Schirwindt

Geschichte von Schirwindt

Vermutlich bestand bereits 1273 an der Stelle der späteren Siedlung das nadrauische Dorf Swienita, das ab 1270 vom Orden zusammen mit der ganzen Gegend christianisiert wurde.[1] 1515 oder 1516 wurde das Dorf erstmals urkundlich erwähnt als Ort an der Einmündung der Schirwindt, die der Gemeinde den Namen verlieh, in die Szeschuppe (Ostfluß), die in die Memel mündet. Bald nach 1546 wurde auf Anordnung von Herzog Albrecht eine Kirche gebaut und 1549 ein Pfarrer ernannt. Die große Pest überlebte Schirwindt vermutlich einigermaßen, denn bereits 1722 wurde der Gemeinde das Recht auf einen Jahrmarkt urkundlich genehmigt. Auch einen jährlichen Holzmarkt gab es. In dieser Zeit kamen Siedler ins Land – aus Litauen, aus verschiedenen Gegenden Deutschlands und aus Neuchâtel in der Schweiz. 1732 folgte ein großer Zuzug von Salzburgern. Von diesen kamen 24 Personen nach Schirwindt.[2]

Die Siedlung erhielt ihre Stadtrechte 1725. Gleichzeitig nahm in Schirwindt ein Stadtgericht seine Arbeit auf. Bereits seit 1674 gab es eine Kirchenschule, seit 1766 eine Apotheke. Von ca 1760 bis 1800 beherbergte Schirwindt eine Schwadron Bosniaken-Lanzenreiter.

Die Stadt wurde z. Zt. Friedrich Wilhelms I. nach Plänen von Joachim Ludwig Schultheiß von Unfriedt ausgebaut. Doch trotz der Anstrengungen im Rahmen des Retablissements machte sie keine Fortschritte in ihrer Entwicklung. Sie war sowohl Grenzstadt als auch östlichste Stadt des Deutschen Reichs sowie die kleinste Stadt Ostpreußens.

Nach der Schlacht bei Friedland rückten 30.000 französische Soldaten unter Marschall Ney in Schirwindt ein, die einen Monat lang auch noch verpflegt werden mussten und für überfüllte Häuser sorgten.[3]

Im Jahr 1844 vernichtete Regen einen großen Teil der Ernte. Deshalb besuchte König Friedrich Wilhelm IV. 1845 die Provinz und kam so auch nach Schirwindt. Bei dieser Gelegenheit genehmigte er den Neubau der maroden Stadtkirche und reiste 1856 erneut an, um an der Einweihung der neuen Kirche teilzunehmen. Am 3. 8 1846 verlieh König Friedrich Wilhelm IV. der Stadt ein Wappen, das unter einem Torbogen den preußischen Adler über der aufgehenden Sonne zeigt, und begründete diese Symbolik damit, dass in der östlichsten Stadt seines Reiches die Sonne zuerst aufginge.

Als 1860 Eydtkuhnen zum Grenzbahnhof für die Ostbahn nach St. Petersburg gemacht wurde, nahm die Bedeutung von Schirwindt als Wirtschaftsstandort noch weiter merklich ab. Durch ihre Grenzlage an der Grenze konnte sie ohnehin kaum ein Anziehungspunkt für eine ländliche Umgebung sein. Bis zum Anfang des 19. Jhs. verfügte Schirwindt mit 1.348 Einwohnern über mehr Einwohner als Schloßberg mit 1.255, doch während die Zahl für Schloßberg auf 5.883 Einwohner im Jahr 1939 anwuchs, nahm diese Zahl für Schirwindt bis zu diesem Jahr um fast 20 Prozent ab. Nur Garnsee war dann noch kleiner. Auch der Anschluss an die Kleinbahn des Kreises Pillkallen im Jahr 1901 brachte keine wesentliche Belebung.

Interessanterweise hat die Lok 23 dieser Kleinbahn im Westen überlebt. Zusammen mit vier baugleichen Schwestern versah sie von Juli 1917 bis Oktober 1944 ihren Dienst auf der 60 km langen Strecke von Pillkallen nach Schirwindt, Schillehnen und Lasdehnen. In den letzten Monaten in Ostpreußen dampfte sie für das Militär und kam dann nach Mitteldeutschland in ein Lager der Organisation Todt bei Finowfurt im Land Brandenburg. 1947 übernahm man sie für die Spreewaldbahn, wo sie bis zur Einstellung dieser Linie 1970 im Einsatz war. Der Deutsche Eisenbahnverein konnte sie erwerben und verlegte sie am 4. Juli 1971 nach Bruchhausen-Vilsen. Nachdem sie 1991 – 1996 gründlich überholt wurde und ihr ursprüngliches Führerhaus zurück erhielt, ist sie heute unter dem Namen „Spreewald“ auf den 8 km langen Schienen einer niedersächsischen Museumsbahn mit der Strecke Bruchhausen-Vilsen-Asendorf unterwegs.[4]

