Gilge

Matrosovo – Gilge

Wenige Kilometer hinter Sowjetsk – Tilsit verliert die Memel (russisch: Neman, litauisch: Namunas) ihren Namen: die Hauptarme ihres Deltas heißen nun Ruß und Gilge. Etwa 20 % des Memelwassers fließt durch die Gilge ab. Sie ist 45 km lang und etwa 45 Meter breit, entlang ihres Laufs fast ganz kanalisiert und heißt die Neue Gilge. Die Alte Gilge ist bis auf einige Wassersammelstellen weitgehend verlandet. Der erste Ausbau der Gilge von Sköpen bis Seckenburg wurde bereits 1613 – 1616 unter einem Grafen Keyserlingk vorgenommen. Der Fluss durchquert die Elchniederung und fließt dann ins Kurische Haff. Ein kompliziertes Entwässerungssystem machte die ganze Gegend gleichzeitig landwirtschaftlich nutzbar.

Der Ort Gilge an der Einmündung der Gilge in das Kurische Haff wurde 1497 gegründet, als man dem Markt- und Viehhändler Georg Weyse das Privileg einräumte, in Gilge einen Krug zu errichten (außerdem einen in Wiepe), und feierte 1997 sein 500jähriges Bestehen mit einem großen deutsch-russischen Fest vor Ort. Während Wiepe wieder verschwand, entwickelte sich Gilge zu einem lokalen Zentrum und Umschlagplatz. Es gab eine Bierbrauerei und eine Schnapsbrennerei im Krug. Nach 1500 siedelten sich hier so viele Litauer an, dass man im 16. Jh. durchweg litauisch sprach, was sich aber bis ins 19. Jh. langsam wieder verlor. Deutsch war immer wenigstens Amtssprache, aber die Sprache der Bevölkerung – der Handwerker, Kaufleute und Bauern – war das Kreis-Labiauer-Platt.

Im Jahr 1679 hielt sich der Große Kurfürst im Amtskrug in Gilge Nord auf und erhielt hier die Nachricht vom Sieg seiner Truppen über die Schweden.

Das Kirchspiel Gilge mit eigener Kirche bestand seit 1707. Die im neugotischen Stil gebaute Kirche von 1851 blieb im Krieg unversehrt, sogar die Orgel spielte 1948 noch. Um den Innenraum herum verliefen Emporen. Auf höheren Befehl wurde Anfang der 50er Jahre begonnen, die Kirche abzureißen, um die Backsteine für den Bau von Speichern zu gewinnen. Diese entstanden jedoch nicht. Die Steine nahm, wer sie brauchte. 1996 waren nur noch die Ostwand und der Chor übrig.

In Gilge wurde schon im 17. Jh. Schulunterricht erteilt, allerdings nicht immer zur obrigkeitlichen Zufriedenheit. So stellte ein Revisionsbericht von 1624 über den – studierten – Lehrer, der zumal den nur alle sechs Wochen erscheinenden Pfarrer vertreten musste, fest: „In Gilge wird ein sonderbarer Schulmeister gehalten, welcher einen Sonntag um den andern in der Gilge und Wiepe die Postille des Pfarrers Bretke abliest, die Kinder in Gebet und Katechismus unterrichtet und auch nach vorgefallener Gelegenheit Kinder taufet. Da er ein Ideot, ist er nicht ordiniret und wird darauf zu halten sein, einen Schulmeister dorthin zu bringen, der die Fundamente in Theologie gelegt hat.“ Bibelfestigkeit war also ein ausschlaggebendes Merkmal für die Beurteilung von Pädagogen. So stellte man wenig später gleich den Theologen Johannes Klausgall von 1683 – 1691 als Schulmeister in Gilge an, bevor der als Pfarrer nach Labiau ging.[3]

Es gab die Ortsteile Gilge Nord und Gilge Süd. Beide verfügten über ein zweiklassiges Schulgebäude. Sowohl das 1935 gebaute Schulhaus in Gilge-Nord wie auch das in Gilge-Süd sind verschwunden. Der letzte Schulleiter von Gilge-Süd, Hauptlehrer Leo Guttmann (6. 4. 1885 – 25. 8. 1966) war ein regional bekannter plattdeutscher Heimatdichter.[4]

