder von der Mark Brandenburg, weil Markgraf Sigismund von
Luxemburg sich in Geldnöten befand und drohte, andernfalls an Polen verkaufen zu wollen.
Die Ursprünge des Ordensstaates wurden dokumentiert von dem Dominikanermönch
Dusberg. Peter von Dusberg, auch Peter von Duisburg genannt, weil er aus dieser Stadt
stammte, war der erste Chronist des Deutschen Ordens in Preußen. 1326 war sein
Buch “Chronicon terrae Prussiae” (Chronik des Landes Preußen) fertig gestellt. Dusberg
widmete es dem damals amtierenden Hochmeister Werner von Orseln. Über das Leben von
Peter von Dusberg ist wenig bekannt. Er war Priester der Kommende des Deutschenn
22 Prof. Dr. Bernhart Jähnig, Berlin, in einem Vortrag auf einem Seminar der Kreisgemeinschaft Lyck 2012 im
Ostheim in Bad Pyrmont
23 Königsberg Bürgerbrief, Sommer 2011, S. 8
24 Prof. Dr. Bernhart Jähnig, Berlin, in einem Vortrag auf einem Seminar der Kreisgemeinschaft Lyck 2012 im
Ostheim in Bad Pyrmont, S. 16
25 Manthey, Königsberg, S. 20, siehe auch Wulf D. Wagner, Gerdauen, S. 39
Ordens an der Salvatorkirche in Duisburg. Nach einem großen Stadtbrand 1283, dem die
Kirche und die Behausungen der Priester zum Opfer fielen, zog er wohl nach Preußen und
erlebte noch die letzten Kämpfe gegen die aufständischen Prußen. Seine Chronik, die er
dann verfasste, enthält zwar auch Mitteilungen über die Entstehung des Ordens, sieht
jedoch von einer sachlichen Darstellung der Struktur des Ordens und seinen Tätigkeiten ab
und verstand sein Werk mehr als Erbauungsbuch, mit dem er seine Brüder auf den alten
Missionsgeist mit Predigt und Schwert einschwören wollte.26 Das Werk Dusbergs machte
der Historiker und Kartograph Christoph Hartknoch 1679 in seiner Schrift „Petri de Dusberg
Chronicon Prussiae“ allgemein bekannt.
In der beginnenden Reformation schrieb in den 1520er Jahren der Dominikanermönch
Simon Grunau die wesentlich sachlichere „Chronica und Beschreibung der allerlustichen,
nutzlichen und wahren Historien des namkundigen Landes zu Preußen“, wobei er sich
kritisch gegenüber dem gerade verflossenen Ordensstaat äußerte und für dessen Gegner
Polen Partei ergriff. 27
Die kolonisatorische Leistung des Ordens wird dokumentiert durch die Gründung von über
1.000 Dörfern bis 1400, von 93 Städten bis 1410 und von 120 Burgen.
Solange es in Osteuropa Heiden gab, erhielt der Orden die Unterstützung kreuzzugswilliger
Ritter aus Westeuropa, aus Böhmen, Frankreich, England, vor allem natürlich aus den
Ländern des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Mit den unmittelbaren
Nachbarn dagegen wuchs die Feindschaft.
Um das Heidentum zu vernichten, unternahm der Orden, unterstützt von den Rittern aus
Westeuropa, so genannte <b>„Reisen“ </b> gegen die Heiden, aus denen im 14. Jh. Reisen
gegen die Litauer, den letzten Heiden in Europa, wurden. In den Annalen sind 299 Reisen
dokumentiert, die meistens im Winter stattfanden, wenn Seen und Sümpfe zugefroren
waren. Die größte kriegerische Unternehmung mit 40.000 Teilnehmern fand 1346/47 statt.
Es gab aber auch kleine Aktionen mit 60 Personen. Sammelpunkt war gemeinhin Königsberg
und die Gästeliste umfasste erlauchte Namen wie die Burggrafen von Nürnberg sowie
Grafen und Landgrafen aus Thüringen, der Pfalz etc. 28
380102 Nordostpreußen - Kaliningradskaja oblast
Die Kaliningrader Oblast nimmt das nördliche Drittel der einstigen Provinz Ostpreußen in
den Grenzen von 1937 ein. Sie ist die westlichste, eine der kleinsten und die jüngste Oblast
der Russischen Föderation mit <b>15.000 km², was etwa der Fläche Schleswig-Holsteins</b>
entspricht. Nördlich liegt das Memelland, heute litauisch, südlich der an Polen gefallene
Landesteil. Die Oblast hat heute ca. 950.000 zivile Einwohner, davon in Königsberg etwa
450.000. Dazu kamen ca. 200.000 Militärpersonen, deren Anzahl inzwischen aber wohl
erheblich zurückgegangen ist. Die Bevölkerung besteht zu 80,1 % aus Russen, zu etwa 8,1 %
aus Weißrussen, zu 7,9 % aus Ukrainern und aus anderen wie Tataren (0,4 %), Baschkiren,
Litauer (je 1,4 %), Armenier (1,3 %), 5.000 Russlanddeutsche (unter 0,6 %) – alle Quoten von
2001.