Als Russland für den 1. Weltkrieg mobil machte, brannten die Russen bereits am 30. Juli 1914 ihre Grenzwachthäuser nieder, damit sie nicht in deutsche Hände fallen könnten. Nachdem Deutschland dem Russischen Reich am 1. August 1914 den Krieg erklärt hatte, überschritten am 2. August russische Kavalleriepatrouillen die Grenze und zogen über Schirwindt ins Landesinnere. Nach der erfolgreichen deutschen Gegenwehr kehrten die Russen am 5. August zurück und die Schirwindter Bevölkerung begab sich nun endgültig auf die Flucht. Die Russen plünderten und brannten viele Häuser nieder, zogen sich am 13. September zurück, kamen aber bis November immer wieder. Die Kämpfe im Raum Schirwindt – Pillkallen – Stallupönen fanden ihren Niederschlag in dem Roman „Der stille Don“ des Nobelpreisträgers Michail Scholochow

Der 1. Weltkrieg bedeutete also erhebliche Zerstörungen für die ganze Stadt. Von den 118 Wohnhäusern wurden 114 zerstört und nur die Kirche blieb weitgehend verschont. Wie überall in Ostpreußen ging man auch hier noch während des Krieges daran, die Stadt wieder aufzubauen, betreut vom Bezirksarchitekten Prof. Kurt Frick. Bremen leistete dabei als Patenstadt wertvolle Hilfe und die Schäden waren bis 1921 beseitigt. Es wurde in diesem Zuge sogar ein Verein gegründet: der „Kriegshilfsverein Bremen für Schirwindt (Ostpreußen) e. V.“ Noch heute gibt es in Bremen eine Schirwindter Straße.

Die Einwohnerzahl von Schirwindt betrug 1090 Personen im Jahr 1939. Bis 1944 lebte man in Schirwindt einigermaßen ruhig. Doch am 31. 7. 1944 begann die Räumung der Stadt. Am 2. 8. 1944 beschoss die sowjetische Artillerie die Stadt mit 30 Salven aus einer 152-Millimeter-Kanonenhaubitze und damit erstmals deutsches Territorium. Die Haubitze steht heute in einem russischen Museum.[5] Am 17. Oktober 1944 gelang den Sowjets mit einem konzentrierten Angriff nördlich und südlich von Schirwindt ein Durchbruch. In Schirwindt wurde um jedes Haus gekämpft, aber am Abend dieses Tages mussten sich die deutschen Soldaten vor der Übermacht des Gegners zurückziehen. Es gibt keine deutsche Stadt, die im 2. Weltkrieg stärker zerstört worden wäre – ein Sinnbild für den Goebbelschen Totalen Krieg. Heute existiert nur noch ein einziges, von Grenzsoldaten bewohntes Gebäude in Schirwindt, überraschenderweise die Synagoge.[6] Außerdem hat wohl ein Gebäudeteil der alten Schule überlebt. Nach der Eingliederung in die Sowjetunion verlor der Ort seine Stadtrechte. Durch den Beschluss der Oblastduma vom 22. Mai 1997 hat Kutusowo wieder den Status einer Siedlung. Durch die Strukturreform gehört es seit 2008/09 zur Landgemeinde Dobrowolskoje.[7]

Nach dem Emanzipationsedikt von 1812 siedelten sich auch in Schirwindt Juden an. 1833 zählte man 11 jüdische Einwohner. Die höchste Zahl jüdischer Mitbürger erreichte man 1855 – 1858 mit 112. In dieser Zeit plante man den Bau einer Synagoge. Die Realisierung ließ aber noch 20 Jahre auf sich warten. Danach nahm die Zahl der Juden in Schirwindt wieder konstant ab. 1930 waren es noch 21.[8] Etliche von ihnen wurden im Holocaust ermordet. Nur von der Familie Rubinstein weiß man, dass sie in die USA entkommen konnte.