Gilge war eins der typischen Haff-Fischerdörfer. Die regelmäßigen Herbst- und Frühjahrsüberschwemmungen machten das Land fruchtbar. Der schwarze Schwemmlandboden eignete sich besonders für den Gemüseanbau und deshalb war Gilge bekannt für seine besonders guten Zwiebeln und Gurken, die auf Hochbeeten wuchsen und mit Kähnen an die Märkte in Königsberg, Labiau und Tilsit geliefert wurden. Erwerbsbasis war jedoch die Fischerei, denn das Kurische Haff galt bis zur Vertreibung der angestammten Einwohner als das fischreichste Gewässer Deutschlands.

1901 gründete der Kaufmann B. E. Adomeit eine Rohrweberei, in der das in reichem Maße am Haff wachsende Schilfrohr verarbeitet wurde und die das größte Unternehmung dieser Art in Ostpreußen wurde.

Das Dorf entwickelte sich von 284 Einwohnern im Jahr 1820 bis auf 1.154 Einwohner im Jahr 1939. Während des 1. Weltkriegs blieb Gilge von militärischen Aktionen verschont. Nach dem 1. Weltkrieg, insbesondere nach der Okkupation des Memelgebietes durch Litauen, wurde es Zollgrenzbezirk. Am 19. 1. 1945 wurde Gilge geräumt, am 21. 1. von sowjetischen Truppen besetzt, 1948 die verbliebenen Deutschen ausgewiesen.

In Gilge ließen sich etliche russlanddeutsche Familien nieder. Eine von ihnen, Elena Sokolowa, geb. Ehrlich, eröffnete hier das weit über Gilge hinaus bekannte Café Ehrlich. Leni Ehrlich gehörte einmal zur Bevölkerungsgruppe der Wolgadeutschen, die von Stalin nach Kasachstan zwangsweise umgesiedelt wurden und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion dort nicht mehr erwünscht waren. Sie emigrierte jedoch nicht nach Westdeutschland, sondern suchte sich im ehemals deutschen Gebiet Kaliningrad ein neues Zuhause. Dieses fand sie in Gilge – Matrossovo. Hier erwarb sie mit dem restlichen Geld aus dem Verkauf ihres Hauses und des Autos in Kasachstan ein großes Gebäude mit sieben Fensterachsen. Dieses war einst Gasthaus und Lebensmittelgeschäft mit Gebrauchtwarenhandel, erworben von Eugen Brauer 1912,, aber inzwischen arg heruntergekommen. Mit bemerkenswerter Energie schaffte sie es zusammen mit ihrem Mann, daraus wieder ein Café mit Herberge zu machen.[1]

Doch es gab auch einen Tiefpunkt. Nach einem Bericht von Renate Marsch-Potocka von 1998 hatte Elena Sokolowa die Absicht, das von ihr 5 Jahre zuvor eingerichtete Café wieder aufzugeben und nach Westdeutschland zu übersiedeln, denn von Ruhm allein könne man nicht leben. Dann gäbe es nur noch 5 russlanddeutsche Familien in Gilge. Inzwischen – 2010 – hat sich das Blatt gewandelt. Frau Ehrlich ist unverändert eine erfolgreiche und selbstsichere, aber auch freundliche Gastronomin, die sich über jeden Besucher freut.

Das Dorf Matrossowo hat in der jetzigen Zeit rd. 300 Einwohner, die früher im Fischereikolchos arbeiteten. Das Kulturhaus ist geschlossen. Die Kinder gehen in Golowkino – Nemonien/Elchwerder zur Schule. Das ehemalige Pfarrhaus in Gilge ist jetzt Hotel.[2]



[1] Dietrich Brauer, Leni Ehrlichs Haus in Matrossovo/Gilde …. und seine Geschichte, in von tous, Sommer 2018, S. 53 ff
[2] Renate Marsch, Im einst ostpreußischen Gilge gehen die Lichter aus, dpa 1. 6. 98, 2010 in Augenschein genommen
[3] Von Tohus, Dez. 2007, S. 53
[4] Von Tohus, Dez. 2007, S. 43