Die Synagoge von Schirwindt überlebte als eine von ganz wenigen jüdischen Gotteshäusern Deutschlands die Progromnacht vom 9. November 1938 auf bemerkenswerte Weise: der Landrat des Kreises Schlossberg, Wichard von Bredow, machte sich nach Ankündigung des Angriffs auf die deutschen Synagogen auf den Weg nach Schirwindt, um dort diesen Anschlag zu verhindern. Als SS, SA und Parteileute zur Synagoge strömten, stellte er sich ihnen mit gezogener Pistole in den Weg und hinderte sie auf diese Weise an ihrer schändlichen Tat. Erstaunlicherweise landete er deshalb nicht im KZ und die Synagoge überlebte als einziges Gebäude Schirwindts das Inferno.[9]

Die gegenüberliegende litauische Grenzstadt Kudirkos Naumiestis (Neustadt) am Zusammenfluss von Schirwindt und Szeschuppe, mit einer wuchtigen Peter-und-Paul-Kirche, hat offenbar eine Art Partnerschaft für die verschwundene deutsche Stadt übernommen. Im Kulturhaus wurden Räume für eine „Schirwindter Stube“ bereitgestellt, wo eine durch Privatinitiative von Antanas Spranaitis (26. 4, 1941 – 11. 7. 2016) entstandene Sammlung von Erinnerungsgegenständen an Schirwindt ausgestellt werden. Es gibt in Kudirkos Naumiestis sogar einen Schirwindter Weg.

Gerühmt wurden die Bäume entlang der Szeschuppe, die sich kathedralartig über den Fluss neigten.

Der Grenzübergang Schirwindt/Neustadt gilt nur für Russen und Litauer, wird aber kaum genutzt, da der Bereich um die völlig zerstörte Stadt Schirwindt weiträumig als militärisches Sperrgebiet deklariert und nur sehr umständlich und mit zeitraubenden Kontrollen für Russen und Litauer passierbar ist. Die direkte Straßenverbindung von Pillkallen nach Schirwindt wurde von den russischen Militärs unterbrochen.

Neuerdings gelangte Schirwindt in Russland zu außerordentlicher Popularität. Der Schauspieler Aleksandr Schirwindt verfasste das 208 Seiten starke Buch „Schirwindt“ über die kleine Stadt, die seinen Namen trägt und dieses kleine Werk wurde zum größten russischen Bucherfolg der letzten Jahre.

Aleksandr Anatoljewitsch Schirwindt (19. 7. 1934 – 15. 3. 2024) wurde in Moskau als Kind eines preußischen Vaters und einer Schauspielerin aus Odessa geboren und widmete sich ebenfalls der mütterlichen Profession. 1952 – 1956 besuchte er die renommierte Schtschukin-Theaterschule, die er mit Auszeichnung absolvierte. Noch als Student war er Mitbegründer des Kabaretts „Kapustniki“ (Kohlraupen), das für die damalige Zeit ein ziemlich freches gesellschaftskritisches Programm darbot. 1970 trat Schirwindt in das Moskauer Satiretheater ein, wo er seit 2000 die künstlerische Leitung innehatte. 1956 wurde er auch für den Film entdeckt und erhielt zahlreiche Schauspielrollen, die ihn zu einem der beliebtesten Schauspieler Russlands werden ließen. 1984 erhielt er den Titel „Nationalschauspieler“, 1995 wurde er zum Professor an seiner Theaterschule ernannt und 1997 von den Astronomen der Akademie der Wissenschaften dadurch geehrt, dass man einem kleinen Planeten seinen Namen gab. Schirwindt engagierte sich dafür, dass die Stadt Schirwindt aus der Obhut der Militärs, die das Gelände in ihren Pillkaller Truppenübungskomplex integriert haben, befreit und wieder aufgebaut wird.[10]



[1] Julia Larina, Stadtuntergang – Schirwindt, das es nicht mehr gibt, S. 14
[2] Julia Larina, Stadtuntergang – Schirwindt, das es nicht mehr gibt, S. 23
[3] Julia Larina, Stadtuntergang – Schirwindt, das es nicht mehr gibt, S. 30
[4] Jörg Petzold, Dampfende Jubilarin, Oprbl. Nr. 35/07, S. 21
[5] Julia Larina, Stadtuntergang – Schirwindt, das es nicht mehr gibt, S. 123 f
[6] Martin Kunst, mail vom 16. 2. 2015 – martin.kunst@t-online.de
[7] Wikipedia
[8] Julia Larina, Stadtuntergang – Schirwindt, das es nicht mehr gibt, S. 145
[9] Julia Larina, Stadtuntergang – Schirwindt, das es nicht mehr gibt, S. 147
[10] Wolf Oschlies, „Ich baue sie wieder auf“, Oprbl. Nr. 43/07, S. 15